Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 I 201



Urteilskopf

133 I 201

  23. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Firma X.
und E. gegen Amt für AHV und IV Thurgau sowie Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
  8C_76/2007 vom 6. Juli 2007

Regeste

  Art. 9 und 29 Abs. 2 BV; § 4 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes über die
Kinder- und Ausbildungszulagen; § 20 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes über
die Verwaltungsrechtspflege; Eröffnung einer Verfügung über Kinderzulagen.

  Die Verfügung über Kinderzulagen, welche dem Arbeitnehmer zustehen, ist
diesem zu eröffnen. Eine Zustellung an den Arbeitgeber mit der Bitte, die
Verfügung an den Arbeitnehmer weiterzuleiten, genügt nicht. Dieses Vorgehen
verletzt das Willkürverbot und den Anspruch auf rechtliches Gehör (E. 2.1).

  Offengelassen, ob eine Heilung des Mangels im Rechtsmittelverfahren
grundsätzlich möglich wäre. Jedenfalls genügt es nicht, wenn dem
Arbeitnehmer lediglich der Entscheid einer gerichtlichen Rechtsmittelinstanz
zugestellt wird, welche nur über eingeschränkte Kognition verfügt (E. 2.3).

Sachverhalt

  A.- Mit Verfügung vom 8. Mai 2006 setzte die Familienausgleichskasse des
Kantons Thurgau die der 1962 geborenen E. zustehenden Kinder- und
Ausbildungszulagen für die vier Kinder R., M., C. und S. ab 1. Januar 2005
auf Fr. 76.- pro Monat für jedes Kind fest, entsprechend 40 % der vollen
Zulagen von Fr. 190.-. Die Verfügung war an die Arbeitgeberin Firma X.
gerichtet und enthielt den Vermerk "Wir bitten Sie, das Doppel dieser
Verfügung dem Bezüger auszuhändigen". E. ist die Ehefrau des Firmeninhabers.

  Auf Rekurs der Firma X. hin bestätigte die AHV/IV-Rekurskommission des
Kantons Thurgau mit Entscheid vom 21. August 2006 die angefochtene
Verfügung.

  B.- Die dagegen durch die Firma X. erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ab (Entscheid vom 24. Januar 2007).
Der Entscheid wurde (anders als derjenige der Rekurskommission) auch E.
zugestellt.

  C.- Die Firma X. (Beschwerdeführerin 1) sowie E. (Beschwerdeführerin 2)
lassen Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es seien E. rückwirkend ab
1. Januar 2005 ganze Kinder- und Ausbildungszulagen zuzusprechen.

  Das kantonale Gericht und die Familienausgleichskasse schliessen auf
Abweisung der Beschwerde.

  Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Sache an die
Familienausgleichskasse zurückgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.  Mit der Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden
(Art. 95 lit. a des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht
[BGG; SR 173.110]). Der Begriff des Bundesrechts umfasst die von den
Bundesorganen erlassenen Rechtsnormen aller Erlassstufen, insbesondere die
Bundesverfassung, die Bundesgesetze sowie die verschiedenen Arten von
Verordnungen (SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern
2007, S. 401, N. 12 ff. zu Art. 95 BGG). Soweit sich der angefochtene
Entscheid auf Quellen des kantonalen Rechts stützt, welche nicht in Art. 95
lit. c-e BGG genannt werden, beschränkt sich die Überprüfung durch das
Bundesgericht demgegenüber thematisch auf die erhobenen und begründeten
Rügen (Art. 106 Abs. 2 BGG) und inhaltlich auf die Frage, ob die Anwendung
des kantonalen Rechts zu einer Bundesrechtswidrigkeit führt. Im Vordergrund
steht dabei eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte, insbesondere des
Willkürverbots nach Art. 9 BV (BGE 128 I 177 E. 2.1 S. 182; 125 V 408 E. 3a
S. 408 f., je mit Hinweisen; zum Begriff der Willkür: BGE 132 III 209 E. 2.1
S. 211 mit Hinweisen). Was die Feststellung des Sachverhalts anbelangt, kann
mit der Beschwerde nur gerügt werden, diese sei offensichtlich unrichtig
oder beruhe auf einer Rechtsverletzung nach Art. 95 (Art. 97 Abs. 1 BGG).

Erwägung 2

  2.  Die Beschwerdeführerinnen lassen in formeller Hinsicht rügen, die
Verfügung der Familienausgleichskasse vom 8. Mai 2006 sei zu Unrecht nur der
Arbeitgeberin und nicht der primär betroffenen Arbeitnehmerin eröffnet
worden.

  2.1  Anspruch auf Kinder- oder Ausbildungszulagen haben gemäss § 4 Abs. 1
des thurgauischen Gesetzes vom 29. September 1986 über die Kinder- und
Ausbildungszulagen (KAZG/TG; RB 836.1) "Arbeitnehmer für die Dauer des
Arbeitsverhältnisses, sofern ihr Arbeitgeber diesem Gesetz untersteht".
Dementsprechend regelt das Gesetz laut § 2 Abs. 1 "die Ansprüche der
Arbeitnehmer nichtlandwirtschaftlicher Berufe auf Kinder- und
Ausbildungszulagen". Anspruchsberechtigt und damit als Partei in das
Verwaltungsverfahren einzubeziehen war somit die Beschwerdeführerin 2 (vgl.
Urteil des Bundesgerichts 2P.108/2006 vom 11. August 2006, E. 1.2). Gemäss §
20 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes vom 23. Februar 1981 über die
Verwaltungsrechtspflege (VRG/TG; RB 170.1) sind Entscheide "den Beteiligten
und den betroffenen Dritten schriftlich zu eröffnen". Daraus wird ohne
weiteres deutlich, dass die Verfügung (zumindest auch) zwingend der
Beschwerdeführerin 2 hätte eröffnet werden müssen. Eine andere Auslegung des
kantonalen Verfahrensrechts muss als unhaltbar und damit willkürlich
bezeichnet werden. Das Gebot, einen Entscheid den direkt betroffenen
Personen zu eröffnen, ergibt sich überdies als elementares Prinzip aus dem
Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV (vgl. JÖRG PAUL
MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 519).

  Die Familienausgleichskasse hätte somit ihre Verfügung vom 8. Mai 2006
nicht lediglich der die Zulagen auszahlenden Arbeitgeberin, sondern auch und
in erster Linie der Arbeitnehmerin zustellen müssen, welche in der Folge
auch zur Anfechtung auf dem Rechtsmittelweg legitimiert gewesen wäre (vgl.
zum Grundsatz der Einheit des Prozesses: BGE 130 V 560 E. 4.3 S. 568 f.).
Die Verfügung vom 8. Mai 2006 wurde jedoch einzig der Arbeitgeberin
eröffnet. Der Hinweis, diese werde gebeten, das Doppel der Verfügung dem
Bezüger auszuhändigen, vermag eine formelle Eröffnung nicht zu ersetzen. Das
Vorgehen der Verwaltung verstösst deshalb gegen Bundesrecht.

  2.2  Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwerwiegende -
Verletzung des rechtlichen Gehörs ausnahmsweise als geheilt gelten, wenn die
betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz
zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen
kann (BGE 127 V 431 E. 3d/aa S. 437). Von einer Rückweisung der Sache an die
Verwaltung ist selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des rechtlichen

Gehörs dann abzusehen, wenn und soweit die Rückweisung zu einem
formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde,
die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei
an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären
(BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390 mit Hinweis).

  2.3  Die Beschwerdeführerin 2 wurde weder in das Verfahren vor der
Rekurskommission einbezogen, noch wurde ihr deren Entscheid eröffnet. Auch
im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, welches zudem nicht über volle
Kognition verfügt (§ 56 Abs. 1 und 2 VRG/TG), erfolgte keine eigentliche
Beiladung der Beschwerdeführerin 2, sondern es wurde ihr lediglich der
Endentscheid zugestellt. Das Gericht hielt sogar ausdrücklich fest, es
dränge sich nicht auf, der Beschwerdeführerin 2 Gelegenheit zu bieten, sich
am Verfahren zu beteiligen, denn es dürfe "wohl davon ausgegangen werden,
dass alle Argumente gegen die Verfügung vom 8. Mai 2006 vorgebracht sind."
Die Möglichkeit einer Beschwerde an das Bundesgericht mit der für dieses
geltenden Kognition (E. 1 hiervor) ist offensichtlich nicht geeignet, eine
Heilung des durch die unterbliebene Eröffnung der Verfügung entstandenen
Verfahrensmangels zu ermöglichen. Damit kann offenbleiben, ob allenfalls
unter anderen Umständen eine Heilung eines derartigen Mangels denkbar wäre.
Die Verfügung und die sie bestätigenden Entscheide vermögen daher gegenüber
der Beschwerdeführerin 2 keine Rechtswirkungen zu entfalten. Diesbezüglich
wird eine korrekte Eröffnung noch vorzunehmen sein.