Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 252



Urteilskopf

133 III 252

  29. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Y. GmbH und Obergericht des Kantons Luzern (Staatsrechtliche Beschwerde)
  4P.25/2007 vom 15. März 2007

Regeste

  Art. 36 und 52 LugÜ, Art. 20 IPRG, Art. 29 BV. Vollstreckung nach dem
Luganer Übereinkommen. Nichteintreten auf ein Rechtsmittel wegen Verspätung.

  Rechtsmittelfrist zur Anfechtung eines
Vollstreckungserklärungs-Entscheids. Feststellung des schuldnerischen
Wohnsitzes in diesem Zusammenhang. Verletzung des Gehörsanspruchs (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 252

  Auf Gesuch der Y. GmbH (Beschwerdegegnerin) erklärte der
Amtsgerichtspräsident III von Luzern-Land mit Entscheid vom 29. August 2006
das gegen X. (Beschwerdeführerin) ergangene Teil-Urteil des Landgerichts
Hamburg (D) vom 25. November 2005 im Teilbetrag von Euro 62'000.- nebst Zins
zu 6,95 % seit 14. Juli 1999 für vollstreckbar. Ferner wies er das
Betreibungsamt A. an, bewegliches Vermögen der Beschwerdeführerin im Umfang
von Fr. 99'820.- nebst Zins zu 6,95 % seit 14. Juli 1999 provisorisch zu
pfänden.

  Dieser Entscheid wurde am 5. September 2006 von Z., dem Ehemann der
Beschwerdeführerin, an dessen Domizil in A. in Empfang genommen.

  Gegen den Entscheid vom 29. August 2006 erhob die Beschwerdeführerin am 6.
Oktober 2006 (Postaufgabe) "Einsprache" an das Obergericht des Kantons
Luzern, mit der sie die örtliche Unzuständigkeit des Amtsgerichtspräsidenten
geltend machte. Dessen Schuldbetreibungs- und Konkurskommission trat mit
Entscheid vom 1. Dezember 2006 auf den Rekurs nicht ein. Sie erkannte, die
Beschwerdeführerin habe die Begründung eines neuen Wohnsitzes in London
nicht nachzuweisen vermocht, so dass nach wie vor A. als Wohnsitz gelte.
Demnach sei die einmonatige Rekursfrist nach Art. 36 Abs. 1 LugÜ anwendbar.
Der Vollstreckungserklärungs-Entscheid sei rechtsgültig am 5. September 2006
zugestellt worden. Die Einmonatsfrist habe an diesem Datum zu laufen
begonnen und am 5. Oktober 2006 geendet. Damit sei der Rekurs vom 6. Oktober
2006 verspätet.

  Das Bundesgericht hebt das angefochtene Urteil des Obergerichts des
Kantons Luzern vom 1. Dezember 2006 unter Gutheissung einer
staatsrechtlichen Beschwerde der Beschwerdeführerin auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Die Beschwerdeführerin rügt weiter, sie habe vor Obergericht
rechtsgenüglich geltend gemacht, dass sie ihren Wohnsitz in England, einem
anderen Vertragsstaat des Luganer Übereinkommens (LugÜ; SR 0.275.11), habe.
Ihrer Behauptung nach wäre demnach für die Anfechtung des Entscheids des
Amtsgerichtspräsidenten nicht die einmonatige Rechtsmittelfrist nach Art. 36
Abs. 1 LugÜ anwendbar gewesen, sondern die zweimonatige Frist nach Art. 36
Abs. 2 LugÜ, so dass das Obergericht bei Richtigkeit der Behauptung auf den
Rekurs hätte eintreten müssen. Das Obergericht habe indessen ohne
Durchführung eines Beweisverfahrens angenommen, dass sie ihren Wohnsitz nach
wie vor in A. habe und damit die einmonatige Rechtsmittelfrist nach Art. 36
Abs. 1 LugÜ anwendbar sei. Damit habe es Art. 36 LugÜ, das Willkürverbot
(Art. 9 BV) und ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV)
verletzt.

  Ist zu entscheiden, ob eine Partei im Hoheitsgebiet des Vertragsstaats,
dessen Gerichte angerufen sind, einen Wohnsitz hat, so wendet das Gericht
nach Art. 52 Abs. 1 LugÜ sein Recht an. Das Obergericht erwog zunächst
zutreffend, dass der zivilrechtliche Wohnsitzbegriff zur Anwendung gelange,
wenn wie hier keine besondere zivilprozessrechtliche Norm über den Wohnsitz
bestehe (JAN KROPHOLLER,

Europäisches Zivilprozessrecht, Kommentar zu EuGVO, Lugano-Übereinkommen und
Europäischem Vollstreckungstitel, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2005, N. 1 zu
Art. 59 EuGVO, auf deren Kommentierung für die Auslegung des LugÜ zufolge
der weitgehenden inhaltlichen Parallelität in aller Regel zurückgegriffen
werden kann [KROPHOLLER, a.a.O., Einl. N. 59 S. 57]). Weiter vertrat es die
Ansicht, das IPRG sei in diesem Zusammenhang nicht anwendbar. Nach Art. 23
Abs. 1 ZGB befinde sich der Wohnsitz einer Person an dem Orte, wo sie sich
mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhalte. Der einmal begründete
Wohnsitz einer Person bleibe bis zum Erwerb eines neuen Wohnsitzes bestehen
(Art. 24 Abs. 1 ZGB). Da die Beschwerdeführerin die Begründung eines neuen
Wohnsitzes nicht rechtsgenüglich darzulegen vermöge, gelte (weiterhin) A.
als Wohnsitz.

  Dem kann nicht gefolgt werden. Das Obergericht hat verkannt, dass auch im
Rahmen der Vollstreckung nach dem Luganer Übereinkommen internationale
Verhältnisse vorliegen. Da sich der Wohnsitz nach Art. 52 LugÜ nicht
vertragsautonom, sondern nach dem nationalen Recht, grundsätzlich demjenigen
des Gerichtsstandes bestimmt, ist damit der Wohnsitzbegriff nach Art. 20
IPRG massgebend (ISAAK MEIER/MIGUEL SOGO, Internationales Zivilprozessrecht
und Zwangsvollstreckungsrecht, 2. Aufl., Zürich 2005, S. 97 Ziff. 2; ANTON
K. SCHNYDER/MANUEL LIATOWITSCH, Internationales Privat- und
Zivilverfahrensrecht, 2. Aufl., Zürich 2006, Rz. 555; MARCO LEVANTE,
Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt im internationalen Privat- und
Zivilprozessrecht der Schweiz, Diss. St. Gallen 1998, S. 29 f.; vgl. auch
GERHARD WALTER, Internationales Zivilprozessrecht der Schweiz, 3. Aufl.,
Bern 2002, S. 176: Ist - wie nach Art. 52 LugÜ - auf inländische
Vorschriften zurückzugreifen, sind nach diesem Autor die massgeblichen
inländischen Bestimmungen diejenigen des IPRG, erst hilfsweise diejenigen
des GestG [SR 272]. Vgl. auch BERNARD DUTOIT, Kommentar zum IPRG, 4. Aufl.,
Basel 2004, N. 4 zu Art. 112 IPRG, der zwar auf Art. 23 ZGB verweist, aber
auch anmerkt, dass sich dieser nicht von Art. 20 IPRG unterscheide). Nach
Abs. 1 lit. a dieser Bestimmung hat eine natürliche Person ihren Wohnsitz in
dem Staat, in dem sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält.
Dieser Wohnsitzbegriff unterscheidet sich dabei von demjenigen des ZGB
dadurch, dass keine fiktiven Wohnsitze anerkannt werden, insbesondere also
nicht der fortgesetzte Wohnsitz im Sinne von Art. 24 Abs. 1 ZGB (BGE 119 II
64 E. 2a/aa, 167 E. 2b

S. 169; KELLER/KREN KOSTKIEWICZ, Zürcher Kommentar, N. 70 zu Art. 20 IPRG;
DUTOIT, a.a.O., N. 11 zu Art. 20 IPRG; dasselbe gilt nach Art. 3 Abs. 2
GestG auch für die Feststellung des Wohnsitzes zur Bestimmung der örtlichen
Zuständigkeit bei nationalen Verhältnissen). Der Wohnsitz der
Beschwerdeführerin ist somit allein danach zu bestimmen, wo sie sich mit der
Absicht dauernden Verbleibens aufhält, mithin wo sich im massgeblichen
Zeitpunkt ihr tatsächlicher Lebensmittelpunkt befindet (vgl. BGE 127 V 237
E. 1 S. 238; 125 III 100 E. 3 S. 102; 119 II 64 E. 2a/bb, 167 E. 2b S. 169
unten; KELLER/KREN KOSTKIEWICZ, a.a.O., N. 16 ff. zu Art. 20 IPRG; DUTOIT,
a.a.O., N. 1 zu Art. 20 IPRG).

  Das Obergericht hat somit zu Unrecht entschieden, mangels Nachweises des
Erwerbs eines neuen Wohnsitzes gelte für die Beschwerdeführerin der
fortgesetzte Wohnsitz nach Art. 24 Abs. 1 ZGB als Wohnsitz im Sinne von Art.
36 LugÜ. Ausgehend von seiner unzutreffenden Rechtsauffassung hat es keine
Feststellungen über die allein erhebliche Frage getroffen, wo sich zur
massgebenden Zeit ihr tatsächlicher Lebensmittelpunkt befand. Es wäre
indessen im Rahmen der von Amtes wegen zu prüfenden Frage, ob die
Beschwerdeführerin ihren Rekurs fristgerecht erhoben hat, verpflichtet
gewesen, Feststellungen darüber zu treffen, wo sich ihr tatsächlicher
Lebensmittelpunkt befindet, um zu bestimmen, welche der in Art. 36 LugÜ
vorgesehenen Rechtsmittelfristen anwendbar ist. Indem es, ohne entsprechende
Feststellungen zu treffen, annahm, die einmonatige Rekursfrist nach Art. 36
Abs. 1 LugÜ sei anwendbar, und in der Folge auf den Rekurs wegen Verspätung
nicht eintrat, verletzte es den Anspruch der Beschwerdeführerin auf
rechtliches Gehör.

  Das Obergericht wird demnach abzuklären haben, wo sich im massgeblichen
Zeitpunkt der tatsächliche Lebensmittelpunkt der Beschwerdeführerin befunden
hat. Dabei wird es die im Verfahren bereits vorgebrachten Behauptungen und
die ins Recht gelegten Unterlagen der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen
haben und - soweit damit kein Nachweis über den Lebensmittelpunkt zu
erbringen ist - nach Massgabe der anwendbaren Verfahrensvorschriften
allenfalls weitere Beweise zu erheben haben.

  Sollte sich danach ergeben, dass sich der tatsächliche Lebensmittelpunkt
der Beschwerdeführerin nicht mehr in A. befindet und kein Wohnsitz in der
Schweiz, sondern nur ein solcher in einem anderen Vertragsstaat des Luganer
Übereinkommens in Frage kommt,

wird nach dem Recht dieses Staates zu entscheiden sein, ob sie dort Wohnsitz
im Sinne von Art. 36 Abs. 2 LugÜ hat (Art. 52 Abs. 2 LugÜ) und damit die
zweimonatige Rechtsmittelfrist anzuwenden ist. Ist nach dem entsprechenden
Recht auch ein Wohnsitz in diesem Staat zu verneinen, führt dies dazu, dass
ein Wohnsitz weder in der Schweiz noch in einem Vertragsstaat des LugÜ
festgestellt werden kann. In diesem Fall wäre die Grundsatzregelung von Art.
36 Abs. 1 LugÜ anzuwenden, nach der der Schuldner gegen die Entscheidung,
mit der die Zwangsvollstreckung zugelassen wird, innerhalb eines Monats nach
ihrer Zustellung einen Rechtsbehelf einlegen kann, wie sie auch zur
Anwendung käme, wenn die Beschwerdeführerin ihren Wohnsitz in einem
Drittstaat, d.h. nicht in einem Vertragsstaat des LugÜ, hätte (vgl.
KROPHOLLER, a.a.O., N. 21 zu Art. 43 EuGVO; YVES DONZALLAZ, La Convention de
Lugano, Bd. II, Bern 1997, N. 3915; vgl. auch SCHNYDER/LIATOWITSCH, a.a.O.,
Rz. 556).