Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 153



Urteilskopf

133 V 153

  22. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Bundesamt für Sozialversicherungen gegen H. AG sowie Verwaltungsgericht von
Appenzell Ausserrhoden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  H 121/06 vom 25. Januar 2007

Regeste

  Art. 5 Abs. 2 und Abs. 4 AHVG; Art. 8ter Abs. 1 lit. c und d AHVV:
Beitragsbefreiung von Leistungen im Rahmen einer Vorruhestandsregelung.

  Die Beitragsbefreiung von Leistungen im Rahmen der Vorruhestandsregelung
des Arbeitgebers nach Art. 8ter Abs. 1 lit. c AHVV setzt nicht
voraus, dass der Arbeitnehmer freiwillig vorzeitig aus dem Erwerbsleben
ausscheidet (E. 8.1 und 8.2).

  Rz. 2102 und 2103 WML sind verordnungswidrig (E. 8.3).

  Eine beitragsrechtliche Privilegierung von Zahlungen an Arbeitnehmer,
deren Stelle im Sinne von Art. 8ter Abs. 1 lit. d AHVV infolge
Betriebsschliessung/-zusammenlegung im Rahmen eines Sozialplans aufgehoben
wird, im Vergleich zu Leistungen an Arbeitnehmer, deren Stelle aufgrund
betrieblicher Restrukturierungsmassnahmen und ebenfalls im Rahmen eines
Sozialplans wegfällt, entbehrt einer sachlichen Grundlage (E. 8.4).

Sachverhalt

  A.- Die Firma H. AG vereinbarte am 2. Oktober 1996 mit den
Arbeitnehmervertretungen der Werke X. und Y. einen Sozialplan für die
Vermeidung oder Milderung von menschlichen und wirtschaftlichen Härten bei
Abbau- oder Umstrukturierungsmassnahmen. Der

Sozialplan wurde periodisch, letztmals am 10. März 1999, verlängert und am
20. November 2001 sowie 14. Juni 2002 ergänzt. Der Sozialplan ist anwendbar
auf alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem festen, unbefristeten
Anstellungsverhältnis, deren Arbeitsvertrag infolge wirtschaftlicher oder
struktureller Anpassungen vom Arbeitgeber gekündigt wird oder die im
Zusammenhang mit solchen Massnahmen in ein anderes Werk innerhalb des
Unternehmens versetzt werden (Ziff. 4). Er ist - nach gleicher Ziffer -
nicht anwendbar auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die freiwillig
kündigen sowie aus weiteren Gründen (Kündigung wegen ungenügenden
Leistungen, Nichtannahme einer anderen zumutbaren Stelle innerhalb des
gleichen Werks, disziplinarische Auflösung oder fristlose Kündigung).

  Art. 11 des Sozialplanes regelt die vorzeitigen Pensionierungen. Gemäss
Ergänzungen vom 1. Mai 2001 und 1. Mai 2002 können Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen im Falle notwendiger Abbau- oder
Umstrukturierungsmassnahmen frühestens 24 Monate vor Erreichen des
ordentlichen AHV-Alters, in Ausnahmefällen ab erfülltem 60. Altersjahr, von
der Firma vorzeitig pensioniert werden. Die vorzeitig Pensionierten erhalten
nebst den reglementarischen Leistungen der PVK (Altersrente und
Überbrückungsrente) von der Firma folgende Zusatzleistungen: eine
AHV-Überbrückungsrente bis längstens zum Erreichen des ordentlichen
AHV-Rentenalters in der Höhe der mutmasslichen AHV-Altersrente und eine
Einkaufssumme des Deckungskapitals der durch die vorzeitige Pensionierung
resultierenden Leistungskürzungen der PK und EK.

  Diese Zusatzleistungen wurden bei der Arbeitgeberkontrolle als
beitragspflichtiges Einkommen erfasst, womit die H. AG nicht einverstanden
war. Mit Nachtragsverfügung vom 28. Januar 2005 verpflichtete die
Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie die Firma H. AG gestützt
auf den Kontrollbericht der Revisionsstelle der Ausgleichskasse vom 5.
November 2004 zur Bezahlung von paritätischen AHV/IV/EO- sowie ALV-Beiträgen
für die Jahre 2001 bis 2003 in der Höhe von Fr. 244'726.10 sowie
Verzugszinsen von Fr. 23'962.40. Diese wurden auf Vorsorgeleistungen in Form
von AHV-Überbrückungsrenten und Einkaufssummen ins Deckungskapital der
Pensionskasse berechnet, welche die Arbeitgeberin gemäss Sozialplan
zugunsten verschiedener vorzeitig in den Ruhestand getretener Arbeitnehmer
ausgerichtet hatte. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Ausgleichskasse
mit Entscheid vom

11. März 2005 ab mit der Begründung, bei den fraglichen Leistungen handle es
sich um solche des Arbeitgebers bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die
massgebenden Lohn darstellten, und nicht um Leistungen im Rahmen einer
Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers, die ausnahmsweise beitragsbefreit
seien.

  B.- Mit Entscheid vom 23. November 2005 hiess das Verwaltungsgericht von
Appenzell Ausserrhoden die von der Firma H. AG eingereichte Beschwerde in
dem Sinne gut, dass es die Sache in Aufhebung des Einspracheentscheides zur
Neubeurteilung an die Ausgleichskasse zurückwies; die Ausgleichskasse habe
von den gemäss Sozialplan für vorzeitige Pensionierungen erbrachten
Vorsorgeleistungen lediglich den im Einzelfall acht Monatslöhne
übersteigenden Betrag als massgebenden Lohn anzurechnen und darauf Beiträge
und Verzugszinsen zu erheben.

  C.- Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene
kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.

  Die Ausgleichskasse äussert sich, ohne einen Antrag zu stellen, während
die Firma H. AG auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt.

  Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.

  3.1  Nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 AHVG werden vom Einkommen aus
unselbstständiger Erwerbstätigkeit, dem massgebenden Lohn, Beiträge erhoben.
Als massgebender Lohn gemäss Art. 5 Abs. 2 AHVG gilt jedes Entgelt für in
unselbstständiger Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit geleistete
Arbeit. Zum massgebenden Lohn gehören begrifflich sämtliche Bezüge der
Arbeitnehmerin und des Arbeitnehmers, die wirtschaftlich mit dem
Arbeitsverhältnis zusammenhängen, gleichgültig, ob dieses Verhältnis
fortbesteht oder gelöst worden ist und ob die Leistungen geschuldet werden
oder freiwillig erfolgen. Als beitragspflichtiges Einkommen aus
unselbstständiger Erwerbstätigkeit gilt somit nicht nur unmittelbares
Entgelt für geleistete Arbeit, sondern grundsätzlich jede Entschädigung oder
Zuwendung, die sonst wie aus dem Arbeitsverhältnis bezogen wird, soweit sie
nicht kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift von der Beitragspflicht
ausgenommen ist.

Grundsätzlich unterliegen nur Einkünfte, die tatsächlich geflossen sind, der
Beitragspflicht (BGE 131 V 444 E. 1.1 S. 446; 128 V 176 E. 3c S. 180; 126 V
221 E. 4a S. 222; 124 V 100 E. 2 S. 101, je mit Hinweisen).

  Bestandteil des massgebenden Lohnes sind nach Art. 7 lit. q AHVV auch
Leistungen des Arbeitgebers bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, soweit
sie nicht im Sinne von Art. 8ter AHVV davon ausgenommen sind.

  3.2  Nach Art. 5 Abs. 4 AHVG kann der Bundesrat Sozialleistungen sowie
anlässlich besonderer Ereignisse erfolgende Zuwendungen eines Arbeitgebers
an seine Arbeitnehmer vom Einbezug in den massgebenden Lohn ausnehmen. Der
Bundesrat hat von dieser Delegationsbefugnis Gebrauch gemacht und am 18.
September 2000 mit Inkrafttreten am 1. Januar 2001 Art. 8ter AHVV mit dem
Titel "Sozialleistungen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses" erlassen,
der wie folgt lautet:

    1 Nicht zum massgebenden Lohn gehören die nachfolgenden Leistungen,
    soweit sie acht Monatslöhne nicht übersteigen:

    a. Abgangsentschädigungen für langjährige Dienstverhältnisse nach Art.
       339b des Obligationenrechts (OR) nach Abzug der Ersatzleistungen nach
       Artikel 339d OR;

    b. Abfindungen des Arbeitgebers an jene Arbeitnehmer, die nicht in der
       obligatorischen beruflichen Vorsorge versichert waren;

    c. Leistungen im Rahmen einer Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers;

    d. Entschädigungen bei Entlassungen im Falle von Betriebsschliessung
       oder Betriebszusammenlegung.

    2 Als Lohn gilt der während des letzten ganzen Kalenderjahres erzielte
    Lohn.

    3 Renten werden nach den Tabellen des Bundesamtes in Kapital
    umgerechnet.

  (...)

Erwägung 8

  8.

  8.1  Art. 8ter Abs. 1 lit. c AHVV nimmt Leistungen im Rahmen einer
Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers von der Beitragspflicht aus, soweit
sie acht Monatslöhne nicht übersteigen. Weitere Einschränkungen lässt der
Wortlaut dieser Verordnungsbestimmung nicht erkennen. Der in Art. 8ter Abs.
1 lit. c AHVV verwendete Begriff "Vorruhestandsregelung" ist im
schweizerischen Recht

nicht definiert. Die vom BSV gewünschte Auslegung dieser Bestimmung in dem
Sinne, dass nur Leistungen bei freiwilligem vorzeitigem Rücktritt der
Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben beitragsbefreit sind, findet somit im
Wortlaut keine Stütze, was auch in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
eingeräumt wird.

  8.2  Was die ratio legis betrifft, beruft sich das BSV auf seine
Ausführungen zu den Änderungen der AHVV auf den 1. Januar 2001 (Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts P 51/98 vom 2. Juni 2000, publ. in: AHI 2000 S.
252, insbesondere S. 255). Diesbezüglich ist ihm jedoch entgegenzuhalten,
dass solchen Erläuterungen nicht die Bedeutung einer authentischen
Interpretation des Verordnungsgebers zukommt, sondern dass sie nur die
eigene Rechtsauffassung des Bundesamtes wiedergeben (BGE 113 V 161 E. 3d S.
164 mit Hinweis). Erst recht kann nicht auf den vom BSV behaupteten
entstehungsgeschichtlichen Hintergrund von Art. 8ter Abs. 1 lit. c AHVV
abgestellt werden, wonach Frühpensionierungen mit Blick auf die damalige
schlechte Wirtschaftslage gefördert werden sollten, um der Zunahme der
Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Denn in den bundesamtlichen Erörterungen
finden sich keine entsprechenden konjunkturpolitischen Absichtserklärungen.
Abgesehen davon erscheint es fraglich, ob ein solches Ziel nicht auch mit
der Beitragsprivilegierung von Leistungen des Arbeitgebers im Falle
erzwungener vorzeitiger Rücktritte erreicht werden könnte, dem Kriterium der
Freiwilligkeit somit nur untergeordnete Bedeutung zukäme.

  8.3  In Rz. 2102 der Wegleitung über den massgebenden Lohn (WML) in der
AHV, IV und EO, gültig ab 1. Januar 2001, hat das BSV den Begriff
Vorruhestandsregelungen in dem von ihm erläuterten Sinn umschrieben. Es
handelt sich um "Regelungen des Arbeitgebers, die den freiwilligen Abgang
des Arbeitnehmers vor dem ordentlichen Rentenalter fördern. Voraussetzungen
sind, dass sie für die ganze Belegschaft oder klar bestimmbare Teile der
Belegschaft gelten und die betroffenen Arbeitnehmer Anspruch auf die
Leistungen haben. Die Austretenden müssen mindestens das 55. Altersjahr
vollendet haben und dürfen in keine andere gleichgestellte Stellung
wechseln. Nicht als Vorruhestandsregelungen gelten individuell getroffene
Massnahmen." Nach Rz. 2103 WML schliesslich müssen die Leistungen die Zeit
vom Austritt bis zum ordentlichen Rentenalter lückenlos und vollständig
abdecken. In

den folgenden Jahren erfuhr die WML in diesen Punkten keine Änderung.

  Die zitierte Wegleitung enthält offensichtlich zahlreiche Einschränkungen
für die Beitragsbefreiung von Leistungen des Arbeitgebers, die in Art. 8ter
Abs. 1 lit. c AHVV nicht enthalten sind, was nach der Rechtsprechung nicht
zulässig ist. Rz. 2102 und 2103 WML sind daher verordnungswidrig, soweit sie
für die Beitragsbefreiung von Leistungen im Rahmen einer
Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers im Vergleich zu Art. 8ter Abs. 1 lit.
c AHVV zusätzliche einschränkende Erfordernisse aufstellen.

  8.4  Das BSV hält schliesslich dafür, dass die Regelung für Sozialpläne in
Art. 8ter Abs. 1 lit. d AHVV getroffen worden sei. Nach dieser Bestimmung
gehören Entschädigungen bei Entlassungen im Falle von Betriebsschliessung
oder Betriebszusammenlegung nicht zum massgebenden Lohn, soweit sie acht
Monatslöhne nicht übersteigen. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist Art.
335f OR, welcher den Arbeitgeber verpflichtet, bei beabsichtigter
Massenentlassung die Arbeitnehmer-Vertretung oder falls es keine solche
gibt, die Arbeitnehmer zu konsultieren. Ziel der Konsultation ist es, durch
eine Einigung mit den Arbeitnehmern eine Kündigung zu vermeiden oder deren
Folgen zu mildern. Die Ergebnisse dieser Konsultationen werden in der Regel
in einem Dokument niedergelegt, welches in der Praxis seit langem als
"Sozialplan" bezeichnet wird (MATTHIAS RICKENBACH, Die Nachwirkungen des
Arbeitsverhältnisses, Diss. Zürich 2000, S. 102 f.). Es ist nicht
einzusehen, weshalb Entschädigungen, die im Falle einer Betriebsschliessung
oder -zusammenlegung ausgerichtet werden, bis zu einer bestimmten Höhe nicht
der Beitragspflicht unterliegen sollen, Zahlungen bei erzwungenem
vorzeitigem Rücktritt des Arbeitnehmers im Falle von Restrukturierungen, wie
teilweisen Verlagerungen oder Auslagerungen der Produktion, hingegen schon.
Der Auffassung des Bundesamtes kann umso weniger beigepflichtet werden, als
Sozialpläne nicht nur bei Betriebsschliessungen und -zusammenlegungen,
sondern ebenso bei sogenannten Restrukturierungen vereinbart werden
(RICKENBACH, a.a.O., S. 101 und 104). Die Betrachtungsweise des BSV, einzig
Art. 8ter Abs. 1 lit. d AHVV sei auf Sozialpläne anwendbar, ist deshalb
verfehlt.

  Eine beitragsrechtliche Privilegierung von Zahlungen an Arbeitnehmer,
deren Stelle von einem Tatbestand nach Art. 8ter Abs. 1

lit. d AHVV betroffen, d.h. infolge Betriebsschliessung/-zusammenlegung im
Rahmen eines Sozialplans aufgehoben wird, im Vergleich zu Leistungen an
Arbeitnehmer, deren Stelle aufgrund betrieblicher
Restrukturierungsmassnahmen und ebenfalls im Rahmen eines Sozialplans
wegfällt, findet in Gesetz und Verordnung keine Stütze und entbehrt einer
sachlichen Grundlage. Das BSV begründet denn auch die von ihm befürwortete
unterschiedliche Behandlung dieser beiden Arten von Betroffenen und der
diesen erbrachten finanziellen Leistungen des Arbeitgebers in
beitragsrechtlicher Hinsicht lediglich damit, dass der Begriff der
Betriebsumstrukturierung kaum einzugrenzen sei. Namentlich bei Arbeitgebern
mit sehr wenigen Angestellten liesse sich eine behauptete Restrukturierung
kaum feststellen. Diese Einwendungen sind nicht stichhaltig. Allfällige
Durchführungsprobleme der Verwaltung bilden keinen hinreichenden Grund für
eine unterschiedliche Behandlung der erwähnten gleich gelagerten
Tatbestände.