Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 IV 145



Urteilskopf

133 IV 145

  24. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft sowie Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt
(Staatsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde)
  6P.36/2007 / 6S.79/2007 vom 30. Mai 2007

Regeste

  Art. 20 StGB (Art. 13 aStGB); Einholung eines psychiatrischen Gutachtens.

  Posttraumatische Belastungs- und Anpassungsstörungen gehen nur selten mit
Straftaten einher. Es ist kaum denkbar, dass sie zur Aufhebung der
Einsichtsfähigkeit führen (E. 3.5). Die Diagnose derartiger Störungen wie
auch der Umstand, dass dem Beschwerdeführer eine volle Invalidenrente
zugesprochen worden ist, vermögen keine ernsthaften Zweifel an der
Schuldfähigkeit zu begründen (E. 3.6).

Sachverhalt ab Seite 145

  A.- Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt sprach X., der als
Geschäftsinhaber eines Trödelmarkts in Basel in der Zeitspanne von November
2002 bis August 2004 mehrfach Waren von verschiedenen Personen zwecks
Weiterverkaufs erworben hatte, am

15. Dezember 2006 in weitgehender Bestätigung des Urteils des Strafgerichts
Basel-Stadt vom 27. September 2005 der mehrfachen Hehlerei (Art. 160 Ziff. 1
Abs. 1 StGB) schuldig und verurteilte ihn zu fünf Monaten Gefängnis,
teilweise als Zusatzstrafe zu einem Urteil des Appellationsgerichts
Basel-Stadt vom 10. September 2003. In der Urteilsbegründung führte das
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt aus, X. habe aufgrund der
gesamten Erwerbsumstände wissen oder zumindest annehmen müssen, dass die
Waren durch strafbare Handlungen gegen das Vermögen erlangt worden waren.

  B.- X. erhebt sowohl staatsrechtliche Beschwerde als auch eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde je mit dem Antrag, das Urteil des
Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 15. Dezember 2006 sei
aufzuheben. Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt er des
Weiteren die Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz.
Diese sei anzuweisen, ein psychiatrisches Gutachten betreffend seiner
Zurechnungsfähigkeit einzuholen. Ferner ersucht er für beide Verfahren um
Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  II. Nichtigkeitsbeschwerde

  3.

  3.1  Mit Nichtigkeitsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung
von Art. 13 Abs. 1 aStGB, da die Vorinstanz, obwohl sie aufgrund der
Umstände an seiner Zurechnungsfähigkeit hätte zweifeln müssen, auf die
Anordnung eines psychiatrischen Gutachtens verzichtet habe.

  Zur Begründung führt der Beschwerdeführer aus, er habe am 13. Mai 1992
durch einen Sturz auf seinen Hinterkopf ein Schädelhirntrauma erlitten.
Seither leide er unter einer schweren posttraumatischen Anpassungs- bzw.
Belastungsstörung und sei deshalb zu 100 % arbeitsunfähig. Die
eidgenössische Invalidenversicherung habe ihm denn auch am 8. November 1995
mit Wirkung ab 1. Juli 1993 eine volle Invalidenrente zugesprochen. Aufgrund
der medizinischen Berichte des Psychotherapeuten B., der Ärzte Dr. C. und
Dr. D. des Kantonsspitals Basel sowie von Dr. med. A. dränge sich vorliegend
die gutachterliche Abklärung seiner Schuldfähigkeit virulent auf.

  3.2  Die Vorinstanz erwägt, es gebe zweifellos noch andere Straftäter, die
in ihrem Lebenslauf einen Unfall oder traumatische Erlebnisse

hatten, ohne dass damit ihre Fähigkeit, das Unrecht begangener Straftaten zu
erkennen, Schaden genommen habe. Beim Beschwerdeführer wiesen weder die
Taten als solche noch die Art der Ausführung Auffälligkeiten auf, welche
Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit begründeten. Bei dieser Sachlage
könne dementsprechend von der Einholung eines psychiatrischen Gutachten
abgesehen werden.

  3.3  Nach Art. 13 Abs. 1 aStGB ist eine Untersuchung des Beschuldigten
anzuordnen, wenn Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit bestehen. Der
Richter soll seine Zweifel nicht selber beseitigen, etwa indem er
psychiatrische Fachliteratur beizieht. Vielmehr ergibt sich aus Art. 13 Abs.
2 aStGB, dass er bei Zweifeln einen Sachverständigen beiziehen muss. Art. 13
aStGB gilt nicht nur, wenn der Richter tatsächlich Zweifel an der
Zurechnungsfähigkeit hat, sondern auch, wenn er nach den Umständen des Falls
ernsthafte Zweifel haben sollte (BGE 132 IV 29 E. 5.1; 119 IV 120 E. 2a; 116
IV 273 E. 4a; 106 IV 241 E. 1a mit Hinweisen). Bei der Prüfung dieser
Zweifel ist zu berücksichtigen, dass nicht jede geringfügige Herabsetzung
der Fähigkeit, sich zu beherrschen, genügt, um verminderte
Zurechnungsfähigkeit anzunehmen. Der Betroffene muss vielmehr, zumal der
Begriff des normalen Menschen nicht eng zu fassen ist, in hohem Masse in den
Bereich des Abnormen fallen. Seine Geistesverfassung muss nach Art und Grad
stark vom Durchschnitt nicht bloss der Rechts-, sondern auch der
Verbrechensgenossen abweichen (BGE 116 IV 273 E. 4b).

  Umstände, welche beim Richter ernsthafte Zweifel hervorrufen müssen, sind
nach der bundesgerichtlichen Praxis beispielsweise gegeben bei
Drogenabhängigkeit (BGE 102 IV 74 und 106 IV 241 E. 2), bei einer Frau, die
mit einer schizophrenen Tochter zusammenlebte (BGE 98 IV 156), bei einem
Sexualdelinquenten mit möglicherweise abnorm starkem Geschlechtstrieb (BGE
71 IV 190) sowie bei einem Ersttäter, bei dem der Beginn der Straffälligkeit
mit dem Ausbruch einer schweren allergischen oder psychosomatischen
Hautkrankheit zusammenfiel (BGE 118 IV 6). Die Notwendigkeit, einen
Sachverständigen zuzuziehen, ist erst gegeben, wenn Anzeichen vorliegen, die
geeignet sind, Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken,
wie etwa ein Widerspruch zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder völlig
unübliches Verhalten. Zeigt das Verhalten des Täters vor, während und nach
der Tat, dass ein Realitätsbezug erhalten war, dass er sich an wechselnde
Erfordernisse der

Situation anpassen, auf eine Gelegenheit zur Tat warten oder diese gar
konstellieren konnte, so hat eine schwere Beeinträchtigung nicht vorgelegen
(vgl. BGE 132 IV 29 E. 5.1; 116 IV 273 E. 4a mit weiteren Beispielen; siehe
zum Ganzen auch VOLKER DITTMANN, Psychotrope Substanzen, Delinquenz und
Zurechnungsfähigkeit, Schweizerische Rundschau für Medizin [PRAXIS] 85/1996
S. 109 ff.; MARC HELFENSTEIN, Der Sachverständigenbeweis im schweizerischen
Strafprozess, Diss. Zürich 1978, S. 36 ff.; PHILIPP MAIER/ARNULF MÖLLER, Das
gerichtspsychiatrische Gutachten gemäss Art. 13 aStGB, Zürich 1999, S. 94
ff.; FELIX BOMMER, Basler Kommentar, StGB I, Basel 2003, Art. 13 aStGB N. 7
ff.; STEFAN TRECHSEL, Kurzkommentar StGB, 2. Aufl., Zürich 1997, Art. 13
aStGB N. 2).

  3.4  Der den Beschwerdeführer behandelnde Psychologe/Psychotherapeut und
Neuropsychologe B. stellte eine posttraumatische Belastungsstörung bzw.
ängstlich-depressive Anpassungsstörung fest. Dr. C. und Dr. D. der
Neurologisch-Neurochirurgischen Poliklinik des Kantonsspitals Basel
diagnostizierten beim Beschwerdeführer (ebenfalls) namentlich eine schwere
posttraumatische Anpassungsstörung als Folge eines Schädelhirntraumas.

  3.5  Posttraumatische Belastungs- und Anpassungsstörungen sind
Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit. Gemäss der internationalen
Klassifikation der WHO handelt es sich bei der posttraumatischen
Belastungsstörung um eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein
belastendes Ereignis oder eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung oder
katastrophenartigen Ausmasses, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung
hervorrufen würde (HORST DILLING, Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, 5. Aufl., Bern 2005, S. 169). Eine solche Störung äussert sich in
den Symptomen des Wiedererlebens durch Alb- und Tagträume und kann zu
emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit führen.
Gleichzeitig ist häufig eine erhöhte Erregung festzustellen, die sich in
Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz oder
gesteigerter Schreckhaftigkeit manifestiert (ULRICH SCHNYDER,
Posttraumatische Belastungsstörungen, in: Erwin Murer, Psychische Störungen
und Sozialversicherung, Bern 2002, S. 99-116, S. 101 und 114). Als
Anpassungsstörung gelten Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler
Beeinträchtigung, welche soziale Funktionen und Leistungen behindern und
während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung,
nach einem belastenden Lebensereignis oder auch nach schwerer

körperlicher Krankheit auftreten (DILLING, a.a.O., S. 170; vgl. zum Ganzen
auch ARNOLD ERLENKÄMPER, Sozialrecht, Rechtliche Grundlagen, in: Klaus
Foerster/Ulrich Venzlaff, Psychiatrische Begutachtung, Ein praktisches
Handbuch für Ärzte und Juristen, 4. Aufl., München 2004, S. 581-641, 620;
MARTIN LEONHARDT, Psychiatrische Begutachtung bei asyl- und
ausländerrechtlichen Verfahren; in: Foerster/Venzlaff, a.a.O., S. 747-755,
750 f.).

  Solche Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen gehen nur relativ
selten mit Straftaten einher (NORBERT NEDOPIL, Forensische Psychiatrie,
Stuttgart 2000, S. 142). Dass sie zur Aufhebung der Einsichtsfähigkeit
führen, ist kaum denkbar; in seltenen Fällen sind sie unter Umständen jedoch
derart ausgeprägt, dass die Steuerungsfähigkeit aufgehoben sein kann
(NEDOPIL, a.a.O., S. 144).

  3.6  Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, begründet die
diagnostizierte posttraumatische Belastungs- bzw. Anpassungsstörung keine
ernsthaften Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers. Ein
Widerspruch zwischen seinen Taten, welche alle in Zusammenhang mit dem von
ihm betriebenen Trödelladen stehen, und seiner Persönlichkeit besteht nicht.
Der Beschwerdeführer hat den Laden, wenn auch mit Hilfe seiner Angehörigen,
zielgerichtet und profitorientiert geführt. Des Weiteren hat er sich trotz
seiner angeblichen Vergesslichkeit noch Monate nach der Abwicklung gewisser
Geschäfte an deren Einzelheiten erinnern können. Sein Verhalten vor, während
und nach den Taten, die er im Übrigen keineswegs im Affekt begangen hat,
zeigt seinen Realitätsbezug, wirkt überlegt und macht deutlich, dass er sehr
wohl die Fähigkeit besitzt, sich an Situationen anzupassen und auf die
richtigen Gelegenheiten zur Tatausführung zu warten. Die Vorinstanz hat mit
anderen Worten zu Recht geschlossen, dass weder die Taten als solche noch
die Art und Weise der Ausführung Auffälligkeiten aufwiesen. Es fehlen somit
konkrete Anhaltspunkte für eine Herabsetzung der Einsichts- oder der
Steuerungsfähigkeit des Beschwerdeführers. Der Umstand, dass dem
Beschwerdeführer eine volle IV-Rente zugesprochen wurde, genügt für sich
alleine nicht, um solche ernsthaften Zweifel an einer strafrechtlich
relevanten Beeinträchtigung der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken.

  Es ist damit bundesrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz auf
den Beizug eines Sachverständigen verzichtet hat. Die Nichtigkeitsbeschwerde
erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen.