Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 146



Urteilskopf

133 III 146

  17. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Y. sowie Obergericht des Kantons Aargau (Staatsrechtliche Beschwerde)
  5P.3/2007 vom 13. Februar 2007

Regeste

  Art. 13 Abs. 2 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ; SR
0.211.230.02); Kinderanhörung.

  Im Rückgabeverfahren gemäss Haager Übereinkommen betreffend
Kindesentführung ist das Kind in der Regel ab 11 bis 12 Jahren anzuhören (E.
2.6).

Sachverhalt ab Seite 146

  Die Parteien haben am 26. April 1996 in A. geheiratet. Spätestens seit
Januar 1997 lebten sie in Brasilien. Dort kamen die beiden gemeinsamen
Kinder V., geb. 1997, und W., geb. 1999, zur Welt. Im April 2004 trennten
sich die Parteien; beide hielten sich weiterhin in Brasilien auf. Im Mai
2006 reiste der Vater mit den Kindern für einen Ferienaufenthalt von einem
Monat in die Schweiz und kehrte mit ihnen nicht nach Brasilien zurück.

  Mit Gesuch vom 7. September 2006 verlangte die Mutter die Rückführung der
beiden Kinder. Mit Urteilen vom 10. Oktober und 18. Dezember 2006
verpflichteten sowohl das Bezirksgericht Bremgarten

als auch das Obergericht des Kantons Aargau den Vater zur Rückführung der
beiden Kinder.

  Gegen das obergerichtliche Urteil hat der Vater am 30. Dezember 2006 eine
staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Begehren um dessen Aufhebung und
Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung. Das Bundesgericht weist die
staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es darauf eingetreten ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Der Beschwerdeführer macht geltend, die kantonalen Instanzen hätten
die Kinder anhören müssen, und er rügt in diesem Zusammenhang eine
Verletzung von Art. 13 Abs. 2 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980
über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ;
SR 0.211.230.02), wonach das Gericht die Rückgabe des Kindes ablehnen kann,
wenn festgestellt wird, dass es sich dieser widersetzt und dass es ein Alter
und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine
Meinung zu berücksichtigen.

  2.1  Das Obergericht hat diesbezüglich erwogen, gemäss den Aussagen der
Beschwerdegegnerin hätten die Kinder Heimweh nach Brasilien, während der
Beschwerdeführer ausgesagt habe, der jüngere Sohn W. wolle nicht nach
Brasilien zurück, wobei er hierfür keine eigentlichen Gründe genannt habe.
Auffällig sei zudem, dass der ältere Sohn V. auf die Frage, was er wolle,
wenn der Vater nach Brasilien gehe, die Mutter aber in der Schweiz bleibe,
geantwortet haben soll, dann gehe er mit dem Vater nach Brasilien; erst auf
die Aufforderung, sich dies noch einmal zu überlegen, habe er gesagt, er
wolle in der Schweiz bleiben. Die vom Beschwerdeführer wiedergegebene
spontane Antwort von V. zeige deutlich, dass er keine Vorbehalte gegen
Brasilien habe, sondern allenfalls die Betreuung durch den Vater derjenigen
durch die Mutter vorziehe.

  Der bezüglich Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ abzuklärende Sachverhalt sei
untrennbar mit der Urteilsfähigkeit des Kindes verbunden; könne aber ein
allfälliger Widerstand des Kindes mangels Alters und Reife nicht
berücksichtigt werden, sei auf dessen Anhörung zu verzichten. Die beiden
Kinder seien mit neun Jahren und vier Monaten (V.) bzw. sieben Jahren und
sieben Monaten (W.) deutlich unter der aus psychologischer Sicht für die
Annahme der Urteilsfähigkeit bezüglich Fragen der vorliegend sich stellenden
Art postulierten Altersgrenze

von elf bis dreizehn Jahren. Dazu komme, dass auch nach den Schilderungen
des Beschwerdeführers die Kinder offenbar keine konkreten Gründe genannt
hätten, weshalb sie nicht nach Brasilien zurückkehren möchten. Die vom
Beschwerdeführer wiedergegebenen Äusserungen von V. seien zudem ambivalent
und bezögen sich nicht auf die Umstände in Brasilien, sondern auf die
persönliche Beziehung zu den Eltern und damit auf eine Frage, die im
Rückführungsverfahren keine Rolle spiele.

  2.2  Das Bundesgericht hat in BGE 131 III 553 als Richtlinie festgehalten,
dass die Kinderanhörung im Sinn von Art. 144 ZGB grundsätzlich ab dem
vollendeten sechsten Altersjahr möglich ist. Der Beschwerdeführer möchte
diese Rechtsprechung auf Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ übertragen wissen. Er beruft
sich dabei auf den von der zuständigen eidgenössischen Expertenkommission
gemachten Entwurf zu einem Bundesgesetz über internationale
Kindesentführungen und auf die Ausführungen des Kommissionspräsidenten in
einem ergänzenden Bericht zum Schlussbericht der Expertenkommission, in
welchen nach Ansicht des Beschwerdeführers für ein gleiches Schwellenalter
im Zusammenhang mit dem Haager Kindesentführungsüberkeinkommen plädiert
wird.

  Die Beschwerdegegnerin macht geltend, bei der Anwendung des Haager
Übereinkommens gehe es nicht um die Frage der Obhut oder des Sorgerechts,
sondern allein um diejenige der Rückführung. Bezüglich dieser Frage müssten
die Kinder urteilsfähig sein, und sie müssten in abstrakter Weise
nachvollziehen und auseinanderhalten können, dass es nicht darum gehe, ob
sie lieber beim Vater oder bei der Mutter sein möchten. Massgeblich müsse
deshalb dasjenige Alter sein, ab welchem formallogische Denkoperationen
möglich würden; dies sei ab elf bis dreizehn Jahren der Fall.

  2.3  Im Zusammenhang mit der Verwertbarkeit von Aussagen im Sinn von Art.
13 Abs. 2 HEntfÜ hat das Bundesgericht in BGE 131 III 334 erwogen, dass sich
nicht allgemein bestimmen lasse, ab welchem Alter das Kind über die für eine
möglichst autonome Willensbildung erforderliche Reife verfügt. Es hat sodann
auf die einschlägige Literatur verwiesen, welche diese Frage ebenfalls nicht
einheitlich beantwortet (frühestens ab zehn Jahren: SCHMID, Neuere
Entwicklungen im Bereich der internationalen Kindesentführungen, in: AJP
2002 S. 1335; frühestens ab vierzehn Jahren: KUHN, Ihr Kinderlein bleibet,
so bleibet doch all, in: AJP 1997 S. 1102; BACH/GILDENAST, Internationale
Kindesentführung, Bielefeld 1999, S. 61; KRÜGER, Das

Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler
Kindesentführung, in: Monatsschrift für deutsches Recht [MDR] 1998 S. 696;
je nach individuellem Reifegrad ab zehn bis vierzehn Jahren: ZÜRCHER,
Kindesentführung und Kindesrechte, Diss. Zürich 2005, S. 204 oben; gegen ein
bestimmtes Mindestalter: BUCHER, L'enfant en droit international privé,
Basel 2003, S. 168 Rz. 486; WINKLER VON MOHRENFELS, Der Kindeswille im
Rahmen des Haager Kindesentführungsübereinkommens, in: Einheit und Vielfalt
des Rechts, Festschrift für Reinhold Geimer zum 65. Geburtstag, München
2002, S. 1532 f.), und im Anschluss erwogen, auf jeden Fall sei die nötige
Reife des Kindes umso eher zu bejahen, je näher es sich bei der für die
Anwendung des Übereinkommens geltenden Altersgrenze von 16 Jahren befinde
(BGE 131 III 334 E. 5.2 S. 340 mit weiteren Hinweisen).

  Der vorliegende Fall ist insofern anders gelagert, als es nicht um die
Frage geht, inwieweit die Aussagen angehörter Kinder - diese waren im
zitierten Entscheid 91/2- bzw. 101/2-jährig - im Rückführungsentscheid zu
berücksichtigen sind, sondern um diejenige, ob das Haager Übereinkommen die
Anhörung der 71/2- bzw. gut 9-jährigen Knaben gebietet. Diese Frage ist im
Folgenden zu prüfen.

  2.4  Wie die Vorinstanzen und die Beschwerdegegnerin richtig festhalten,
darf beim Rückführungsentscheid weder über die elterliche Sorge noch über
die Obhut befunden werden; vielmehr bleibt die betreffende Entscheidung dem
Richter des Herkunftsstaats vorbehalten (Art. 16 und 19 HEntfÜ; BGE 131 III
334 E. 5.3 S. 341). Alleiniges Thema des Rückführungsprozesses ist die
Prüfung der Voraussetzungen für die Rückführung (namentlich das
widerrechtliche Verbringen im Sinn von Art. 3 HEntfÜ). Sind diese erfüllt,
ist die Rückführung grundsätzlich anzuordnen, soweit nicht einer der eng
gefassten Ausschlussgründe gegeben ist (insbesondere Nichtausübung des
Sorgerechts und Unzumutbarkeit der Rückführung gemäss Art. 13 Abs. 1 HEntfÜ
sowie Weigerung des Kindes zur Rückkehr nach Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ).

  Die erforderliche Reife im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ hat ein Kind
erreicht, wenn es in der Lage ist, den Sinn und die Problematik des
anstehenden Rückführungsentscheides zu verstehen. Es muss insbesondere in
der Lage sein zu erkennen, dass es nicht um das Sorgerecht oder die Obhut,
sondern einzig darum geht, den aufenthaltsrechtlichen status quo ante
wiederherzustellen, und es muss

ihm auch bewusst sein, dass über die Frage, in welchem Land und bei welchem
Elternteil es künftig leben soll, nach seiner Rückführung in den
Ursprungsstaat von den dortigen Gerichten zu entscheiden ist (WINKLER VON
MOHRENFELS, a.a.O., S. 1533 f.).

  Ab wann ein Kind dazu in der Lage ist, lässt sich nicht für alle Fälle und
denkbaren Konstellationen einheitlich beantworten. Wie die Hinweise in E.
2.3 zeigen, wird in der Literatur ein Mindestalter zwischen zehn und
vierzehn Jahren postuliert. Das Bundesgericht hat in BGE 131 III 334 E. 5.2
S. 340 festgehalten, auf jeden Fall sei die nötige Reife des Kindes umso
eher zu bejahen, je näher es sich bei der für die Anwendung des
Übereinkommens geltenden Altersgrenze von 16 Jahren befinde.

  Dies stimmt mit der kinderpsychologischen Erkenntnis überein, dass
formallogische Denkoperationen erst ab ungefähr elf bis zwölf Jahren möglich
sind und auch die emotionale sowie kognitive Reife zu überdauernder eigener
Meinungsbildung erst ab diesem Alter vorhanden ist (vgl. FELDER/NUFER,
Richtlinien für die Anhörung des Kindes aus
kinderpsychologischer/kinderpsychiatrischer Sicht gemäss Art. 12 der
UNO-Konvention über die Rechte des Kindes, in: SJZ 95/1999 S. 318;
dieselben, Die Anhörung des Kindes aus kinderpsychologischer Sicht, in: Vom
alten zum neuen Scheidungsrecht, Bern 1999, N. 4.131; NUFER, Die
Kommunikationssituation bei der Anhörung von Kindern, in: SJZ 95/1999 S.
317, sowie in: ZVW 1999 S. 209).

  2.5  Nichts ableiten kann der Beschwerdeführer aus dem Entwurf eines
Gesetzes. Weder stehen dessen definitive Formulierung noch dessen
Verabschiedung und Inkrafttreten fest, und im Übrigen operiert die
einschlägige Bestimmung des Entwurfs explizit mit Blankettbegriffen und
nennt kein bestimmtes Alter für die Anhörung.

  Zu prüfen ist hingegen, ob in Abweichung zum bisher Gesagten die in BGE
131 III 553 für die Kinderanhörung gemäss Art. 144 ZGB genannte Richtlinie
von sechs Jahren auch für diejenige im Rückführungsverfahren allgemein bzw.
für diejenige gemäss Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ im Speziellen massgeblich sein
soll, wie dies vom Beschwerdeführer gefordert wird, oder ob das Kind hierfür
ein Alter in der von der kinderpsychologischen Literatur genannten
Bandbreite erreicht haben muss.

  2.6  Das Bundesgericht hat im erwähnten BGE 131 III 553 betont, dass die
Anhörung im Zusammenhang mit Obhuts- und Sorgerechtsfragen

keine Urteilsfähigkeit des Kindes im Sinn von Art. 16 ZGB voraussetzt, da es
bei kleineren Kindern in erster Linie darum geht, dass sich das urteilende
Gericht ein persönliches Bild machen kann und über eine zusätzliche
Erkenntnisquelle bei der Sachverhaltsfeststellung und Entscheidfindung
verfügt. Bei ihnen ist deshalb auch nicht nach konkreten Zuteilungswünschen
zu fragen, da sie sich hierüber noch gar nicht losgelöst von zufälligen
gegenwärtigen Einflussfaktoren äussern und in diesem Sinn eine stabile
Absichtserklärung abgeben können (E. 1.2.2 S. 557 m.H. auf die
weiterführende Literatur).

  Zum einen dürfen im Rückführungsentscheid diejenigen Faktoren, zu deren
Erstellung die Aussagen kleinerer Kinder sehr gut beitragen können (aktuelle
Situation, persönliche Beziehung zu den Elternteilen etc.), gerade nicht
berücksichtigt werden. Zum anderen sind kleinere Kinder mit Bezug auf das
Thema des Rückführungsprozesses noch gar nicht urteilsfähig. Die Befragung
bei der Anhörung lässt sich aber nicht vom Gegenstand trennen, der im
betreffenden Verfahren zu beurteilen ist. Es würde keinen Sinn machen,
kleinere Kinder, welche die besondere Problematik des
Rückführungsentscheides noch nicht erfassen können, bloss zu ihrer Situation
im Allgemeinen anzuhören, wenn das Haager Übereinkommen zwingend vorgibt,
dass diese (mit Ausnahme des Einlebens gemäss Art. 12 Abs. 2 HEntfÜ) im
Rückführungsentscheid keine Rolle spielen kann.

  Mit Blick auf die Willensbildung im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ darf
sodann nicht übersehen werden, dass in fast allen Entführungsfällen
namentlich kleinere Kinder mit dem Entführer notwendigerweise eine
Schicksalsgemeinschaft bilden und sie deshalb mit einer zwingenden Anhörung
oftmals in eine unzumutbare Lage gebracht würden. Anders als die im Rahmen
von Art. 144 und 314 ZGB anzuhörenden Kinder halten sie sich nicht in einer
ihnen vertrauten Umgebung auf, sprechen sie oft eine andere Sprache und
verfügen sie aufgrund der Entführungssituation nicht über eine Vielzahl von
Bezugspersonen (Elternteile, Verwandte, Kameraden etc.). Im Unterschied zu
anderen Kindern dürften sie aufgrund der sich aus der Entführungssituation
ergebenden Isolation in der Regel weniger einem Loyalitätskonflikt zwischen
den beiden Elternteilen ausgesetzt sein, als vielmehr unter starkem Druck
und entscheidendem Einfluss des entführenden Elternteils stehen. In diesem
Sinn hat das Bundesgericht im bereits mehrfach erwähnten BGE 131 III 334
denn auch festgehalten,

dass beim anzuhörenden Kind geprüft werden muss, ob es sich einer
Rückführung aus freien Stücken widersetzt, und dass in diesem Sinn der
beachtliche Kindeswillen vom manipulierten und deshalb unbeachtlichen
abzugrenzen ist (E. 5.1 S. 339 f. mit weiteren Hinweisen).

  Vor diesem Hintergrund ist es nicht angebracht, im Rückführungsverfahren
kleinere Kinder systematisch anzuhören. Namentlich die Unterscheidung
zwischen der Wiederherstellung des aufenthaltsrechtlichen status quo ante
und dem Sorgerecht bzw. der Obhut, aber auch das Bewusstsein, dass über
Letzteres nach der Konzeption des Übereinkommens der Richter im
Herkunftsstaat zu entscheiden hat und die Frage, bei wem das Kind künftig
leben soll, erst in jenem Verfahren thematisiert werden kann, ist relativ
abstrakt, und entsprechende Denkoperationen sind einem Kind nach der
zitierten kinderpsychologischen Literatur vor elf bis zwölf Jahren in aller
Regel nicht möglich.

  2.7  Bei dieser Ausgangslage hat das Obergericht kein Konventionsrecht
verletzt, wenn es von einer Anhörung der altersmässig deutlich unter der
genannten Bandbreite liegenden Knaben abgesehen hat.