Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 IV 329



Urteilskopf

133 IV 329

  48. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
  6B_170/2007 vom 9. Oktober 2007

Regeste

  Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten (Art. 9 Abs. 3 BÜPF).

  Das in Art. 9 Abs. 3 BÜPF verankerte Verwertungsverbot erstreckt sich auch
auf mittelbar erlangte Beweise (Folgebeweise), wenn diese ohne den
rechtswidrig beschafften primären Beweis nicht hätten erhältlich gemacht
werden können (E. 4.5).

Sachverhalt ab Seite 329

  A.- X. verkaufte von März 2004 bis zu ihrer Verhaftung am 16. Februar 2005
A. insgesamt mindestens 500 Gramm Kokain. Bei ihrer Verhaftung war sie zudem
im Besitz von 249 Gramm Kokain mit hohem Reinheitsgrad, welches ebenfalls
zum Verkauf bestimmt war. Des Weiteren veräusserte X. im Zeitraum von Januar
bis Spätsommer 2004 an B. mindestens 21 Gramm Kokaingemisch.

  B.- Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X. zweitinstanzlich mit
Urteil vom 17. Januar 2007 der mehrfachen Widerhandlung gegen Art. 19 Ziff.
1 Abs. 4 und 5 i.V.m. Art. 19 Ziff. 2 BetmG sowie

der Widerhandlung gegen Art. 19 Ziff. 1 Abs. 4 BetmG schuldig und
verurteilte sie zu einer Freiheitsstrafe von 3 1/2 Jahren.

  C.- X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 17. Januar 2007 sei aufzuheben, und die
Sache sei im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

  Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Strafsachen ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.

  4.1  Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Erkenntnis, dass es sich bei
ihr um die Hauptlieferantin "Y." handle, basiere auf einem Zufallsfund im
Sinne von Art. 9 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 betreffend
die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF; SR 780.1). Dieser
Zufallsfund sei kausal gewesen für ihre Verhaftung und die erbrachten
Beweise. Da der Zufallsfund jedoch nie bewilligt worden sei, mithin die
Strafverfolgungsbehörden vor Einleitung weiterer Ermittlungen die Zustimmung
der Genehmigungsbehörde nicht eingeholt hätten, müssten sämtliche erhobenen
Beweismittel als unverwertbar bezeichnet werden. Die gegenteilige
Feststellung im angefochtenen Urteil verletze im Ergebnis Art. 9 Abs. 3 BÜPF
und damit Bundesrecht.

  4.2  Art. 9 BÜPF mit der Marginalie "Zufallsfunde" statuiert, dass
bezüglich Ermittlungserkenntnissen, welche Straftaten einer Person
betreffen, die in der Überwachungsanordnung keiner Straftat verdächtigt
wird, vor Einleitung weiterer Ermittlungen die Zustimmung der
Genehmigungsbehörde eingeholt werden muss (Abs. 2 Satz 1). Die Zustimmung
kann erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für eine Überwachung nach
diesem Gesetz erfüllt sind (Abs. 2 Satz 2). Sind die Voraussetzungen für die
Verwendung des Zufallsfundes nicht gegeben, so dürfen die Informationen
nicht verwendet und es müssen die betreffenden Dokumente und Datenträger
umgehend vernichtet werden (Abs. 3). Für die Fahndung nach gesuchten
Personen dürfen sämtliche Erkenntnisse einer Überwachung verwendet werden
(Abs. 4).

  4.3  Die Untersuchungsbehörden wurden auf die Beschwerdeführerin als
mögliche Drogenlieferantin von A. aufmerksam, weil dessen Telefonanschluss
rechtmässig überwacht wurde. Zuvor bestand diesbezüglich noch kein
Tatverdacht gegen die Beschwerdeführerin.

Es ist folglich von einem sog. personellen Zufallsfund im Sinne von Art. 9
Abs. 2 BÜPF auszugehen (THOMAS HANSJAKOB, Kommentar zum Bundesgesetz und zur
Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, 2. Aufl.,
St. Gallen 2006, Art. 9 BÜPF N. 27 ff.). Eine Auswertung der Erkenntnisse
aus der Telefonüberwachung zu blossen Fahndungszwecken im Sinne von Art. 9
Abs. 4 BÜPF liegt nicht vor, denn die Beschwerdeführerin wurde nicht bzw.
jedenfalls nicht primär zwecks Verhaftung verfolgt, sondern observiert, um
sie des Drogenhandels zu überführen. Von Seiten der Untersuchungsbehörde
wurde bei der Anklagekammer nie um eine Genehmigung im Sinne von Art. 9 Abs.
3 BÜPF ersucht. Aus dem Wortlaut der Art. 9 Abs. 2 und 3 BÜPF ergibt sich
zudem, dass der Gesetzgeber ein nachträgliches Genehmigungsverfahren
ausschliessen wollte.

  Im Ergebnis liegt damit die erforderliche Genehmigung bezüglich des die
Beschwerdeführerin betreffenden Zufallsfundes nicht vor.

  4.4  Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dürfen in Fällen schwerer
Kriminalität unter Umständen selbst nicht gesetzeskonform erlangte Beweise
ausnahmsweise verwertet werden, sofern das Beweismittel an sich zulässig und
auf gesetzmässigem Weg erreichbar, mithin nicht verboten gewesen wäre.
Vorzunehmen ist insoweit eine Güterabwägung zwischen dem öffentlichen
Interesse an der Wahrheitsfindung und dem privaten Interesse der angeklagten
Person, dass der fragliche Beweis unterbleibt (BGE 131 I 272 E. 4.1 mit
weiteren Hinweisen).

  Für eine solche Interessenabwägung besteht jedoch kein Raum, wenn das
Gesetz explizit von der Unverwertbarkeit der Beweismittel ausgeht. Dies ist
vorliegend der Fall: Der Art. 9 Abs. 3 BÜPF bestimmt, dass die Informationen
nicht verwendet werden dürfen und die betreffenden Dokumente und Datenträger
umgehend vernichtet werden müssen. Von der Unverwertbarkeit solcher
rechtswidrig erlangter primärer Beweismittel geht auch die herrschende Lehre
aus (NIKLAUS SCHMID, Verwertung von Zufallsfunden und Verwertungsverbote
nach dem neuen Bundesgesetz über die Überwachung des Post- und
Fernmeldeverkehrs [BÜPF], ZStrR 120/2002 S. 312 f.; HANSJAKOB, a.a.O., Art.
9 BÜPF N. 48 ff.; NIKLAUS RUCKSTUHL, Rechtswidrige Beweise erlaubt, in:
Forum Strafverteidigung, Beweismangel und Verwertungsverbot, Plädoyer,
Beilage Dezember 2006, S. 20 ff.).

  Folglich ist es vorliegend unzulässig, auch nur teilweise auf die
Protokolle aus der Telefonüberwachung abzustellen.

  4.5  Nicht geklärt ist damit jedoch, ob ein solches
Beweisverwertungsverbot so genannte Fernwirkung erzielt. Es fragt sich
mithin, ob das Verwertungsverbot einzig für die rechtswidrig beschafften
primären Beweismittel gilt oder ob es sich auch auf alle weiteren
Beweismittel erstreckt, welche gestützt auf die illegalen Primärbeweismittel
erhoben wurden, so dass im Ergebnis sämtliche an sich legal beschafften
Folgebeweise weder direkt noch indirekt verwertbar wären (vgl. RUCKSTUHL,
a.a.O., S. 22).
  Art. 9 Abs. 3 BÜPF spricht zwar ausdrücklich von der Unverwertbarkeit der
Informationen, äussert sich jedoch nicht näher zur Reichweite dieses Verbots
und lässt damit die Frage der Fernwirkung unbeantwortet.

  Die Lehre ist gespalten (vgl. hierzu NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des
Strafprozessrechts, 2. Aufl., Bern 2005, S. 352 ff.). Während verschiedene
Autoren für eine Fernwirkung des Verwertungsverbots eintreten (HANSJAKOB,
a.a.O., Art. 9 BÜPF N. 53 ff.; MARC JEAN-RICHARD-DIT-BRESSEL, Ist ein
Millionendiebstahl ein Bagatelldelikt - Fragen zum BÜPF, ZStrR 119/2001 S.
56 f.), wenden sich andere gegen eine solche umfassende Unverwertbarkeit von
Folgebeweisen. So ist nach SCHMID einzig von der Unverwertbarkeit
auszugehen, "wo der ursprüngliche, ungültige Beweis Bestandteil sine qua non
des mittelbar erlangten Beweises ist" (NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 4.
Aufl., Zürich/Basel/Genf 2004, N. 610; vgl. auch derselbe, Verwertung von
Zufallsfunden und Verwertungsverbote nach dem neuen Bundesgesetz über die
Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs [BÜPF], ZStrR 120/2002 S. 309
ff.). Nach FORNITO erstreckt sich das Verwertungsverbot auch auf mittelbar
erlangte Beweise, sofern das rechtswidrig erlangte Beweismittel die Erhebung
weiterer Beweise erheblich begünstigt hat. Dabei schränke die Fernwirkung
der Verwertungsverbote den Untersuchungsgrundsatz hinsichtlich weiterer
Ermittlungen nicht ein (ROBERTO FORNITO, Beweisverbote im schweizerischen
Strafprozess, Diss. St. Gallen 2000, S. 321 ff.). BÉNÉDICT macht sich
bezüglich mittelbar erlangter Beweismittel für eine Interessenabwägung stark
(JÉRÔME BÉNÉDICT, Le sort des preuves illégales dans le procès pénal, Diss.
Lausanne 1994, S. 247 ff.). WALDER schliesslich bejaht eine Fernwirkung,
solange keine vollendete Tatsache ("fait accompli")

geschaffen worden ist (HANS WALDER, Rechtswidrig erlangte Beweismittel im
Strafprozess, ZStrR 82/1966 S. 47).

  Das Bundesgericht hat es bislang ausdrücklich offengelassen, ob sich das
in Art. 9 Abs. 3 BÜPF verankerte Verwertungsverbot auch auf mittelbar
erlangte Beweise erstreckt (BGE 132 IV 70 E. 6.5; vgl. allerdings BGE 109 Ia
244 E. 2b, in welchem eine strikte Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten
tendenziell abgelehnt wird).

  Während für eine Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten spricht, dass
andernfalls die Regeln über die Beweiserhebung unterminiert würden, können
indirekte Beweisverbote auf der anderen Seite der Ermittlung der materiellen
Wahrheit hinderlich sein (Botschaft zur Vereinheitlichung des
Strafprozessrechts, BBl 2006 S. 1184; ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI/KARL
HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, § 60 N.
16 ff.). Durch die namentlich von SCHMID propagierte Lösung wird ein
angemessener Ausgleich zwischen diesen divergierenden Interessen erzielt.
Ohne die Beweisverwertungsverbote ihres wesentlichen Inhalts zu entleeren,
kann so verhindert werden, dass es im Ergebnis zu stossenden Freisprüchen
offenkundig schuldiger Personen kommt.

  4.6  Die Beschwerdeführerin hat ein weitreichendes Geständnis abgelegt,
ohne dass ihr gegenüber erwähnt worden wäre, sie werde aufgrund der
Telefonkontrolle des Drogenhandels verdächtigt, und ohne dass ihr konkrete
Gesprächsinhalte aus der Telefonüberwachung vorgehalten worden wären.

  Dieses Beweismittel, d.h. ihr Geständnis, wäre mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit auch ohne die in Bezug auf die
Beschwerdeführerin unrechtmässig erfolgte Telefonüberwachung erlangt worden.
Wie die Vorinstanz zutreffend erörtert, kann es als sicher angesehen werden,
dass sie von der Polizei beim Ein- und Aussteigen ins Auto von A. auch
beobachtet worden wäre, wenn man damals einzig ihn wegen des aus der
ordnungsgemäss bewilligten Telefonkontrolle stammenden Verdachts auf
Drogenhandel observiert hätte. Dieser von der Polizei wahrgenommene Kontakt
zwischen dem mutmasslichen Drogenhändler A. und der Beschwerdeführerin hätte
aufgrund der konkreten Umstände zweifelsohne den Verdacht aufkommen lassen,
sie sei in den Drogenhandel verwickelt. Folglich wäre die Polizei ihr
höchstwahrscheinlich zwecks Verhaftung gefolgt und dabei auf die Drogen
gestossen. Sie wäre

damit auch in diesem Fall verhaftet und mit den belastenden Aussagen von A.
konfrontiert worden. Dessen Aussagen, aufgrund welcher sich die
Beschwerdeführerin zum Ablegen eines Geständnisses entschlossen haben
dürfte, sind unbestrittenermassen verwertbar, da diesem gegenüber das Wissen
aus der genehmigten Telefonkontrolle verwendet werden durfte.

  4.7  Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist damit nicht von
der Unverwertbarkeit sämtlicher Beweismittel auszugehen. Der Schuldspruch
wegen mehrfacher Widerhandlung gegen Art. 19 Ziff. 1 Abs. 4 und 5 i.V.m.
Art. 19 Ziff. 2 BetmG verletzt kein Bundesrecht.