Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 I 12



Urteilskopf

133 I 12

  2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X.
gegen A. und Mitb. sowie Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons
Luzern (Staatsrechtliche Beschwerde)
  1P.313/2006 vom 22. November 2006

Regeste

  Art. 32 Abs. 2 und 3 BV; Recht auf Verteidigung und Appellation.

  Die Praxis, wonach die Appellation bei unentschuldigtem Ausbleiben des
Angeklagten selbst dann ersatzlos abgeschrieben wird, wenn der Verteidiger
zur Appellationsverhandlung erscheint, hält vor der Verfassung nicht stand.
Eine Verwirkung des Anspruches auf Berufung kann nur bei einem sogenannten
"Totalversäumnis" (unentschuldigtes Ausbleiben sowohl des Angeklagten als
auch des Verteidigers) in Frage kommen (E. 4-8).

Sachverhalt ab Seite 12

  Mit Strafurteil vom 14. Januar 2005 sprach das Kriminalgericht des Kantons
Luzern X. des gewerbsmässigen Betruges sowie der mehrfachen
Urkundenfälschung schuldig und verurteilte ihn zu viereinhalb Jahren
Zuchthaus und acht Jahren Landesverweisung. Gegen das begründete Urteil
appellierte X.

  Mit prozessleitender Verfügung vom 10. Januar 2006 wurde der Appellant vom
Obergericht des Kantons Luzern unter Androhung von Säumnisfolgen auf den 14.
März 2006 zur Berufungsverhandlung vorgeladen. Am 13. Februar 2006 stellte
der in Deutschland wohnhafte Appellant ein Gesuch um Dispensation vom
persönlichen Erscheinen an der Berufungsverhandlung. Mit prozessleitender
Verfügung vom 14. Februar 2006 wies das präsidierende Mitglied des
Obergerichtes das Dispensationsgesuch "im Sinne der Erwägungen" ab. In den
Erwägungen stellte das Obergericht dem Appellanten (für den Fall der
Bestätigung einer unbedingten Freiheitsstrafe) dessen sofortige Verhaftung
anlässlich der Berufungsverhandlung in Aussicht.

  Zur Berufungsverhandlung vom 14. März 2006 erschien der Appellant nicht.
Er liess sich jedoch durch seinen Verteidiger vertreten. Mit
verfahrensabschliessendem Entscheid vom 14. März 2006 schrieb das
Obergericht des Kantons Luzern das Appellationsverfahren als erledigt von
der Geschäftskontrolle ab. Die Kosten des Verfahrens wurden dem Appellanten
auferlegt.

  Gegen den Entscheid des Obergerichtes vom 14. März 2006 gelangte X. mit
staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Dieses heisst die
Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Nach luzernischem Strafprozessrecht ist der Angeklagte, der zu einer
Freiheitsstrafe von mehr als zehn Tagen verurteilt worden ist, zur
Appellation berechtigt (§ 233 Ziff. 1 StPO/LU). Die Appellation ist innert
zehn Tagen seit Zustellung des begründeten Urteils schriftlich bei der
Obergerichtskanzlei zu erklären (§ 234bis StPO/LU). Erscheint der Appellant
nicht zur Verhandlung, fällt die Appellation dahin (§ 242 Abs. 1 StPO/LU).
Der Angeklagte kann jedoch wegen Krankheit, Landesabwesenheit oder aus
anderen wichtigen Gründen von der persönlichen Teilnahme an der
Berufungsverhandlung entbunden werden (§ 170 Abs. 1 i.V.m. § 240 Abs. 1
StPO/LU). Der Angeklagte kann seine Parteirechte im Rahmen der
Strafprozessordnung entweder selber ausüben oder sich durch einen
Verteidiger verbeiständen lassen (§ 33 Abs. 1-2 StPO/LU). Bei
Gerichtsverfahren in Kriminalstrafsachen muss er durch einen Verteidiger
verbeiständet sein (sog. "notwendige" Verteidigung, § 33 Abs. 3 Ziff. 3
i.V.m. §§ 12 und 240 Abs. 1 StPO/LU). Wenn sich der Angeklagte nicht

selbst verteidigt, hält der Verteidiger den Parteivortrag (§ 179 Abs. 1
Ziff. 3 i.V.m. § 240 Abs. 1 StPO/LU).

Erwägung 5

  5.  Gemäss Art. 32 Abs. 3 BV hat jede strafrechtlich verurteilte Person
das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen;
ausgenommen sind die Fälle, in denen das Bundesgericht als einzige Instanz
urteilt. Ein analoger Anspruch ergibt sich auch aus dem Völkerrecht (Art. 2
Ziff. 1 des Protokolls Nr. 7 vom 22. November 1984 zur EMRK [Prot. Nr. 7
EMRK; SR 0.101.07]; Art. 14 Ziff. 5 UNO-Pakt II [SR 0.103.2]). Zu beachten
sind sodann die grundrechtlich geschützten allgemeinen Parteirechte bzw. die
besonderen Verteidigungsrechte des Angeklagten. So hat jede Person in
Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und
gerechte sowie auf eine Treu und Glauben respektierende faire Behandlung
(Art. 9 und Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Jede angeklagte Person
muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend
zu machen (Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV). Insbesondere besteht gestützt auf Art.
32 Abs. 2 BV ein Anspruch des Angeklagten, dass sein Verteidiger an der
Haupt- bzw. Berufungsverhandlung teilnehmen kann (BGE 131 I 185 E. 3.1 S.
191 mit Hinweisen).

  Das Bundesgericht prüft frei, ob die betreffenden Grundrechtsgarantien bei
der Anwendung des kantonalen Prozessrechtes missachtet worden sind (vgl. BGE
131 I 185 E. 2.1 S. 188; 127 I 213 E. 3b S. 216 mit Hinweisen).

Erwägung 6

  6.  Nach der Praxis des Bundesgerichtes stellt in Fällen der notwendigen
Verteidigung die Durchführung der Berufungsverhandlung ohne Anwesenheit des
Rechtsbeistands einen Verstoss gegen die Verteidigungsrechte des Angeklagten
dar (BGE 131 I 185 E. 3.2.3 S. 191 f., mit Hinweis auf BGE 113 Ia 218 E. 3c
S. 223). Selbst wenn der Appellant trotz ordnungsgemässer Vorladung und ohne
Entschuldigung zur Berufungsverhandlung nicht erscheint, darf ihm das Recht,
von einem Anwalt an dieser Verhandlung wirksam verteidigt zu werden, nicht
verunmöglicht werden; auch in einer solchen Konstellation hat er Anspruch
auf amtliche Verteidigung (BGE 131 I 185 E. 3.2.3 S. 192, mit Hinweis auf
BGE 127 I 213 E. 3a S. 216).

  In BGE 127 I 213 erwog das Bundesgericht, dass der Appellant mit seinem
unentschuldigten Nichterscheinen zwar sein Recht auf persönliche Anwesenheit
verwirkt habe. Hingegen habe er damit weder auf die Appellation verzichtet,
noch auf sein Recht, durch einen Offizialverteidiger

vertreten zu werden (BGE 127 I 213 E. 4 S. 217). Die Versagung von
Verteidigungsrechten (im Sinne von Art. 32 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 3 BV)
wegen unentschuldigter Säumnis stelle eine unverhältnismässige Massnahme
dar. Wegen der zentralen Bedeutung der persönlichen Anwesenheit des
Beschuldigten für ein faires Strafverfahren müsse zudem der Verzicht auf das
Anwesenheitsrecht soweit möglich durch die Sicherstellung einer wirksamen
Verteidigung ausgeglichen werden (BGE 127 I 213 E. 4 S. 218).

  Das Kassationsgericht des Kantons Zürich erkannte in einem publizierten
Urteil vom 27. Oktober 1997 (und gestützt auf seine jahrzehntelange Praxis)
einen Verstoss gegen die Grundrechte, "wenn die Berufungsinstanz wegen
unentschuldigten Ausbleibens des appellierenden Angeklagten Rückzug der
Berufung annimmt, sofern gleichzeitig der Verteidiger anwesend und zur
Begründung der Berufung bereit ist" (ZR 97/1998 Nr. 29 S. 86 ff. mit
Hinweisen). Ein Verlust des Anspruches auf Berufung (wie ihn Art. 32 Abs. 3
BV unterdessen ausdrücklich gewährleistet) könne nur bei sogenanntem
"Totalversäumnis" eintreten (Ausbleiben sowohl des Appellanten als auch des
Verteidigers).

  Nach der neuen ausdrücklichen Vorschrift der Zürcher Strafprozessordnung
(§ 423 StPO/ZH, in Kraft seit 1. Januar 2005) genügt es, wenn der Appellant
oder sein Verteidiger an der Berufungsverhandlung anwesend ist. Das
unentschuldigte Nichterscheinen des Appellanten führt nicht zur Abschreibung
des Berufungsverfahrens, sondern zur Durchführung des Abwesenheitsverfahrens
(vgl. NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 4. Aufl., Zürich 2004, Rz. 1041,
Fn. 269).

  Eine ähnliche Regelung (Rechtsverlust nur bei "Totalversäumnis") enthält
auch der bundesrätliche Entwurf zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung
(E-StPO; BBl 2006 S. 1389 ff.): Die Berufung "gilt als zurückgezogen", wenn
der Appellant "der mündlichen Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleibt
und sich auch nicht vertreten lässt" (Art. 414 Abs. 1 lit. a E-StPO). Ein
Abwesenheitsverfahren findet statt, wenn "die Staatsanwaltschaft oder die
Privatklägerschaft die Berufung im Schuld- oder Strafpunkt erklärt" und der
Angeklagte der Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleibt (Art. 414 Abs.
2 E-StPO).

  Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte folgt (gestützt auf
die EMRK bzw. das Prot. Nr. 7 EMRK) in seiner Praxis

diesen oben dargelegten Grundsätzen (vgl. Urteile des EGMR i.S. Lala und
Pelladoah gegen die Niederlande vom 22. September 1994, Serie A, Bd. 297-A
und 297-B, AJP 1995 S. 668 f.; i.S. Poitrimol gegen Frankreich vom 23.
November 1993, Serie A, Bd. 277-A, AJP 1994 S. 804 f.).

Erwägung 7

  7.  Wie sich im vorliegenden Fall aus den Akten ergibt, ist der
Beschwerdeführer anwaltlich verbeiständet. Da er vom Kriminalgericht
erstinstanzlich zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, handelt es
sich um einen Fall der notwendigen Verteidigung (vgl. § 33 Abs. 3 Ziff. 3
StPO/LU). Am 23. Juni 2005 hat der Beschwerdeführer frist- und formgültig
Appellation erhoben. Mit prozessleitender Verfügung vom 10. Januar 2006
wurde er vom Obergericht unter Androhung von Säumnisfolgen auf den 14. März
2006 zur Berufungsverhandlung vorgeladen. Die betreffende persönliche
Vorladung an den Angeklagten wurde dessen Verteidiger zugestellt.

  Am 13. Februar 2006 stellte der in Deutschland wohnhafte Beschwerdeführer
ein Gesuch um Dispensation vom persönlichen Erscheinen an der
Berufungsverhandlung. Er wies darauf hin, dass er "in tatsächlicher Hinsicht
voll geständig" sei und dass sein Verteidiger "das angefochtene Urteil mit
rechtlichen Argumenten in Frage stellen" werde. Daher erscheine seine
persönliche Anwesenheit an der Appellationsverhandlung "entbehrlich".
Darüber hinaus habe das Bundesamt für Migration am 10. August 2005 eine
Einreisesperre gegen ihn, den Beschwerdeführer, verfügt.

  Mit prozessleitender Verfügung vom 14. Februar 2006 wies das präsidierende
Mitglied des Obergerichtes das Dispensationsgesuch "im Sinne der Erwägungen"
ab. Es erwog, dass das Bundesamt für Migration zwar eine Einreisesperre
gegen den Appellanten "bis am 9. August 2010 verhängt" habe. Es stehe dem
Beschwerdeführer jedoch "offen, bei diesem Bundesamt als zuständige Behörde
eine ausdrückliche Bewilligung für das Betreten der Schweiz im Hinblick auf
die Appellationsverhandlung einzuholen". Zwar könne das Obergericht "wegen
Krankheit, Landesabwesenheit oder aus anderen wichtigen Gründen" Angeklagte
vom persönlichen Erscheinen an der Berufungsverhandlung dispensieren. Im
Hinblick auf die "strittige Strafzumessung" sei hier jedoch die persönliche
Anwesenheit des Appellanten "zwingend".

  In der gleichen Verfügung vom 14. Februar 2006 erwog das präsidierende
Mitglied des Obergerichtes zusätzlich, dass sich "vorliegend

auch die Frage" stelle, "ob dem Angeklagten das freie Geleit zu gewähren
sei". Ein freies Geleit könne den Beschwerdeführer "nur vor einer
Untersuchungshaft" schützen, es falle jedoch "bei einer allfälligen
Verurteilung durch das Obergericht" dahin. "Das Obergericht" behalte "sich
demnach vor, den Angeklagten im Fall eines Schuldspruchs und einer
unbedingten Freiheitsstrafe nach Urteilseröffnung im Nachgang zur
Appellationsverhandlung verhaften zu lassen".

  In der Folge erschien der Beschwerdeführer nicht persönlich an der
Berufungsverhandlung vom 14. März 2006. Er liess sich dort jedoch durch
seinen Verteidiger vertreten. Dieser erklärte im Namen des Beschwerdeführers
ausdrücklich, dass er an der Appellation festhalte und auch bereit sei,
diese zu begründen. Das Obergericht schrieb die Appellation dennoch "als
erledigt" von der Geschäftskontrolle ab mit der Begründung, durch sein
Nichterscheinen habe der Beschwerdeführer auf Appellation "verzichtet" bzw.
sein "Desinteresse" daran erklärt.

Erwägung 8

  8.  Die Luzerner Praxis, wonach die Appellation (bei unentschuldigtem
Ausbleiben des Angeklagten) selbst dann ersatzlos abgeschrieben wird, wenn
der Verteidiger zur Appellationsverhandlung erscheint, hält vor Art. 32 BV
und der oben dargelegten Rechtsprechung nicht stand.

  8.1  Die prozessuale Pflicht des Angeklagten zum persönlichen Erscheinen
an der Hauptverhandlung (wie auch sein Recht auf persönliche Teilnahme) ist
ein sehr wichtiges Element des Strafverfahrens (vgl. ROBERT HAUSER/ERHARD
SCHWERI/KARL HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel
2005, § 81 Rz. 10-13). Dies gilt grundsätzlich auch für das
Appellationsverfahren. Allerdings dürfen kantonale Verfahrensvorschriften
die verfassungsmässigen Grundrechte auf Appellation und wirksame
Verteidigung nicht unterlaufen und aushöhlen. Zwar kann unentschuldigtes
Ausbleiben des Angeklagten prozessuale Konsequenzen nach sich ziehen. Zu
denken wäre namentlich an die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens, an
Kostenfolgen oder an Auswirkungen auf Fragen der Beweiswürdigung. Das
verfassungsmässige Grundrecht auf Appellation und wirksame Verteidigung wird
jedoch unterlaufen, wenn als Folge des unentschuldigten Ausbleibens des
Angeklagten die Berufung selbst dann als "zurückgezogen" abgeschrieben wird,
wenn der Verteidiger zur Berufungsverhandlung antritt und bereit

ist zu plädieren. Eine solche Konsequenz erscheint nach der dargelegten
Rechtslage unverhältnismässig und verfassungswidrig. Eine Verwirkung der
Appellation kann nur bei einem sogenannten "Totalversäumnis" im Sinne der
dargelegten Praxis (unentschuldigtes Ausbleiben sowohl des Angeklagten als
auch des Verteidigers) in Frage kommen.

  Schon aus diesem Grund ist die Beschwerde gutzuheissen und der
angefochtene Abschreibungsbeschluss aufzuheben.

  8.2  Von diesen grundsätzlichen Erwägungen abgesehen, erscheint das
prozessuale Vorgehen der kantonalen Justizbehörden im vorliegenden konkreten
Fall auch noch aus zusätzlichen Gründen unfair, überspitzt formalistisch und
unverhältnismässig. Nach Treu und Glauben (Art. 9 BV) kann hier nicht von
einem (konkludenten) "Verzicht" auf die ausdrücklich erklärte Appellation
ausgegangen werden. Mit einem Verzicht auf persönliche Anwesenheit an der
Berufungsverhandlung nimmt der Appellant zwar freiwillig eine gewisse
Schwächung seiner prozessualen Stellung und seiner
Verteidigungsmöglichkeiten in Kauf. Damit verzichtet er jedoch nicht
vollständig auf das Rechtsmittel der Appellation bzw. auf jegliche
Verteidigung (vgl. BGE 131 I 185 E. 3.2.3 S. 191 f.; 127 I 213 E. 4 S. 217
f.). Hier kommt noch hinzu, dass ein gesetzlicher Fall der notwendigen
Verteidigung vorliegt und der Angeklagte erstinstanzlich zu einer Strafe von
viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Ausserdem war der
Beschwerdeführer zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung persönlich
erschienen.