Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 I 77



Urteilskopf

133 I 77

  8. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S.
Diggelmann gegen Politische Gemeinde St. Gallen sowie Gesundheitsdepartement
und Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen (Staatsrechtliche Beschwerde)
  1P.358/2006 vom 14. Dezember 2006

Regeste

  Dauer der Aufbewahrung von Aufzeichnungen aus der Überwachung von
öffentlichen Plätzen und Strassen, Polizeireglement der Stadt St. Gallen;
Art. 13 Abs. 2 BV und Art. 8 Ziff. 1 EMRK.

  Aufzeichnungen aus der Überwachung von öffentlichen Plätzen und Strassen
und deren Aufbewahrung berühren den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 2 BV und
Art. 8 Ziff. 1 EMRK (E. 3).

  Verschiedene Arten von Überwachungsmassnahmen und Datenerhebungen (E. 4).

  Verhältnismässigkeit der Aufbewahrung von Aufzeichnungen während 100 Tagen
vor dem Hintergrund des Zwecks der Überwachung, der Schwere des
Grundrechtseingriffs und des Datenschutzes (E. 5).

Sachverhalt

  Der Grosse Gemeinderat der Stadt St. Gallen (heute Stadtparlament) erliess
am 16. Dezember 2004 ein neues Polizeireglement. Dieses wurde in der
Volksabstimmung vom 5. Juni 2005 angenommen.

  Das Polizeireglement bezweckt, die polizeilichen Befugnisse und das
kommunale Übertretungsstrafrecht den heutigen Bedürfnissen anzupassen. Es
regelt namentlich die Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben auf dem Stadtgebiet
im Allgemeinen (Art. 1), die Überwachung des öffentlichen Grundes (Art. 3),
die Wegweisung und Fernhaltung von Personen vom öffentlichen Raum (Art. 4),
ein Vermummungsverbot anlässlich bewilligungspflichtiger Versammlungen und
Kundgebungen (Art. 5), die Bewilligungspflicht für gesteigerten
Gemeingebrauch und Sondernutzung (Art. 8) sowie die Plakatwerbung (Art. 9
f.).

  Unter dem Titel "Überwachung des öffentlichen Grundes" enthält Art. 3 des
Polizeireglements folgende Bestimmungen:

    1 Öffentliche Plätze und Strassen können mit Videokameras überwacht
      werden, welche eine Personenidentifikation nicht zulassen.

    2 Der Stadtrat kann die örtlich begrenzte Überwachung mit Videokameras
      bewilligen, welche die Personenidentifikation zulassen, wenn der
      Einsatz solcher Videokameras zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit
      und Ordnung geeignet und erforderlich ist und wenn die Öffentlichkeit
      mit Hinweistafeln auf diesen Einsatz aufmerksam gemacht wird.

    3 Aufzeichnungsmaterial von Überwachungseinrichtungen wird nach 100
      Tagen vernichtet. Vorbehalten bleibt die Weiterverwendung in einem
      Strafverfahren.

    4 Eine missbräuchliche Verwendung des Bildmaterials ist durch geeignete
      technische und organisatorische Massnahmen auszuschliessen.

  Jürg Diggelmann erhob Kassationsbeschwerde und beantragte die Änderung von
Art. 3 Abs. 3 des Polizeireglements in dem Sinne, dass Aufzeichnungsmaterial
von Überwachungseinrichtungen nicht erst nach 100 Tagen, sondern bereits
nach 2 Tagen vernichtet werde. Das Gesundheitsdepartement des Kantons St.
Gallen hiess die Beschwerde teilweise gut, hob Art. 3 Abs. 3 des
Polizeireglements auf und wies die Sache an das Stadtparlament zur
Festlegung einer Aufbewahrungsdauer von 30 Tagen zurück. Es erwog im
Wesentlichen,

die 100-tägige Aufbewahrungsfrist sei unverhältnismässig und verletze das
informationelle Selbstbestimmungsrecht nach Art. 10 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 13 Abs. 2 BV und die Garantie von Art. 8 Ziff. 1 EMRK.

  Diesen Entscheid des Gesundheitsdepartements focht die Politische Gemeinde
St. Gallen beim Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen an. Dieses hiess
die Beschwerde gut, hob den Entscheid des Gesundheitsdepartements auf und
erachtete die Aufbewahrungsdauer von 100 Tagen als verfassungsmässig
handhabbar.

  Gegen dieses Urteil des Verwaltungsgerichts hat Jürg Diggelmann beim
Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er macht Verletzungen von
Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 BV sowie von Art. 8 EMRK geltend und rügt
die Aufbewahrungsdauer von 100 Tagen als unverhältnismässig und
verfassungswidrig.

  Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Bei der Prüfung der Verfassungsmässigkeit eines Erlasses im Rahmen der
abstrakten Normenkontrolle ist nach der Rechtsprechung massgebend, ob der
betreffenden Norm nach anerkannten Auslegungsregeln ein Sinn zugemessen
werden kann, der sie mit den angerufenen Verfassungs- oder EMRK-Garantien
vereinbaren lässt. Das Bundesgericht hebt eine kantonale (oder kommunale)
Norm nur auf, sofern sie sich jeglicher verfassungs- und
konventionskonformen Auslegung entzieht, nicht jedoch, wenn sie einer
solchen in vertretbarer Weise zugänglich bleibt. Dabei wird auf die
Tragweite des Grundrechtseingriffs, die Möglichkeit, bei einer späteren
Normkontrolle einen hinreichenden verfassungsrechtlichen Schutz zu erhalten,
die konkreten Umstände, unter denen die Norm zur Anwendung kommt, sowie die
Möglichkeit einer Korrektur und die Auswirkungen auf die Rechtssicherheit
abgestellt. Der blosse Umstand, dass die angefochtene Norm in einzelnen
Fällen auf eine verfassungswidrige Weise angewendet werden könnte, führt für
sich allein noch nicht zu deren Aufhebung (BGE 130 I 26 E. 2.1 S. 31; 128 I
327 E. 3.1 S. 334).

Erwägung 3

  3.

  3.1  Der Beschwerdeführer macht geltend, das Polizeireglement verletze mit
der Aufbewahrung der Aufzeichnungen aus der Überwachung mit Videokameras
während einer Dauer von 100 Tagen

Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 BV sowie Art. 8 EMRK. Er stellt die
Möglichkeit als solche, dass öffentliche Plätze und Strassen mit
Videokameras überwacht und Aufzeichnungen vorgenommen werden, nicht in
Frage. Es wird auch von keiner Seite in Zweifel gezogen, dass das
Polizeireglement ein kompetenzgemässes formelles Gesetz darstellt, den
Kerngehalt der angerufenen Grundrechte wahrt und damit den Anforderungen an
Einschränkungen von Grundrechten gemäss Art. 36 Abs. 1 und 4 BV genügt.

  Umstritten ist ausschliesslich die Frage, ob die Aufbewahrungsdauer von
100 Tagen gemäss Art. 3 Abs. 3 des Polizeireglements - anstelle der 30 Tage,
wie mit dem Entscheid des Gesundheitsdepartements verfügt - im Sinne von
Art. 36 Abs. 2 und 3 BV und Art. 8 Ziff. 2 EMRK durch ein hinreichendes
öffentliches Interesse gerechtfertigt und vor dem Hintergrund der
angerufenen verfassungsmässigen Rechte verhältnismässig ist.

  3.2  Der Beschwerdeführer ruft neben Art. 8 EMRK sowohl Art. 10 Abs. 2 als
auch Art. 13 Abs. 2 BV an. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht
offengelassen, ob Art. 10 Abs. 2 BV betroffen ist.

  Es ist nicht bestritten, dass die Aufbewahrung des Aufzeichnungsmaterials
den Schutzbereich der Privatsphäre gemäss Art. 8 Ziff. 1 EMRK betrifft (BGE
122 I 360 E. 5a S. 362; 124 I 85 E. 2c S. 87; 120 Ia 147 E. 2 S. 149; Urteil
des EGMR i.S. Perry gegen Grossbritannien vom 17. Juli 2003, Recueil CourEDH
2003-IX S. 155, Ziff. 36 ff.; Urteil i.S. Amann gegen die Schweiz vom 16.
Februar 2000, Recueil CourEDH 2000-II S. 201, Ziff. 44 f. [VPB 64/2000 Nr.
144 S. 1356]).

  Unter der Herrschaft der alten Bundesverfassung hat das Bundesgericht
festgehalten, dass die Erhebung erkennungsdienstlicher Daten wie auch deren
Aufbewahrung und Bearbeitung in den Schutzbereich der als ungeschriebenes
Verfassungsrecht anerkannten persönlichen Freiheit eingreifen (BGE 122 I 360
E. 5a S. 362; 124 I 85 E. 2b S. 87). Mit der neuen Bundesverfassung haben
die einzelnen Elemente der persönlichen Freiheit in spezifischen
Bestimmungen Eingang gefunden (BGE 127 I 6 E. 5a S. 11). Danach kann die
persönliche Freiheit gemäss Art. 10 Abs. 2 BV als das grundlegende
Freiheitsrecht bezeichnet werden und ist gegenüber anderen Aspekten und
insbesondere gegenüber Art. 13 BV abzugrenzen. Sie betrifft in unmittelbarer
Weise die Integrität des Menschen in unterschiedlichen Erscheinungsformen.
Demgegenüber schützt Art. 13

BV in besonderer Weise die verschiedenste Aspekte umfassende Privatsphäre
mit ihren spezifischen Bedrohungsformen (BGE 127 I 6 E. 5a S. 13). Dazu
gehört namentlich der Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten gemäss Art.
13 Abs. 2 BV. Dieser Bestimmung kommt - parallel zu Art. 10 Abs. 2 BV - eine
auf einen speziellen Schutz ausgerichtete Bedeutung zu (vgl. BGE 129 V 323;
zur Abgrenzung zwischen Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 BV RAINER J. SCHWEIZER,
St. Galler BV-Kommentar, Rz. 4 f. zu Art. 13 BV, mit Hinweisen; ALEXANDRE
FLÜCKIGER/ANDREAS AUER, La vidéosurveillance dans l'oeil de la Constitution,
AJP 2006 S. 933 f.; MARKUS SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, Bern 2005,
S. 32; RUEGG/FLÜCKIGER/NOVEMBER/KLAUSER, Vidéosurveillance et risques dans
l'espace à usage public, Genève 2006, S. 51 f.).

  Die Personenidentifikationen zulassende Aufzeichnung und Aufbewahrung von
Überwachungsmaterial gemäss Art. 3 Abs. 2 des Polizeireglements weisen einen
spezifischen Bezug zum Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten auf. Der
Beschwerdeführer macht denn auch geltend, dass gerade die - als zu lang
beanstandete - Aufbewahrungsdauer ihn in seiner Persönlichkeit
beeinträchtige. Die Beschwerde ist damit neben Art. 8 Ziff. 1 EMRK in erster
Linie unter dem Gesichtswinkel des Schutzes vor Missbrauch persönlicher
Daten nach Art. 13 Abs. 2 BV zu prüfen.

Erwägung 4

  4.

  4.1  Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, es fehle an jeglichem
öffentlichen Interesse für die Aufbewahrung von Aufzeichnungsmaterial
während einer beschränkten Dauer. Er erachtet indessen eine Dauer von 100
Tagen vor dem Hintergrund von Art. 13 Abs. 2 BV als unverhältnismässig.

  Das Gebot der Verhältnismässigkeit verlangt, dass eine behördliche
Massnahme für das Erreichen des im öffentlichen oder privaten Interesse
liegenden Zieles geeignet und erforderlich ist und sich für die Betroffenen
in Anbetracht der Schwere der Grundrechtseinschränkung zumutbar und
verhältnismässig erweist. Erforderlich ist eine vernünftige
Zweck-Mittel-Relation. Eine Massnahme ist unverhältnismässig, wenn das Ziel
mit einem weniger schweren Grundrechtseingriff erreicht werden kann (BGE 132
I 49 E. 7.2 mit Hinweisen).

  4.2  Vorerst sind die im vorliegenden Fall umstrittene Überwachung,
Aufzeichnung und Aufbewahrung des Videomaterials von anderen

Überwachungsmassnahmen und Datenerhebungen abzugrenzen (vgl. VERENA BARTSCH,
Rechtsvergleichende Betrachtung präventiv-polizeilicher Videoüberwachungen
öffentlich zugänglicher Orte in Deutschland und in den USA, Berlin 2004, S.
138 ff.; RUEGG/FLÜCKIGER/NOVEMBER/KLAUSER, a.a.O., S. 7 ff.).

  Überwachungen mittels eines Monitors sind in dem Sinne möglich, dass das
überwachte Geschehen permanent am Bildschirm verfolgt wird; diese erlauben
im Falle besonderer, auf diese Weise festgestellter Ereignisse ein
unmittelbares Einschreiten in das Geschehen durch Sicherheits- oder
Polizeikräfte. Demgegenüber wird bei der örtlich begrenzten Überwachung nach
Art. 3 Abs. 2 des Polizeireglements das Geschehen auf öffentlichem Grund
lediglich mittels Videokameras aufgezeichnet. Die Aufzeichnungen unterliegen
gemäss den Feststellungen des Verwaltungsgerichts keiner Echtzeitkontrolle;
sie werden vielmehr erst bei Einleitung eines strafrechtlichen
Ermittlungsverfahrens gesichtet und verwendet (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des
Polizeireglements). Die Verwendung des Aufzeichnungsmaterials richtet sich
diesfalls nach strafprozessualen Grundsätzen (vgl. Art. 6 des
Strafprozessgesetzes [StP/SG; sGS 962.1]; Art. 12 f. und 33 ff. des
Polizeigesetzes [PG/SG; sGS 451.1]).

  Art. 3 des Polizeireglements sieht in diesem Sinne zwei unterschiedliche
Überwachungen vor. Es sind dies nach Abs. 1 Überwachungen, die öffentliche
Plätze und Strassen in allgemeiner Weise betreffen und eine
Personenidentifikation nicht zulassen. Die vorliegend im Vordergrund
stehende Überwachung mit der Möglichkeit der Personenidentifikation nach
Art. 3 Abs. 2 des Polizeireglements ist hingegen örtlich begrenzt und setzt
voraus, dass der Einsatz der Videokameras zur Wahrung der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung geeignet und erforderlich ist; überdies ist die
Öffentlichkeit mit Hinweistafeln auf die Videoüberwachung aufmerksam zu
machen (vgl. BARTSCH, a.a.O., S. 190 f.). Das Verwaltungsgericht hielt fest,
der Stadtrat müsse die Standorte der Überwachungskameras in einer
Verwaltungsverordnung bzw. Dienstanweisung festlegen und diese könnten einer
verfassungsmässigen Überprüfung unterzogen werden. Darauf sind die
kantonalen und städtischen Behörden ausdrücklich zu behaften.

  Die im vorliegenden Fall zu beurteilenden Videoaufzeichnungen werden im
Rahmen der allgemeinen Überwachung gemäss Art. 3 des Polizeireglements
vorgenommen. Insoweit unterscheiden sie sich

von der Erhebung erkennungsdienstlicher Daten, welche anlässlich eines
Strafverfahrens vor dem Hintergrund eines konkreten Delikts auf spezifische
Personen ausgerichtet nach strafprozessualen Regeln getätigt werden. Werden
die Videoaufzeichnungen gemäss Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Polizeireglements in
einem Strafverfahren beigezogen, stellen sie erkennungsdienstliches Material
dar, auf welches die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Dauer von deren
Aufbewahrung und zu deren Vernichtung Anwendung findet (vgl. BGE 120 Ia 147;
122 I 360; 124 I 80; 128 II 259). Findet das Aufzeichnungsmaterial indessen
nicht Eingang in ein Strafverfahren, lässt sich die genannte
bundesgerichtliche Rechtsprechung wegen der unterschiedlichen Ausrichtung
nicht ohne weiteres auf die Videoaufzeichnungen gemäss Art. 3 des
Polizeireglements übertragen.

  4.3  Im vorliegenden Fall ist einzig die Verhältnismässigkeit der Dauer
der Aufbewahrung von Videoaufzeichnungen gemäss Art. 3 Abs. 3 des
Polizeireglements zu prüfen. Diese Aufzeichnungen müssen die Voraussetzungen
von Art. 3 Abs. 2 des Polizeireglements erfüllen und damit insbesondere für
die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geeignet und
erforderlich sein.

Erwägung 5

  5.  Für die Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Aufbewahrungsdauer
ist vom Zweck der umstrittenen Massnahme, d.h. vom Zweck der Überwachung und
der Aufbewahrung des Aufzeichnungsmaterials auszugehen. Ziel des Einsatzes
von Überwachungsgeräten ist nach Art. 3 Abs. 2 des Polizeireglements die
Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.

  5.1  Die öffentliche Sicherheit und Ordnung wird durch die Überwachung
nicht in direkter Weise gewährleistet. Wie dargetan, wird der öffentliche
Raum nicht permanent observiert und dienen die Videokameras nicht dazu, im
Falle besonderer Ereignisse einen unmittelbaren Einsatz von Polizeikräften
auszulösen. Die Überwachung mittels Videoaufzeichnungen soll vielmehr die
Feststellung von Straftaten ermöglichen, personenidentifizierende Beweise
sichern und eine repressive Strafverfolgung sicherstellen.

  Die Aufzeichnungen und deren Aufbewahrung während 100 Tagen stellen eine
präventive Massnahme zur Verhütung von Straftaten dar. Es sollen Beweise
sichergestellt und damit eine effiziente Aufdeckung von Straftaten
ermöglicht werden. Mit dem damit verbundenen Abschreckungseffekt soll im
Dienste der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der
Gewährleistung der Sicherheit

von Benützern öffentlicher Strassen und Plätze Straftaten begegnet werden.
Es steht nicht in Frage, dass diese Zielsetzung im öffentlichen Interesse
liegt (vgl. BARTSCH, a.a.O., S. 185 ff.).

  5.2  Unter dem Gesichtswinkel der Erforderlichkeit ist davon auszugehen,
dass die Wirksamkeit der Strafverfolgung in Beziehung zur Dauer der
Aufbewahrung der Aufzeichnungen steht. Bei Straftaten auf öffentlichem Grund
- an abgelegenen Orten, zu nächtlicher Stunde oder aber auch an stark
frequentierten Stellen - bilden solche Aufzeichnungen häufig das einzig
aussagekräftige Beweismaterial. Eine äusserst kurze Aufbewahrungsdauer birgt
die Gefahr, dass im Falle einer erst späteren Entdeckung einer Straftat oder
später eingereichten Anzeige die Aufzeichnungen bereits gelöscht sind und
darauf als Beweismittel nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Eine gewisse
Aufbewahrungsdauer ist damit erforderlich, um die durch eine wirksame
Strafverfolgung erhoffte Abschreckungswirkung sicherzustellen.

  5.2.1  Polizeikräfte können Straftaten gegen öffentliche Einrichtungen auf
den überwachten Plätzen und Strassen (Graffiti oder Sachbeschädigungen)
selber feststellen, ohne auf Anzeigen angewiesen zu sein. Nach Feststellung
solcher Straftaten kann ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und auf die
Aufzeichnungen als Beweismittel zurückgegriffen werden. Den Polizeikräften
sind entsprechende Kontrollen innert nützlicher Frist möglich und zuzumuten.
Insoweit ist eine längere Aufbewahrungszeit nicht erforderlich, um eine
effektive Strafverfolgung unter Verwendung der Aufzeichnungen zu
ermöglichen.

  5.2.2  Demgegenüber werden auf dem überwachten öffentlichen Raum begangene
Straftaten gegenüber Personen überwiegend erst auf Anzeigen oder
Strafanträge hin bekannt. Die Betroffenen lösen mit ihren Anzeigen
Ermittlungsverfahren aus, in deren Rahmen auf das Aufzeichnungsmaterial soll
zurückgegriffen werden können. Sollen die Aufzeichnungen zur Wahrung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine effektive Strafverfolgung
tatsächlich ermöglichen und fördern, ist erforderlich, dass das
Aufzeichnungsmaterial auch tatsächlich zur Verfügung steht und nicht
vorschnell gelöscht wird. Die Aufzeichnungen müssen daher klar über eine
Minimaldauer von einigen wenigen Tagen hinaus aufbewahrt werden können.
Allein daraus lässt sich indessen nicht bestimmen, ob eine Dauer von 100
Tagen gemäss dem Polizeireglement oder eine solche

von 30 Tagen entsprechend dem Departementsentscheid verfassungsmässig ist.
Hierfür ist vielmehr auf die Verhältnismässigkeit im engern Sinn
abzustellen.

  5.3  Nach der Rechtsprechung wiegt die Aufbewahrung von
erkennungsdienstlichen Daten für sich allein nicht schwer (BGE 120 Ia 147 E.
2b S. 150; vgl. auch BGE 128 II 259 E. 3.3 S. 269 hinsichtlich Erstellung
eines DNA-Profils). Das gilt grundsätzlich auch für die hier umstrittenen
Aufzeichnungen von Videoüberwachungen, die im allgemeinen Rahmen von Art. 3
Abs. 2 des Polizeireglements getätigt werden und höchstens, aber immerhin
bildliche Personenidentifikationen zulassen. Diese enthalten in aller Regel
keine weitern personenbezogenen Daten und berühren den Privatbereich der
betroffenen Personen im Allgemeinen nicht. Darüber hinaus ist die
Öffentlichkeit mit Hinweistafeln auf den Einsatz von Überwachungsmassnahmen
aufmerksam zu machen (vgl. zu diesem Erfordernis BARTSCH, a.a.O., S. 191).
Der Umstand, dass die Überwachung lediglich örtlich begrenzt eingesetzt
wird, macht den Eingriff für die einzelne betroffene Person nicht leichter.
Umgekehrt wiegt der individuelle Grundrechtseingriff an sich nicht deshalb
schwerer, weil eine grosse Anzahl von Personen betroffen ist. Indessen ist
der Eingriff in die Grundrechte von grösserem Gewicht bei Verwendung des
Aufzeichnungsmaterials für andere Zwecke unter Einsatz von technisch
hochstehenden Aufnahmegeräten, wie sie heute allgemein angewendet werden
(vgl. FLÜCKIGER/AUER, a.a.O., S. 934). Dementsprechend sind die Vorkehren
zur Wahrung der Grundrechte auszugestalten.

  Vor diesem Hintergrund fällt die Dauer der Aufbewahrung der Aufzeichnungen
ins Gewicht: Eine längere Aufbewahrungsdauer stellt bereits per se einen
schwerer wiegenden Eingriff in das von Art. 13 Abs. 2 BV geschützte
informationelle Selbstbestimmungsrecht dar und erhöht die Gefahr einer
missbräuchlichen Verwendung der Videoaufzeichnungen. Insoweit kommt der vom
Polizeireglement vorgesehenen Aufbewahrungsdauer von 100 Tagen im Vergleich
mit der vom Departement vorgesehenen Dauer von lediglich 30 Tagen eine nicht
unerhebliche Bedeutung zu. Die Dauer von 100 Tagen erscheint zudem im
Vergleich mit andern Regelungen als lang (vgl. Verordnung über die
Videoüberwachung durch die Schweizerischen Bundesbahnen SBB [SR 742.147.2];
Verordnung über die Geländeüberwachung mit Videogeräten [SR 631.09];
Verordnung über Glücksspiele und Spielbanken [SR 935.521]; BARTSCH, a.a.O.,
S. 140).

  Umgekehrt ist unter dem Gesichtswinkel einer effektiven Strafverfolgung im
Dienste der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit den persönlichen
Verhältnissen der von Straftaten betroffenen Personen Rechnung zu tragen.
Hierfür fällt ins Gewicht, dass das Anzeigeverhalten der Betroffenen
weitgehend von persönlichen Umständen abhängt. Es ist nachvollziehbar, dass
zum Beispiel bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität oder gegen
Jugendliche aus Furcht oder Scham oder mannigfaltigen anderen Gründen mit
einer Anzeige oder einem Strafantrag eine gewisse Zeit zugewartet wird. In
Bezug auf die streitige Videoüberwachung bedeutet ein längeres oder allzu
langes Zögern, dass das Aufzeichnungsmaterial bereits gelöscht ist und als
Beweismittel entfällt. Ein nur zögerndes Anzeigeverhalten kann für sich
allein zwar nicht den Ausschlag für einen durch eine lange
Aufbewahrungsdauer verstärkten Grundrechtseingriff bei den erfassten
Personen geben. Doch ist den genannten persönlichen Umständen der durch
Straftaten betroffenen Personen hinreichend Rechnung zu tragen, sollen die
Aufzeichnungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit eine
effektive Strafverfolgung tatsächlich ermöglichen und fördern. Insbesondere
soll auch besonders gefährdeten Gruppen trotz anfänglicher Skepsis vor einem
Verfahren eine effiziente Strafverfolgung zugestanden werden. Das sind
erhebliche sachliche Gründe, die eine Aufbewahrungsdauer von 100 anstatt nur
30 Tagen grundsätzlich rechtfertigen.

  Bei dieser Sachlage kommt der Bezugnahme des Verwaltungsgerichts auf die
Bestimmung von Art. 29 StGB und der Regelung der Strafantragsfrist keine
entscheidende Bedeutung zu. Der Beschwerdeführer übersieht mit seinem
Einwand, die Strafantragsfrist sei ein unsachlicher Anknüpfungspunkt, dass
sich das Verwaltungsgericht nur in allgemeiner Weise an Art. 29 StGB
orientierte. Es berücksichtigte differenziert, dass die Strafantragsfrist
erst mit Kenntnis der Täterschaft zu laufen beginnt und damit über 100 Tage
hinausreichen kann und dass Art. 29 StGB für Offizialdelikte von vornherein
nicht anwendbar ist und kein Kriterium für die umstrittene
Aufbewahrungsdauer sein kann.

  5.4  Die Verhältnismässigkeit der Aufbewahrung von Überwachungsmaterial
bestimmt sich indes nicht ausschliesslich nach deren Dauer, sondern ist
insbesondere auch vor dem Hintergrund zu beurteilen, wie und von wem dieses
verwendet wird und in welchem Ausmass die Personen, deren Daten
aufgezeichnet sind, vor einem

nicht sachgerechten Zugriff auf die Aufzeichnungen und einer
missbräuchlichen Verwendung der Daten geschützt werden.

  Art. 3 Abs. 4 des Polizeireglements hält fest, dass eine missbräuchliche
Verwendung des Bildmaterials durch geeignete technische und organisatorische
Massnahmen auszuschliessen ist. Das Polizeireglement präzisiert nicht, was
im Einzelnen unter diesen Massnahmen zu verstehen ist und wie dieser Schutz
verwirklicht werden soll. Das Verwaltungsgericht hält dazu einzig fest, es
könne davon ausgegangen werden, dass der Stadtrat bei der Umsetzung des in
Art. 3 Abs. 4 des Polizeireglements enthaltenen Auftrages hinreichend
wirksame Massnahmen treffen werde. Dem fügt die Stadt St. Gallen an, dass
die Zugriffsberechtigung zu regeln und die Daten vor unbefugter
Kenntnisnahme, Bearbeitung und Entwendung zu sichern seien und dass darüber
das städtische Datenschutzorgan zu wachen habe.

  Diese Ausführungen des Verwaltungsgerichts und der Stadt St. Gallen
verbleiben weitgehend im Vagen. Es geht daraus nicht hervor, welche
Massnahmen bereits getroffen worden sind oder angeordnet werden sollen, wie
die Datensicherung sichergestellt wird und mit welcher Unabhängigkeit und
mit welchen Kompetenzen das städtische Datenschutzorgan den Schutz der
Aufzeichnungen vor unsachgemässer Verwendung tatsächlich wahrnehmen kann. Im
Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wäre eine Regelung im
Polizeireglement angezeigt gewesen. Es ist indes davon auszugehen, dass die
Stadt St. Gallen die kantonalen und auch für Gemeinden geltenden
Vorschriften über den Datenschutz beachtet. Entsprechende Garantien sind
insbesondere im Staatsverwaltungsgesetz (sGS 140.1; siehe Art. 8 ff.) und in
der Datenschutzverordnung (sGS 142.11) enthalten.

  5.5  Zusammenfassend ergibt sich, dass eine Aufbewahrungsdauer von 100
Tagen für die von den Aufzeichnungen Betroffenen einen nicht unerheblichen
Grundrechtseingriff bedeutet (oben E. 5.3) und dass den Polizeikräften eine
Kontrolle der überwachten Plätze und Strassen innert nützlicher Frist
zuzumuten ist (oben E. 5.2.1). Vor diesem Hintergrund ist zu fordern, dass
die Aufzeichnungen der in Frage stehenden Überwachungen ausschliesslich für
strafrechtliche Ermittlungsverfahren Verwendung finden (Art. 3 Abs. 3 Satz 2
des Polizeireglements; oben E. 4.2). Eine weitere Datenbearbeitung sieht das
Polizeireglement nicht vor. Darüber hinaus ist der Stadtrat darauf

zu behaften, nach Art. 3 Abs. 4 des Polizeireglements mit wirksamen
Vorkehrungen sicherzustellen, dass jegliche missbräuchliche Verwendung des
Aufzeichnungsmaterials ausgeschlossen wird. Im Rahmen der abstrakten
Normenkontrolle ist am Vollzug dieser gesetzlichen Auflagen nicht zu
zweifeln. Unter diesen Umständen kann eine verfassungs- und EMRK-konforme
Anwendung der Aufbewahrungsdauer von 100 Tagen gemäss Art. 3 Abs. 3 des
Polizeireglementes angenommen werden.

  Die Beschwerde erweist sich daher als unbegründet.