Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 507



Urteilskopf

133 III 507

  64. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Einwohnergemeinde Y. (Beschwerde in Zivilsachen)
  5A_56/2007 vom 6. Juni 2007

Regeste

  Verwandtenunterstützung (Art. 328 ZGB); Subrogation des Gemeinwesens in
den Anspruch (Art. 329 Abs. 3 i.V.m. Art. 289 Abs. 2 ZGB).

  Ersatz der vom Gemeinwesen bezahlten Kosten der stationären Behandlung in
der Klinik für Suchtkranke; Begriff der Notlage (E. 5.1). Beweislast (E.
5.2). Keine Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Ergänzung des
Sachverhalts und zu neuem Entscheid trotz Untersuchungsmaxime (E. 5.4).

Sachverhalt ab Seite 507

  A.- A., die leibliche Tochter von X. und M., bezieht seit dem 1. Dezember
1994 materielle Hilfe von der Einwohnergemeinde Y. Sie absolvierte vom 4.
Februar bis 24. Februar 2003 einen Drogenentzug in der Klinik für
Suchtkranke K. Anschliessend trat sie in das sozialtherapeutische
Übergangsprogramm der Klinik K. und ab dem 28. April 2003 zur Fortsetzung
einer stationären Langzeittherapie

ins Reha-Zentrum für Drogenabhängige in L. über, wo sie sich bis ca. Ende
2003 aufhielt. Während der Aufwand des Drogenentzuges bis auf einen
Selbstbehalt von 10 % von der Krankenversicherung übernommen wurde, deckte
die Einwohnergemeinde die ungedeckten Kosten der stationären Behandlung in
den Kliniken K. und L. im Umfang von Fr. 72'170.-.

  B.- Die Einwohnergemeinde Y. klagte gegen X. und M. gestützt auf Art.
328/329 ZGB auf Zahlung von Fr. 72'170.- zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 5.
Januar 2004. Das Bezirksgericht Aarau hiess die Klage gut. Das Obergericht
des Kantons Aargau gab einer Appellation der Eltern teilweise statt,
verneinte die solidarische Haftbarkeit von M. und wies die gegen sie
erhobene Klage ab; demgegenüber hiess es die Klage gegen X. gut.

  C.- X. hat gegen das obergerichtliche Urteil beim Bundesgericht Beschwerde
in Zivilsachen erhoben. Er beantragt, das Urteil des Obergerichts
aufzuheben, soweit es ihn betrifft, und die Klage abzuweisen. Das
Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die gegen X. erhobene
Klage ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Wie der Beschwerdeführer zu Recht bemerkt, entscheidet sich allein
gestützt auf Art. 328 bzw. 329 ZGB, ob ein Anspruch auf
Verwandtenunterstützung und ein allfälliger Rückerstattungsanspruch der
Beschwerdegegnerin besteht, welche Leistungen an die Therapie der Tochter
des Beschwerdeführers erbracht hat. Dabei kann es entgegen der Auffassung
der Beschwerdegegnerin nicht darauf ankommen, ob die Therapieeinrichtung im
Sinne von § 15 des Gesetzes des Kantons Aargau vom 6. März 2001 über die
öffentliche Sozialhilfe und die soziale Prävention (SPG; SAR 851.200)
bewilligt und anerkannt worden ist. Soweit das Obergericht unter Berufung
auf BGE 132 III 97 E. 2.4 davon ausgeht, dass bei der
Verwandtenunterstützung hinsichtlich der Therapiekosten auf den Bedarf
abgestellt werden dürfe, der anhand der Sozialhilfe berechnet werde, kann
ihm nicht beigepflichtet werden. Im zitierten Urteil hat das Bundesgericht
erkannt, dass sich der zu Unterstützungszahlungen gemäss Art. 328 ZGB
Verpflichtete nicht einen höheren Bedarf des Ansprechers anrechnen lassen
muss als das Gemeinwesen, und hat damit seine frühere Rechtsprechung (BGE 81
II 427) aufgegeben, wonach die Verwandtenunterstützung weiter gehe als die
Sozialhilfe (BGE 132 III

97 E. 2.4 S. 102 f.). Aus dem publizierten Entscheid ergibt sich aber nicht,
dass das Gemeinwesen die den Kriterien entsprechende und gewährte
Sozialhilfe ohne weiteres von den unterstützungspflichtigen Verwandten
erhältlich machen kann.

Erwägung 5

  5.

  5.1  Wer in günstigen Verhältnissen lebt, ist verpflichtet, Verwandte in
auf- und absteigender Linie zu unterstützen, die ohne diesen Beistand in Not
geraten würden (Art. 328 Abs. 1 ZGB). Nach der Rechtsprechung befindet sich
in einer Notlage im Sinne dieser Bestimmung, wer sich das zum
Lebensunterhalt Notwendige nicht mehr aus eigener Kraft verschaffen kann
(BGE 121 III 441 E. 3 S. 442). Der Unterstützungsanspruch geht in der Regel
auf die Verschaffung von Nahrung, Kleidung, Wohnung sowie ärztlicher
Betreuung und Heilmitteln bei Krankheit (BGE 106 II 287 E. 3a S. 292; 132
III 97 E. 2.2 S. 100), aber auch auf Beschaffung der Mittel, welche zur
Deckung der Kosten des Aufenthalts und der Behandlung Suchtabhängiger in
einer Anstalt nötig sind (JUDITH WIDMER, Verhältnis der
Verwandtenunterstützungspflicht zur Sozialhilfe in Theorie und Praxis,
Zürich 2001, S. 49). Im Lichte der aufgezeigten Grundsätze kann keine
Unterstützung verlangen, wem ausreichende Sozialversicherungsleistungen
zustehen (HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, 5. Aufl. 1999, Rz. 29.09, S.
241), liegt doch diesfalls keine Notlage vor.

  Mit Bezug auf die Kosten des Aufenthalts und der Behandlung
Suchtabhängiger ist für die Beantwortung der Frage, ob eine Notlage
vorliegt, nicht massgebend, ob die für die Behandlung der Betroffenen
gewählte Einrichtung der kantonalen Sozialhilfegesetzgebung entspricht;
nicht von Bedeutung ist ferner, dass das nunmehr gegen die
unterstützungspflichtigen Verwandten klagende Gemeinwesen gestützt auf die
kantonale Sozialhilfegesetzgebung die Behandlungskosten eines nach Art. 328
ZGB Unterstützungsberechtigten getragen hat. Eine Notlage im Sinne des
Gesetzes liegt vor, wenn kein dem Behandlungsbedürfnis des Suchtkranken
entsprechendes und anerkanntes Angebot an Behandlungsanstalten besteht,
dessen Kosten vom obligatorischen Krankenversicherer getragen werden; ebenso
dürfte sie zu bejahen sein, wenn zwar eine solche Einrichtung besteht, die
entsprechenden Kosten aber vom obligatorischen Krankenversicherer - etwa
aufgrund eines Selbstbehalts des Versicherten - nicht voll übernommen
werden.

  5.2  Die Beweislast dafür, dass eine Notlage vorliegt, die einen Anspruch
aus Art. 328 ZGB begründet, obliegt dem Ansprecher (BGE 60 II 266 E. 4 S.
268; KUMMER, Berner Kommentar, N. 148 zu Art. 8 ZGB; KOLLER, Basler
Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 3. Aufl. 2006, N. 13 zu Art. 328/329 ZGB;
ALBERT BANZER, Die Verwandtenunterstützungspflicht nach Art. 328/329 ZGB,
Diss. Zürich 1979, S. 196; WIDMER, a.a.O., S. 54). Klagt das Gemeinwesen,
welches aufgrund erbrachter Leistungen kraft gesetzlicher Subrogation in die
Rechte des Ansprechers eingetreten ist (Art. 329 Abs. 3 i.V.m. Art. 289 Abs.
2 ZGB), obliegt ihm der Beweis der Notlage (vgl. KOLLER, a.a.O., N. 20 zu
Art. 328/329 ZGB).

  5.3  Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze oblag der
Beschwerdegegnerin als Gemeinwesen, welches aufgrund erbrachter Leistungen
in die Rechtsstellung der Tochter des Beschwerdeführers eingetreten ist, der
Beweis dafür, dass die obligatorische Krankenversicherung der Tochter für
die Langzeitbehandlung nicht oder nicht voll aufkommt bzw. dass die
angebotene Leistung der Versicherung dem Behandlungsbedürfnis der
suchtkranken Tochter nicht entspricht.

  Im kantonalen Appellationsverfahren hatten die appellierenden Eltern
gerügt, die Beschwerdegegnerin habe weder behauptet noch bewiesen, dass ihre
Tochter in eine von der Krankenkasse nicht anerkannte Institution habe
eintreten müssen, so dass die Beschwerdegegnerin den Nachweis der Notlage
schuldig geblieben sei. Das Obergericht hat nicht abgeklärt, ob überhaupt
Krankenkasseneinrichtungen für die Langzeittherapie von Suchtkranken
bestehen, die den Bedürfnissen der Drogenkranken entsprechen und deren
Kosten vom Krankenversicherer der Tochter des Beschwerdeführers übernommen
werden; die Beschwerdegegnerin hat ihrerseits in diesem Zusammenhang keine
Tatsachen vorgebracht und auch keine Beweise angetragen. Indem das
Obergericht der Beschwerdegegnerin ohne weiteres den Ersatz des geleisteten
Betrages der von der Krankenversicherung nicht übernommenen Behandlungs- und
Therapiekosten zugesprochen hat, verletzte es sowohl Art. 8 ZGB als auch die
Bestimmung über die Verwandtenunterstützung (Art. 328 ZGB). Das angefochtene
Urteil ist somit aufzuheben, soweit es die Parteien des vorliegenden
Beschwerdeverfahrens betrifft.

  5.4  Indes erübrigt es sich, die Sache zu neuem Entscheid an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Zwar wird das die Verwandtenunterstützung

betreffende kantonale Verfahren laut den obergerichtlichen Ausführungen von
der Untersuchungsmaxime beherrscht, die grundsätzlich auch im
Appellationsverfahren kein Novenverbot kennt (BÜHLER/EDELMANN/KILLER,
Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 1998, N. 7 zu § 321
ZPO). Aber auch die Untersuchungsmaxime entbindet die Parteien nicht von
ihrer Mitwirkungspflicht (BÜHLER/EDELMANN/KILLER, a.a.O., N. 43 zu § 75 ZPO;
BGE 128 III 411 E. 3.2.1 S. 413), aufgrund derer es an der
Beschwerdegegnerin gelegen wäre, die erforderlichen tatsächlichen Grundlagen
zur Bejahung einer Notlage im Sinne des Gesetzes darzutun und auch die
Beweise für die vorgebrachten Tatsachen anzutragen. Da die
Beschwerdegegnerin ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist, bleibt
die Notlage unbewiesen. Bei diesem offenen Beweisergebnis ist die Klage
abzuweisen, soweit sie die Kosten der beiden Kliniken (Fr. 72'170.-)
betrifft.