Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 114



Urteilskopf

133 III 114

  12. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y.
(Nichtigkeitsbeschwerde)
  5C.239/2006 vom 16. November 2006

Regeste

  Art. 138 Abs. 1 ZGB.

  Die Bestimmung von Art. 138 Abs. 1 ZGB zum Novenrecht im Scheidungsprozess
gilt weder für das Eheschutzverfahren noch für das Verfahren betreffend
vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Scheidungsprozesses (E. 3).

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.

  3.1  Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht zunächst vor, kantonales
statt das massgebende eidgenössische Recht angewendet zu haben, womit der
Nichtigkeitsgrund von Art. 68 Abs. 1 lit. a OG gegeben sei: Die kantonale
Rekursinstanz habe ihre im zweitinstanzlichen Verfahren erklärte Erweiterung
ihres Unterhaltsbegehrens von monatlich Fr. 850.- auf Fr. 2'204.- gestützt
auf die sich aus dem kantonalen Prozessrecht ergebende Dispositions- bzw.
Eventualmaxime ausgeschlossen, obwohl auf Grund von Art. 138 (Abs. 1) ZGB
(unter gewissen Bedingungen) neue Begehren in der oberen kantonalen Instanz
von Bundesrechts wegen zugelassen seien.

  3.2  Mit der Marginalie "Neue Anträge" bestimmt Art. 138 Abs. 1 ZGB, dass
in der oberen kantonalen Instanz neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht
werden können und neue Rechtsbegehren zugelassen werden müssen, sofern sie
durch neue Tatsachen oder Beweismittel veranlasst worden sind. Das
Bundesgericht hat in BGE 131 III 189 ff. die Entstehungsgeschichte dieser
Vorschrift nachgezeichnet und zusammenfassend festgehalten, dass sich die
Regelung als bundesrechtlicher Minimalstandard für Scheidungsverfahren
verstehe: Art. 138 Abs. 1 ZGB beschränke das Novenverbot und das Verbot der
Klageänderung (lediglich) in der oberen kantonalen Instanz; der Gesetzgeber
habe damit das Ziel der Wahrheitsfindung und der materiellen Richtigkeit des
Urteils im Scheidungsprozess höher gewichtet als die beförderliche
Prozesserledigung und die Vermeidung unsorgfältigen Prozessierens in erster
Instanz (BGE 131 III 189 E. 2.6 S. 196).

  In Anbetracht der Tatsache, dass mit Art. 138 Abs. 1 ZGB für den
Scheidungsprozess in novenrechtlicher Hinsicht ein Minimalstandard für den
kantonalen Instanzenzug geschaffen werden sollte, und unter Berücksichtigung
des Umstandes, dass sowohl im Eheschutz- wie auch im Massnahmenverfahren
eine beförderliche Streiterledigung im Vordergrund steht, ist davon
auszugehen, dass die genannte Bestimmung auf diese Verfahren nicht
anzuwenden ist (so auch

CHRISTOPH LEUENBERGER, Basler Kommentar, 2. Aufl., N. 3 zu Art. 138 ZGB;
vgl. auch MARCEL LEUENBERGER, Praxiskommentar Scheidungsrecht, Basel 2000,
N. 59 zu Art. 137 ZGB; a.M. KARL SPÜHLER/PETER REETZ, Neues
Scheidungsverfahren, in: Karl Spühler/Peter Reetz/Dominik Vock/Barbara
Graham-Siegenthaler, Neuerungen im Zivilprozessrecht, Zürich 2000, S. 59,
und KARL SPÜHLER, Neues Scheidungsverfahren, Supplement, Zürich 2000, S. 36
Fn. 30). Zu bemerken ist auch, dass im Eheschutz- oder Massnahmenverfahren
getroffene Anordnungen bei einer Veränderung der Verhältnisse abgeändert
oder aufgehoben werden können (Art. 179 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 137
Abs. 2 ZGB). Das zur Anwendbarkeit von Art. 138 Abs. 1 ZGB Festgehaltene
entspricht der Systematik des Gesetzes, stehen doch die Art. 135 ff. ZGB im
vierten Abschnitt unter dem Titel "Das Scheidungsverfahren". Wohl handelt
Art. 137 ZGB von den vorsorglichen Massnahmen, die im Rahmen des
Scheidungsprozesses angeordnet werden können, doch finden sich dort
keinerlei Regeln zum entsprechenden Verfahren.

  3.3  Gilt nach dem Gesagten Art. 138 Abs. 1 ZGB weder für das Eheschutz-
noch für das Massnahmenverfahren, stösst die Rüge, diese Bestimmung hätte
anstelle des kantonalen Rechts Anwendung finden müssen, ins Leere.