Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 556



Urteilskopf

133 III 556

  72. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Y. (Berufung)
  5C.41/2007 vom 14. Juni 2007

Regeste

  Haftung des Familienhauptes (Art. 333 ZGB).

  Voraussetzungen der Haftung (E. 4). Schlittelnde Kinder als Anwendungsfall
(E. 5).

Sachverhalt ab Seite 556

  Der Beklagte ging mit seinen beiden Kindern an einem flachen Hang von rund
hundert Metern Länge und Breite schlitteln. Die Schlittelpiste wird jeweils
bei Neuschnee durch einen Motorschlitten mit Rolle präpariert. Am fraglichen
Tag war der Schnee hart gedrückt, die Schlittelpiste aber nicht vereist. Es
schlittelten rund zwanzig Kinder im durchschnittlichen Alter von drei bis
sechs Jahren.

  Nachdem die Kinder ungefähr eine Viertelstunde geschlittelt hatten, fuhren
sie, gemeinsam auf einem Plastikbob sitzend, in die Klägerin, die sich zu
Fuss auf ungefähr der halben Höhe der Piste befand und hangabwärts ihren
Enkelkindern zuwinkte, weshalb sie den Bob nicht kommen sah. Infolge des
Zusammenstosses stürzte die Klägerin und erlitt Frakturen im
Schulterbereich.

  Das Zivilgericht des Sensebezirks wie auch das Kantonsgericht Freiburg
verneinten die Haftung des Vaters als Familienhaupt im Sinn von Art. 333
ZGB. Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene Berufung der Klägerin ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Verursacht ein unmündiger oder entmündigter, ein geistesschwacher oder
geisteskranker Hausgenosse einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür
haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch
die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet
hat (Art. 333 Abs. 1 ZGB).

  Damit wird eine Kausalhaftung statuiert (BGE 103 II 24 E. 3 S. 26 f.),
freilich eine milde, d.h. eine solche mit Entlastungsbeweis. Während die
Rechtsprechung an diesen bei der Geschäftsherrenhaftung

(Art. 55 OR) und bei der Tierhalterhaftung (Art. 56 OR) einen strengen
Massstab anlegt - das Gesetz verlangt die Anwendung aller nach den Umständen
gebotenen Sorgfalt -, wird vom Familienhaupt gefordert, dass es das übliche
und durch die Umstände gebotene Mass an Sorgfalt walten lässt. In der
Literatur wird sodann zu Recht darauf hingewiesen, dass keine übertriebenen
Anforderungen an den Entlastungsbeweis gestellt werden dürfen, soweit es
sich um Kinder und nicht um Geisteskranke oder Geistesschwache handelt
(OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Besonderer Teil, Bd.
II/1, 4. Aufl., Zürich 1987, S. 450 m.w.H.). Diese Differenzierung
widerspiegelt sich denn auch im Wortlaut und in der Systematik des Gesetzes.
So enthält Art. 333 Abs. 2 ZGB spezielle und strengere Vorschriften
betreffend Geisteskranke und Geistesschwache, während mit Bezug auf Kinder
nur die allgemeine Haftungsnorm von Art. 333 Abs. 1 ZGB gilt.

  Mit dem Begriff des "Üblichen" wird auf Ortsüblichkeiten (z.B. städtische,
ländliche oder alpine Verhältnisse) verwiesen, wobei allgemeine
Gepflogenheiten auch als Landesüblichkeiten anzuerkennen sind (EGGER,
Zürcher Kommentar, N. 16 zu Art. 333 ZGB). Das "Übliche" kann dann nicht als
Massstab gelten, wenn es eine Unsitte oder eigentlichen Missbrauch darstellt
(vgl. BGE 57 II 127 E. 2 S. 130; PETITJEAN, Die Haftung des Familienhauptes
gemäss Art. 333 ZGB im Wandel der Zeit, Diss. Basel 1979, S. 37 m.w.H.).
Doch bilden die Gepflogenheiten des täglichen Lebens (BGE 43 II 205 E. 4 S.
212; 52 II 325 E. 1 S. 328; 57 II 127 E. 3 S. 133) Richtschnur bei der
Objektivierung der verlangten Sorgfalt. Der Begriff der "Umstände" verweist
sodann auf die Umstände des Einzelfalls. Zu berücksichtigen sind nebst den
örtlichen, sozialen und persönlichen Verhältnissen namentlich das Alter, der
Charakter und die geistige Reife sowie besondere Neigungen, Gewohnheiten und
Veranlagungen des aufsichtsbedürftigen Hausgenossen (vgl. BGE 100 II 298 E.
3a S. 301; REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2003,
N. 1155).

  Für Kinder im Speziellen gilt, dass die Beaufsichtigung umso intensiver
sein muss, je jünger und unerfahrener das Kind ist (OFTINGER/STARK, a.a.O.,
S. 456). Selbst bei kleineren Kindern ist aber eine permanente Überwachung
naturgemäss nicht möglich, gerade wenn es mehrere sind. Ferner gilt es zu
berücksichtigen, dass Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit nicht allzu sehr
gehemmt werden dürfen (BGE 95 II 255 E. 4 S. 259 unten). Sie können etwa
alleine auf den Schulweg

gelassen werden (BGE 89 II 56 E. 2b S. 61) und je nach Alter dürfen sie
beispielsweise alleine spielen, Besorgungen machen oder normalen sportlichen
Betätigungen nachgehen (vgl. OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 453).

  Die Beaufsichtigungspflicht erschöpft sich nicht in der eigentlichen
Überwachung; vielmehr sind auch alle geeigneten Massnahmen zu ergreifen, um
Minderjährige an vorhersehbarer Schadenszufügung zu hindern. So hat das
Familienhaupt mit Bezug auf gefährliche Handlungen Ermahnungs-,
Instruktions- und gegebenenfalls Verbotspflichten; dies betrifft
insbesondere den Umgang mit Waffen, die je nachdem auch einzuschliessen sind
(vgl. BGE 100 II 298 E. 3a S. 301; OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 457).

Erwägung 5

  5.  Zum Unfallzeitpunkt waren die beiden Kinder 2 3/4- und 4 1/2-jährig.
In diesem Alter unter Aufsicht zu schlitteln, kann aufgrund der allgemeinen
Lebenserfahrung als üblich betrachtet werden; nach der Zeugenaussage T.
waren denn auch die meisten Kinder am Schlittelhang in einem ähnlichen
Alter. Es ist aber auch objektiv eine altersgerechte Betätigung.
Vergleichsweise beginnen Kinder ab ungefähr drei Jahren, mit dem Dreirad
bzw. dem Velo mit Stützrädern zu fahren, und lernt ein Teil der Kinder auch
bereits mit drei Jahren Ski fahren. War aber die zur Diskussion stehende
Betätigung der Kinder unter dem Aspekt von Art. 333 ZGB grundsätzlich
zulässig, haftet der Beklagte nur dann, wenn er bei der Beaufsichtigung
nicht das übliche und durch die Umstände gebotene Mass an Sorgfalt
beobachtet hat. Dies ist im Folgenden zu prüfen.

  5.1  Kein Vorwurf lässt sich dem Beklagten aufgrund des Umstandes machen,
dass er die Kinder auf dem gleichen Gefährt schlitteln liess. Nach den
Feststellungen im angefochtenen Urteil sass der ältere Knabe vorne und war
für das Lenken des Bobs verantwortlich, während das kleinere Mädchen hinter
ihm sass und sich an seinem Rücken festhielt. Mit 4 1/2 Jahren stand R. vor
der Kindergartenreife und dürfte beispielsweise - jedenfalls in ländlichen
Gegenden - alleine auf den Weg zum Kindergarten geschickt werden. Vor diesem
Hintergrund ist nicht zu sehen, inwiefern sich die knapp dreijährige
Schwester nicht hinter ihm auf den gleichen Bob hätte setzen dürfen. Es ist
durchaus "üblich" im wohlverstandenen Sinn des Wortes, d.h. ohne dass dies
einen Missbrauch darstellen würde, wenn ein kleineres Geschwister zu einem
grösseren auf den Bob oder Schlitten gesetzt wird.

  Im Übrigen ist nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen
Lebenserfahrung davon auszugehen, dass die Doppelbesetzung des Bobs nicht
unfallkausal war und somit für die Haftungsfrage irrelevant ist
(OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 456). Möglicherweise hat das infolge der
Doppelbesetzung grössere Gewicht zu einer leicht erhöhten Geschwindigkeit
des Bobs geführt; eine solche hätte sich aber auch ergeben, wenn ein etwas
älteres oder schwereres Kind alleine darauf gesessen hätte. Im Übrigen hätte
sich der Unfall ebenso gut ereignen können, wenn nur ein Kind auf dem Bob
gesessen hätte. Schlitten und Bobs können selbst für Erwachsene, die darin
nicht geübt sind, relativ schwierig zu lenken sein. Kleine Kinder dürften
über solche Gefährte fast überhaupt keine Herrschaft haben und ihre Fahrt
ist deshalb von vornherein mit grossen Ungewissheiten verbunden, wie das
Kantonsgericht treffend bemerkt hat. Daraus folgt aber nicht, dass man
kleine Kinder nicht schlitteln lassen darf. Im Bewusstsein dieser
Besonderheiten werden jedoch die Verantwortlichen nicht nur im Interesse
Dritter, sondern vor allem auch in demjenigen der Kinder selber darauf
achten, dass diese beispielsweise weder in steilem oder mit Hindernissen
durchsetztem Gelände noch auf belebten Strassen oder Skipisten schlitteln.

  Wesentlich zum Unfall mit beigetragen haben dürfte der
Überraschungseffekt: Die Klägerin blickte im kritischen Zeitpunkt
hangabwärts, so dass sie den unvermittelt herannahenden Bob gemäss ihren
eigenen Aussagen erst in letzter Sekunde wahrnahm, als sie sich wieder
umdrehte und es zu spät war, um zu reagieren. Bei einer dergestalt
unerwarteten Kollision in einem Schneehang braucht es weder viel Masse noch
eine besonders grosse Auffahrgeschwindigkeit, um bei einem Aufprall das
Gleichgewicht zu verlieren und unglücklich hinzufallen. Die Verletzungen der
Klägerin befinden sich denn auch nicht im Bereich des Unterschenkels,
sondern an den Schultern, wo sie nicht als direkte Folge des Aufpralls des
Schlittens haben erfolgen können, sondern aufgrund des Sturzes auf den
Boden. Sollte die Haftung des Familienhauptes grundsätzlich bejaht werden,
würde sich deshalb die Frage eines Mitverschuldens der Klägerin stellen.
Inmitten eines Schlittelhangs, auf dem sich ungefähr zwanzig Kinder tummeln
in einem Alter, wo von ihnen naturgemäss nicht erwartet werden kann, dass
sie ihr Gefährt umfassend beherrschen, muss jederzeit mit einem unvermittelt
herannahenden Schlitten gerechnet werden. Selbst für eine am Rand der
Schlittelpiste stehende Person war es mit Blick auf die Unbedarftheit der
zahlreichen

jungen Lenker unvorsichtig, diese auch nur vorübergehend aus den Augen zu
lassen und sich so der Möglichkeit zu begeben, rechtzeitig reagieren bzw.
ausweichen zu können. Es liesse sich daher mit Fug fragen, ob in einer
solchen Situation nicht auf eigene Gefahr handelt (sog. acceptation du
risque, vgl. OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 78 m.w.H.), wer sich in diesem
Wissen in einen Schlittelhang begibt.

  5.2  Weiter ist zu prüfen, ob der Beklagte damit, dass er unten an der
Schlittelpiste wartete und die Kinder jeweils dort in Empfang nahm, alles
gemacht hat, was in der betreffenden Situation bei Kindern im fraglichen
Alter üblich und durch die Umstände geboten ist. Die Frage ist dann zu
bejahen, wenn vom Beklagten vernünftigerweise keine weitergehenden
Sicherheitsvorkehrungen erwartet werden konnten.

  Die Klägerin macht in diesem Zusammenhang geltend, der Beklagte hätte
nicht einfach unten am Hang warten dürfen, sondern er hätte die Kinder
begleiten müssen. Ihre Ausführungen laufen darauf hinaus, dass der Beklagte
neben dem Schlitten hätte herlaufen müssen, um augenblicklich eingreifen zu
können, sollte dieser von der Bahn abzukommen drohen. Eine solche Forderung
ist schon deshalb unrealistisch, weil sie voraussetzen würde, dass die
Gefährte nicht schneller gleiten könnten, als die Begleitperson zu laufen
vermöchte. Hinzu kommt, dass am betreffenden Tag auf der fraglichen Piste
nach den Feststellungen im angefochtenen Entscheid ungefähr zwanzig Kinder
schlittelten, darunter solche in ähnlichem Alter wie die Kinder des
Beklagten. Der von der Klägerin geforderte Sorgfaltsstandard würde bedeuten,
dass nicht nur der Beklagte, sondern eine ganze Anzahl von Aufsichtspersonen
jeweils neben den schlittelnden Kindern hätten herlaufen müssen. Wäre die
Beaufsichtigung auf diese Weise vorzunehmen, schlösse dies insbesondere aus,
dass ein Elternteil mit mehreren Kindern schlitteln gehen könnte, wäre er
doch nicht in der Lage, gleichzeitig neben mehreren Schlitten herzulaufen.
Solche Anforderungen an die Beaufsichtigung zu stellen, ist lebensfremd. Es
kann dem Beklagten nicht zum Vorwurf gereichen, am unteren Ende der
Schlittelpiste seine Kinder beobachtet zu haben.

  Kinder sollen im Übrigen grundsätzlich Kind sein dürfen; sie müssen ihren
natürlichen Bewegungs- und Spieldrang ausleben und sich motorisch entwickeln
können. Zu einer erfolgreichen physischen

und psychischen Entwicklung des Kindes gehört, dass es aus Missgeschicken
lernt, indem es beispielsweise hinfällt, zuerst bei Steh- und Gehversuchen,
später beim Rad fahren, oder indem es eben beim Schlitteln hin und wieder
umkippt oder mit anderen Kindern zusammenstösst. Solche Ereignisse sind nach
der allgemeinen Erfahrung unvermeidbar, ja gehören geradezu zum Lernprozess
und sind hinzunehmen. Die erfolgreiche sensorische und motorische
Entwicklung der Kinder darf nicht dadurch vereitelt werden, dass an den
Sorgfaltsmassstab des Familienhauptes Anforderungen gestellt werden, die mit
dem "Üblichen" und dem "nach den Umständen Gebotenen" nichts mehr zu tun
haben; die Anforderungen, welche an die Überwachung zu stellen sind, müssen
mit der Wirklichkeit vereinbar sein.

  5.3  Unter Hinweis auf die Zeugenaussagen stellte das Kantonsgericht fest,
dass der in Frage stehende Schlittelhang lediglich ein schwaches Gefälle
aufweise und es sich nicht um einen steilen Hang handle. Das Kantonsgericht
spricht von einem "Tummelplatz und Schlittelhang" mit genügendem Auslauf. Es
stellte im Weiteren fest, dass der Hang zum fraglichen Zeitpunkt zwar hart
gedrückt, aber nicht vereist war. Bei dieser Sachlage ist die Würdigung des
Kantonsgerichts, dass es sich um eine für das Schlitteln geeignete
Örtlichkeit handle, ohne weiteres nachvollziehbar. Der Beklagte hat sich zu
keinem Zeitpunkt von den Kindern entfernt, sondern unten am Hang gewartet
und sie dort in Empfang genommen. Er hat damit zwar in Kauf genommen, dass
seine Kinder beispielsweise ab und zu vom Schlitten kippen oder auch einmal
mit anderen schlittelnden Kindern zusammenstossen. Mit solchen Ereignissen
ist aber, wie bereits gesagt, an sich jederzeit zu rechnen und sie sind im
Interesse einer erfolgreichen kindlichen Entwicklung hinzunehmen, ja
geradezu erforderlich, und sie laufen in aller Regel auch harmlos ab. Der
Beklagte musste nicht damit rechnen, dass sich die Klägerin durch ihr
Verhalten in die heikle Lage versetzen würde, auf schlecht manövrierte
Schlitten nicht reagieren zu können.

  Vor diesem Hintergrund hat sich der Beklagte nicht nur so verhalten, wie
sich alle Eltern in einer vergleichbaren Situation verhalten würden, sondern
er hat auch alles getan, was im wohlverstandenen (d.h. nicht abusiven) Sinn
üblich und nach den konkreten Umständen geboten war.