Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 I 178



Urteilskopf

133 I 178

  21. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Balmer und Giovanoli gegen Landrat des Kantons Glarus (Staatsrechtliche
Beschwerde)
  2P.137/2006 vom 23. Januar 2007

Regeste

  Art. 9 BV; Erfordernis der zweiten Lesung für Erlasse; Herabsetzung der
Besoldung der Behördenmitglieder.

  Die Nichtbeachtung von Art. 86 Abs. 2 KV/GL (Erfordernis der zweiten
Lesung für Erlasse) durch den Landrat (Kantonsparlament) kann gestützt auf
das allgemeine Willkürverbot (Art. 9 BV) gerügt werden (E. 2).

  Die Missachtung des Erfordernisses der zweiten Lesung erscheint als ein
gravierender formeller Mangel des parlamentarischen Rechtsetzungsverfahrens,
welcher zwar aus Gründen der Rechtssicherheit der Verbindlichkeit des
betreffenden Erlasses nicht absolut entgegenstehen kann, aber doch - wenn er
innert Frist mit einem zur Verfügung stehenden Rechtsmittel gerügt wird -
zur Aufhebung desselben führen muss (E. 3).

Sachverhalt

  Am 23. November 2005 beschloss der Landrat des Kantons Glarus
(Kantonsparlament) eine Änderung seines Beschlusses vom 2. Dezember 1987
über die Besoldungen der Behördenmitglieder. Diese führte ab Beginn der
Amtsdauer 2006/2010 zu einer Reduktion des (maximalen) Jahresgehaltes der
vollamtlichen Gerichtspräsidenten von bisher Fr. 190'615.- auf neu Fr.
181'945.-. Die am 1. Juli 2006 in Kraft getretene Änderung wurde am 20.
April 2006 im Amtsblatt des Kantons Glarus publiziert.

  Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. Mai 2006 beantragen Peter Balmer,
Präsident des Verwaltungsgerichts, und Marco Giovanoli, Präsident des
Kantonsgerichts, dem Bundesgericht, den Beschluss des Landrates des Kantons
Glarus vom 23. November 2005, soweit ihre Besoldung ab dem 1. Juli 2006
gekürzt wird, aufzuheben.

  Der Landrat des Kantons Glarus beantragt, die Beschwerde abzuweisen,
soweit darauf einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.

  2.1  Die Beschwerdeführer rügen vorab, der angefochtene Landratsbeschluss
sei unter Verletzung des in Art. 86 Abs. 2 der Verfassung des Kantons Glarus
vom 1. Mai 1988 (KV/GL) verankerten Erfordernisses einer zweiten Lesung
zustande gekommen und schon aus diesem formellen Grund wegen Verletzung des
Grundsatzes der Gewaltenteilung aufzuheben.

  2.2  Der in Art. 73 KV/GL explizit verankerte Grundsatz der
Gewaltentrennung schützt nach feststehender bundesgerichtlicher
Rechtsprechung als verfassungsmässiges Individualrecht die Einhaltung der
verfassungsmässigen Zuständigkeitsordnung (BGE 130 I 1 E. 3.1 mit
Hinweisen). Er kommt insbesondere zum Zuge bei Streitigkeiten über die
Zulässigkeit von Rechtsetzungsdelegationen. Vorliegend steht ausser Frage,
dass die Kompetenz zum Erlass der streitigen Besoldungsregelung beim Landrat
liegt (Art. 91 lit. f KV/GL). Der Einwand,

die vorgeschriebene zweite Lesung sei unterblieben, betrifft nicht die
Zuständigkeit zum Erlass dieser Besoldungsregelung, sondern die Frage, ob
das zuständige Rechtsetzungsorgan das für den Erlass einer solchen Regelung
vorgeschriebene Verfahren beachtet hat. Es handelt sich damit nicht um eine
dem Grundsatz der Gewaltentrennung zuzuordnende Kompetenzstreitigkeit,
sondern um die Geltendmachung eines ausserhalb dieses Problemkreises
liegenden Mangels, der die Gültigkeit des angefochtenen Erlasses allenfalls
in Frage stellen könnte. Die Beschwerdeführer können sich deshalb nicht auf
den Grundsatz der Gewaltentrennung, sondern nur auf das allgemeine
Willkürverbot (Art. 9 BV) berufen. Diese Rüge kann sich nicht nur auf den
Inhalt der neuen Besoldungsordnung, sondern auch auf die Frage des gültigen
Zustandekommens der angefochtenen neuen Normen beziehen.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Der Landrat bereitet als Parlament des Kantons die Verfassungs- und
Gesetzgebung sowie die übrigen Beschlüsse der Landsgemeinde vor; er erlässt
sodann Verordnungen, Verwaltungs- und Finanzbeschlüsse und entscheidet über
grundlegende oder allgemeinverbindliche Planungen (Art. 82 KV/GL).

  Gemäss Art. 86 Abs. 1 KV/GL regelt der Landrat seine Organisation und sein
Verfahren durch eine Verordnung. Art. 86 Abs. 2 KV/GL bestimmt:
"Verfassungsänderungen, Gesetze und Verordnungen unterliegen einer zweiten
Lesung". Diese verfassungsrechtliche Vorgabe wird in Art. 105 der
Landratsverordnung vom 13. April 1994 näher ausgeführt:

    1  Verfassungsänderungen, Gesetze und Verordnungen unterliegen einer
       zweiten Lesung. Das Büro kann auch für andere Vorlagen eine
       zweimalige Lesung anordnen.

    2  Die zweite Lesung findet in der Regel frühestens 14 Tage nach der
       ersten Lesung statt. In dringenden Fällen kann der Rat beschliessen,
       dass die zweite Lesung eine Woche nach der ersten Lesung stattfindet.
       Ausnahmsweise kann er auch beschliessen, die zweite Lesung an
       demselben Tag wie die erste Lesung durchzuführen.

    3  Bei der zweiten Lesung entfällt die Eintretensfrage. Die Vorlage wird
       sogleich artikelweise beraten. Behandelt werden vorab diejenigen
       Bestimmungen, zu denen Anträge der vorberatenden Kommission, des
       Büros oder des Regierungsrates vorliegen.

    4  Erscheint dem Rat die Vorlage oder ein Antrag nicht
       entscheidungsreif, so setzt er die zweite Lesung für solange aus, bis
       die vorberatende

       Kommission, das Büro oder der Regierungsrat zu den noch offenen
       Fragen Stellung genommen haben.

  Der Landrat erachtet in seiner Vernehmlassung das Erfordernis einer
zweiten Lesung vorliegend als nicht anwendbar, weil es sich beim
angefochtenen Erlass nicht um ein Gesetz oder eine Verordnung, sondern
lediglich um einen "Beschluss" handle. Zudem habe diese Regelung lediglich
den Charakter einer Ordnungsvorschrift, deren Verletzung nicht zur Aufhebung
des betreffenden Erlasses führen könne.

  3.2  Dass Verfassungs- und Gesetzesvorlagen im kantonalen Parlament einer
zweimaligen (oder gar mehrfachen) Beratung bedürfen, entspricht einer seit
dem 19. Jahrhundert üblichen und heute noch verbreiteten Regel (JAKOB DUBS,
Das öffentliche Recht der schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1877, S.
74 f.; Z. GIACOMETTI, Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Zürich
1941, S. 359 f.; URS BOLZ, in: Handbuch des bernischen Verfassungsrechts,
Hrsg. Walter Kälin/Urs Bolz, Bern 1995, S. 449; KURT EICHENBERGER,
Verfassung des Kantons Aargau, Textausgabe mit Kommentar, Aarau 1986, N. 31
zu § 78). Diese Regelung soll - was auf Bundesebene durch das
Zweikammersystem gewährleistet ist - die gründliche Beratung einer Vorlage
sicherstellen und das Risiko emotional bestimmter Spontanentscheidungen
mindern (KURT EICHENBERGER, ibid.; Z. GIACOMETTI, a.a.O., S. 359). Das
Parlament soll zudem, was dem Referendum unterliegende Vorlagen anbelangt,
die Möglichkeit der Fühlungnahme mit dem Volk bzw. mit der öffentlichen
Meinung erhalten, um eine Vorlage nach der ersten Beratung allenfalls
entsprechend anpassen zu können (Z. GIACOMETTI, a.a.O., S. 360).

  3.3  Überlegungen dieser Art liegen auch der Vorschrift von Art. 86 Abs. 2
KV/GL zu Grunde (RAINER J. SCHWEIZER, Verfassung des Kantons Glarus,
Kommentar zum Entwurf, Bd. II, 1981, S. 351 f.): Mit dem Erfordernis einer
zweiten Lesung werde die Hebung der Qualität des vorgesehenen Erlasses
bezweckt; im Anschluss an die erste Lesung solle der Entwurf nach einer
schöpferischen Pause nochmals studiert, zweifelhafte Punkte geklärt und
wenig überlegte oder momentan bedingte Entschlüsse der ersten Beratung
revidiert werden können; die Möglichkeit einer späteren nochmaligen
(punktuellen) Beratung an der Landsgemeinde vermöge eine richtige
Gesamtsichtung der Vorlage nicht zu gewährleisten (RAINER J. SCHWEIZER,
a.a.O., S. 353). Der Verfassungsentwurf sah das Erfordernis einer zweiten
Lesung allerdings nur für Verfassungsänderungen und Gesetze

vor (RAINER J. SCHWEIZER, a.a.O., S. 348 und 352). In der landrätlichen
Beratung wurde dieses Erfordernis auch auf "Verordnungen" ausgedehnt (vgl.
Protokoll der Sitzungen des Landrates vom 6. November 1985 und 24. September
1986). Damit fallen nicht nur referendumspflichtige Verfassungsänderungen
und Gesetze, sondern auch rechtsetzende Erlasse, welche der Landrat in
eigener Kompetenz beschliessen kann, unter die in Art. 86 Abs. 2 KV/GL für
das parlamentarische Rechtsetzungsverfahren statuierte Regel.

  In denjenigen Kantonen, welche das Erfordernis der zweiten Lesung kennen,
gilt diese Vorschrift meist nur für die Beratung von Gesetzen (vgl. etwa §
48 Abs. 2 KV/LU; § 44 KV/ZG; § 63 Abs. 2 KV/BL; § 78 Abs. 3 KV/AG; § 45 der
Geschäftsordnung des Grossen Rates des Kantons Schaffhausen vom 20. Dezember
1999; Art. 35 Landratsgesetz/NW; Art. 49 der Geschäftsordnung des
Kantonsrates des Kantons Appenzell A.Rh. vom 24. März 2003: Zweimalige
Beratung von Vorlagen, die dem obligatorischen oder fakultativen Referendum
unterstehen), doch finden sich auch weitergehende Regelungen (Art. 125 loi
sur le Grand Conseil du Canton de Vaud vom 3. Februar 1998: Zweite Lesung
für Gesetze und Dekrete; § 49 KV/VS: Zweite Lesung für Gesetzes- und
Dekretsentwürfe als Regel, von der abgewichen werden kann; § 83 Abs. 3
KV/JU: Zweite Lesung obligatorisch für Verfassungsbestimmungen, Gesetze und
Dekrete; Art. 64 KV/TI: Zweite Lesung für Gesetze und Dekrete, denen der
Regierungsrat nicht zugestimmt hat).

  3.4  In der Vernehmlassung des Landrates wird ausgeführt, die Besoldungen
der Behördenmitglieder von Exekutive und Judikative seien stets - und in
neuerer Zeit nur mit einer einzigen Lesung - in Form von Beschlüssen
geregelt worden. Dem ist entgegenzuhalten, dass es auf die Bezeichnung des
Erlasses nicht ankommen kann. Wenn der Landrat gestützt auf Art. 91 lit. f
KV/GL in generell-abstrakter Weise die Besoldungen der Behördenmitglieder
und Angestellten des Kantons regelt, handelt es sich dabei um rechtsetzende
Erlasse, die - weil in die abschliessende Kompetenz des Landrates fallend -
als selbständige Verordnungen des Landrates im Sinne von Art. 89 lit. b
KV/GL einzustufen sind (so auch RAINER J. SCHWEIZER, a.a.O., S. 389 f.). Ein
vom Landrat am 26. Juni 1996 gestützt auf Art. 91 lit. f KV/GL
verabschiedeter Erlass "über die Besoldungen der Angestellten des Kantons"
wird denn auch als "Verordnung" bezeichnet ("Besoldungsverordnung"). Wieso
es sich bei der entsprechenden, auf der gleichen verfassungsrechtlichen
Kompetenzzuweisung

(Art. 91 lit. f KV/GL) beruhenden Regelung über die Besoldung von
Behördenmitgliedern anders verhalten soll, ist nicht einzusehen. Auch wenn
der Kreis der Adressaten dieses Erlasses kleiner sein mag, geht es hier
ebenfalls um eine generell-abstrakt formulierte, zeitlich nicht limitierte
Regelung, die, ungeachtet ihrer anderslautenden Bezeichnung ("Beschluss"),
als rechtsetzende Verordnung des Landrates - bzw. als Änderung einer solchen
- eingestuft werden muss und damit der Regel von Art. 86 Abs. 2 KV/GL
unterworfen ist.

  Entgegen der in der Vernehmlassung des Landrates vertretenen Auffassung
handelt es sich beim Erfordernis der zweiten Lesung nicht um eine blosse
Ordnungsvorschrift. Dagegen spricht schon der Umstand, dass diese Norm als
wichtige Regel des parlamentarischen Rechtsetzungsverfahrens auf
Verfassungsstufe verankert worden ist. In die gleiche Richtung gehen die
Ausführungen im Verfassungskommentar: Ausnahmen seien selbst bei Zeitdruck
nicht zulässig, doch könne das Landratsreglement vorsehen, dass in
dringlichen Fällen die Frist zwischen den beiden Lesungen stark verkürzt
werde (RAINER J. SCHWEIZER, a.a.O., S. 352). Die geltende Landratsverordnung
sieht denn auch in Art. 105 Abs. 2 für dringende Fälle die Möglichkeit der
Verkürzung der ordentlichen Frist von 14 Tagen vor, wobei die zweite Lesung
"ausnahmsweise" sogar an demselben Tag wie die erste Lesung stattfinden
darf. Welche Schranken bei der Handhabung dieser Ausnahmeregelung zu
beachten sind, bedarf hier keiner weiteren Prüfung, nachdem eine zweite
Lesung des streitigen Besoldungserlasses zu Unrecht überhaupt nicht
stattgefunden hat, weil sie nicht als notwendig erachtet wurde.

  Der Einwand in der Vernehmlassung des Landrates, wonach auch die
Durchführung einer zweiten Lesung am Ergebnis nichts geändert hätte, ist
nicht geeignet, die vorstehenden Überlegungen in Frage zu stellen. Diese für
das parlamentarische Rechtsetzungsverfahren geltende formelle Regel muss,
ähnlich wie das Gebot der Gehörsgewährung vor Erlass belastender
Verfügungen, unabhängig vom mutmasslichen Einfluss auf das
Verfahrensergebnis befolgt werden.

  3.5  Es fragt sich, welche rechtlichen Folgen die Missachtung der Regel
von Art. 86 Abs. 2 KV/GL nach sich zieht. Formelle Unregelmässigkeiten bei
der Abwicklung eines Geschäftes durch das Parlament lassen sich nie völlig
vermeiden und vermögen die Gültigkeit einer vom Plenum getroffenen
Schlussentscheidung grundsätzlich

nicht in Frage zu stellen; das muss aus Gründen der Rechtssicherheit auch
für rechtsetzende Akte des Parlamentes gelten. Der Beschlussfassung durch
das Parlament können aber dennoch schwere Mängel anhaften, welche entweder -
zum Beispiel bei nachgewiesener fehlender Beschlussfähigkeit - die
Nichtigkeit des betreffenden Beschlusses oder aber wenigstens dessen
Anfechtbarkeit zur Folge haben. Die Missachtung des Erfordernisses der
zweiten Lesung erscheint als ein gravierender formeller Mangel des
parlamentarischen Rechtsetzungsverfahrens, welcher zwar aus Gründen der
Rechtssicherheit der Verbindlichkeit des betreffenden Erlasses nicht absolut
entgegenstehen kann, aber doch - wenn er innert Frist mit einem zur
Verfügung stehenden Rechtsmittel gerügt wird - zur Aufhebung desselben
führen muss.

  3.6  Indem sich der Landrat bei der Beschlussfassung über die streitige
Besoldungsrevision offensichtlich über Art. 86 Abs. 2 KV/GL hinweggesetzt
hat, verstiess er zugleich gegen das Willkürverbot. Die staatsrechtliche
Beschwerde ist daher gutzuheissen und der angefochtene Erlass aufzuheben.
Eine Behandlung der materiellen Verfassungsrügen erübrigt sich.