Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 116



Urteilskopf

133 III 116

  13. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Y. (Berufung)
  4C.358/2005 vom 12. Februar 2007

Regeste

  Art. 147 Abs. 2 und Art. 148 OR; Wirkungen des mit einem Solidarschuldner
geschlossenen Vergleichs für die übrigen Schuldner.

  Ob und wie weit dem Vergleich mit einem Solidarschuldner befreiende
Wirkung für die übrigen Schuldner zukommt, ist durch Auslegung des
Vergleichsvertrags zu ermitteln. Bedeutung des Umstands, dass die
Mitschuldner,
soweit sie nicht befreit werden und durch den Gläubiger für mehr als ihre
intern zu tragenden Anteile an der Gesamtschuld belangt werden, Rückgriff
auf den vom Gläubiger individuell befreiten Schuldner nehmen könnten, und
dieser damit mehr als mit dem Gläubiger vereinbart zu zahlen haben könnte
(E. 4.2 und 4.3).

Sachverhalt

  Die A. AG mit Sitz in Zürich bezweckte u.a. die Beteiligung an
Finanzgeschäften im In- und Ausland, die Durchführung von
Finanztransaktionen, die Übernahme von Verwaltungen aller Art und die
Beratung in diesen Bereichen. Vom 21. November 1997 bis zum 11. August 1999
war X. (Beklagter) Verwaltungsrat der A. AG.

  Am 26. Oktober 1999 verfügte das Handelsregisteramt die Auflösung der
Gesellschaft, weil diese innert Frist nicht den gesetzlichen Zustand
bezüglich Verwaltung und Vertretung hergestellt hatte. Am 26. Mai 2000 wurde
der Konkurs über die Gesellschaft eröffnet.

  Im Konkursverfahren wurden zwanzig Parteien, darunter Y. (Kläger), mit
Forderungen von rund Fr. 1,8 Mio. zugelassen. In einem Vergleich mit dem
früheren Verwaltungsrat der A. AG, Rechtsanwalt Dr. B., wurde die Bezahlung
von Fr. 50'000.- vereinbart, welche die Gläubiger entsprechend ihren
Forderungen unter sich aufteilten. Darüber hinaus kamen die Gläubiger
vollumfänglich zu Verlust, der Kläger mit Fr. 224'597.35. Die
Konkursverwaltung trat allfällige

Verantwortlichkeitsansprüche gegen den Beklagten an sämtliche
Konkursgläubiger ab.

  Innert Frist leitete der Kläger als einziger Abtretungsgläubiger eine
Verantwortlichkeitsklage gegen den Beklagten über den Betrag von Fr.
224'597.35 ein. Das angerufene Bezirksgericht Zürich verpflichtete den
Beklagten am 31. Januar 2005 aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit zur
Bezahlung von Fr. 224'597.35 nebst Zins seit dem 22. Januar 2003.

  Dieses Urteil bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 2.
September 2005 auf kantonalrechtliche Berufung des Beklagten hin. Das
Obergericht bejahte eine Haftung des Beklagten aus aktienrechtlicher
Verantwortlichkeit. Ausserdem verneinte es, dass der mit dem früheren
Verwaltungsrat, Rechtsanwalt Dr. B., geschlossene Vergleich den Beklagten
vollständig befreie oder seine Schuldpflicht auf höchstens Fr. 50'000.-
begrenze.

  Der Beklagte beantragt mit eidgenössischer Berufung, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen. Das Bundesgericht weist
die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Der Beklagte macht sodann geltend, die Vorinstanz habe zu Unrecht
verneint, dass der mit dem früheren Verwaltungsrat der A. AG, Rechtsanwalt
Dr. B., geschlossene Vergleich seine Schuldpflicht aus aktienrechtlicher
Verantwortlichkeit auf höchstens Fr. 50'000.- begrenze.
  (...)

  4.2  Nach Art. 148 Abs. 1 OR hat jeder Solidarschuldner, wenn sich aus dem
internen Rechtsverhältnis nichts anderes ergibt, einen gleichen Anteil an
der Schuld zu tragen. Bezahlt ein Solidarschuldner mehr als seinen internen
Teil an der Gesamtschuld, so hat er für den Mehrbetrag Rückgriff auf seine
Mitschuldner (Art. 148 Abs. 2 OR; vgl. BGE 53 II 25 E. 1 S. 30; SCHNYDER,
Basler Kommentar, N. 1 zu Art. 148 OR; OSER/SCHÖNENBERGER, Zürcher
Kommentar, N. 4 zu Art. 148 OR; VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des
Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, Zürich 1974, S. 315 bei Fn. 134;
ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, 2. Aufl., Bern 1997, S. 844;
GUHL/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl., Zürich 2000, §
6 Rz. 21; SCHWENZER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 4.
Aufl., Bern 2006, S. 534 Rz. 88.36). Soweit

ein Solidarschuldner durch Zahlung oder Verrechnung den Gläubiger befriedigt
hat, sind auch die übrigen befreit (Art. 147 Abs. 1 OR). Wird ein
Solidarschuldner ohne (volle) Befriedigung des Gläubigers befreit, so wirkt
die Befreiung zugunsten der anderen nur so weit, als die Umstände oder die
Natur der Verbindlichkeit es rechtfertigen (Art. 147 Abs. 2 OR). Soweit
keine Befreiung der anderen Mitschuldner eintritt, hat dies zur Folge, dass
sie nach einer Belangung durch den Gläubiger für mehr als ihre Anteile
gestützt auf Art. 148 Abs. 2 OR Rückgriff auf den vom Gläubiger individuell
befreiten Schuldner nehmen können und dieser damit mehr als mit dem
Gläubiger vereinbart zu zahlen hat, wodurch der Vergleich für ihn
illusorisch wird (vgl. BGE 107 II 226 E. 3a/b).

  Erlässt der Gläubiger einem im Innenverhältnis allein haftenden Schuldner
im Vergleich die Schuld teilweise mit der Massgabe, dass ihn auch auf dem
Rückgriffsweg keine weitere Verpflichtung treffen sollte, ist darin daher
ein Umstand zu sehen, der nach Art. 147 Abs. 2 OR eine Befreiung der
Mitschuldner zur Folge hat (BGE 107 II 226 E. 3-5; vgl.
GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner
Teil, Bd. I, 8. Aufl., Zürich 2003, Rz. 3931; EUGEN BUCHER, Schweizerisches
Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Zürich 1988, S. 496 Fn. 48.
Kritisch dazu: FORSTMOSER, Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit, 2.
Aufl., Zürich 1987, Rz. 371 Fn. 680; MERZ, Mehrheit von Schuldnern, in:
Schweizerisches Privatrecht, Bd. VI/1, OR Allgemeiner Teil, Basel/Frankfurt
1984, S. 111 Fn. 20).

  Im Übrigen ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung durch Auslegung
des Vergleichs zu ermitteln, ob (und inwieweit) die Befreiung auch für die
übrigen Solidarschuldner gelten soll (BGE 107 II 226 E. 3; bestätigt durch
Urteil 4C.27/2003 vom 26. Mai 2003, E. 3.5.2 mit zahlreichen
Literaturhinweisen, publ. in: SJ 2003 I S. 597 ff.; vgl. auch SCHNYDER,
a.a.O., N. 3 zu Art. 147 OR; PETER ISLER, Aussergerichtlicher Vergleich mit
einzelnen aktienrechtlich verantwortlichen Organpersonen, in:
Wirtschaftsrecht zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Festschrift für Peter
Nobel, Bern 2006, S. 203 f.; MERZ, a.a.O., S. 111; PATRICK HÜNERWADEL, Der
aussergerichtliche Vergleich, Diss. St. Gallen 1988, S. 78 oben, 80).

  4.3  In BGE 107 II 226 E. 3b hat das Bundesgericht auf eine ältere Praxis
verwiesen (BGE 34 II 80 E. 5, 493 E. 5 S. 498 f.; 33 II 140 E. 5 S. 146 f.;
vgl. auch BGE 60 II 218 E. 2 S. 226), nach der es

grundsätzlich abgelehnt wurde, dem Mitschuldner allein schon wegen des
Umstands Gesamtbefreiung zu gewähren, dass er bei einer Belangung durch den
Gläubiger für den vollen durch den Vergleich nicht gedeckten Teil Rückgriff
auf den vom Gläubiger individuell befreiten Solidarschuldner nehmen könnte
und dieser in der Folge aus Regress mehr als mit dem Gläubiger vereinbart zu
zahlen haben könnte. Es stellte in Frage, liess in der Folge aber offen, ob
daran angesichts der Lehrmeinung von VON TUHR/ESCHER (a.a.O., S. 313 Fn.
125; bestimmter gar: GAUCH, Der aussergerichtliche Vergleich, in:
Innominatverträge, Festgabe für Walter R. Schluep, Zürich 1988, S. 18 f.)
festzuhalten sei, da eine Auslegung des streitbetroffenen Vergleichs nach
den Willensäusserungen der an seinem Abschluss beteiligten Parteien
unabhängig davon ergab, dass dieser für alle Solidarschuldner befreiende
Wirkung haben sollte (BGE 107 II 226 E. 3b und 5; Frage auch offengelassen
in: Urteil 4C.27/2003 vom 26. Mai 2003, E. 3.6, publ. in: SJ 2003 I S. 597
ff.).

  Im vorliegenden Fall verneinte die Vorinstanz, dass der Vergleich zwischen
den Gläubigern und Dr. B. nach Art. 147 Abs. 2 OR eine Befreiung der
solidarisch haftenden Mitschuldner für den ungedeckten Teil bewirkt habe.
Der Beklagte beruft sich hiergegen auf den Umstand, dass der von den
Gläubigern individuell befreite Schuldner, Dr. B., mehr als mit den
Gläubigern vereinbart zu zahlen hätte und der Vergleich für ihn illusorisch
würde, wenn der Anspruch der Gläubiger gegenüber den Mitschuldnern (zu denen
der Beklagte zählt) für den durch die Vergleichssumme ungedeckten Teil
ungekürzt beibehalten würde und diese nach ihrer Belangung auf Dr. B.
Regress nehmen könnten. Damit vermag er indessen nicht durchzudringen.

  Richtig besehen kann der angerufene Umstand, entsprechend der älteren
Praxis, auf die das Bundesgericht in BGE 107 II 226 verwiesen hat, nicht
schon für sich allein zum Ergebnis führen, dass eine Gesamtbefreiung der
Mitschuldner bejaht werden muss. Vielmehr ist dieser im Rahmen der Auslegung
des Vergleichs bloss als ein Auslegungselement nebst anderen zu
berücksichtigen, das dafür sprechen kann, dass die Parteien des Vergleichs
tatsächlich oder nach Treu und Glauben eine - allenfalls auf den im
Innenverhältnis zu tragenden Teil beschränkte - Befreiung der Mitschuldner
gewollt haben. Dies insbesondere wenn dem Gläubiger bekannt ist, dass der am
Vergleich beteiligte Schuldner im Innenverhältnis unter den Mitschuldnern
voll oder teilweise haften würde und der Vergleich

ohne Befreiung der Mitschuldner damit für ihn illusorisch werden könnte
(vgl. BGE 34 II 80 E. 5 in fine; Urteil 4C.27/2003 vom 26. Mai 2003, E. 3.6,
publ. in: SJ 2003 I S. 597 ff.; HÜNERWADEL, a.a.O., S. 79). Wird ein
Solidarschuldner durch einen Vergleich, also einen Tilgungsgrund
rechtsgeschäftlicher Art, befreit, muss entsprechend der bestätigten
Rechtsprechung in BGE 107 II 226 E. 3 stets der Sinn der zwischen den
Kontrahierenden getroffenen Abmachung nach ihrem autonomen Vertragswillen
massgebend sein, der durch die Auslegung der Vereinbarung nach allgemeinen
Grundsätzen zu ermitteln ist. Für eine feste Regel, nach der aufgrund des
angerufenen Umstandes ohne weiteres eine Befreiungswirkung für die am
Vergleich nicht beteiligten Mitschuldner eintreten soll, wie sie der
Beklagte hier befürwortet, besteht daneben kein Raum (vgl. die im Urteil
4C.27/2003 vom 26. Mai 2003, E. 3.5.2 zitierten Autoren, insbes. BUCHER,
a.a.O., S. 495 f. und ENGEL, a.a.O., S. 842 f.; OFTINGER/STARK,
Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl., Zürich
1995, S. 501 f. deutlich ferner: HÜNERWADEL, a.a.O., S. 78 ff.; ISLER,
a.a.O., S. 204; a.M. dagegen GAUCH, a.a.O., S. 18 f.).