Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 1



Urteilskopf

133 III 1

  1. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Gesellschafter Y. und
Z. der X. Group gegen die Mitglieder R., S., T., U. und V. der
Erbengemeinschaft W. (Berufung)
  5C.126/2006 vom 23. August 2006

Regeste

  Art. 571 ZGB; Verwirkung der Ausschlagungsbefugnis durch Einmischung in
die Angelegenheiten der Erbschaft.

  Die Tatsache des Einholens einer Erbenbescheinigung bedeutet für sich
allein keine Einmischung in die Erbschaftsangelegenheiten im Sinne von Art.
571 Abs. 2 ZGB (E. 2 und 3).

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Gemäss Art. 580 Abs. 1 ZGB ist jeder Erbe, der die Befugnis hat, die
Erbschaft auszuschlagen, berechtigt, ein öffentliches Inventar zu verlangen.
Wird das Begehren von einem der Erben gestellt, so gilt es auch für die
übrigen (Art. 580 Abs. 3 ZGB). Es ist nicht bestritten, dass die Erbin S. am
9. September 2002, mithin am letzten Tag der Monatsfrist, ein öffentliches
Inventar beantragt hat, welches am 26. September 2002 mit Rechnungsruf
bewilligt worden ist. Bei dieser Sachlage gilt das Inventar nach dieser
Bestimmung auch für die übrigen Erben. Tatsächlich lief der Rechnungsruf im
November 2002 ab, so dass die Erben die Erbschaft nach dieser Bestimmung
unter öffentlichem Inventar annahmen.

Erwägung 3

  3.  Die Kläger machen geltend, die Beklagten, mit Ausnahme von S., hätten
die Erbschaft mit der Entgegennahme der Erbenbescheinigung am 19. August
2002 und mit andern Handlungen bereits vorher vorbehaltlos angenommen, indem
sie sich damit in die Erbschaft im Sinne von Art. 571 ZGB eingemischt
hätten.

  3.1  Gemäss Art. 571 Abs. 2 ZGB kann ein Erbe die Erbschaft nicht mehr
ausschlagen, wenn er sich vor Ablauf der Ausschlagungsfrist in die
Angelegenheiten der Erbschaft eingemischt oder Handlungen vorgenommen hat,
die nicht durch die blosse Verwaltung der Erbschaft und durch den Fortgang
der Geschäfte des Erblassers gefordert waren, oder wenn er die
Erbschaftssachen sich angeeignet oder verheimlicht hat. Es würde gegen Treu
und Glauben verstossen, wenn ein Erbe derartige Massnahmen treffen und
gleichzeitig doch das Ausschlagungsrecht wahren könnte (BGE 54 II 416 E. 4
S. 422; SCHWANDER, Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch II, 2. Aufl. 2003, N. 4
zu Art. 571 ZGB).

  3.2  Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Art. 580 Abs. 3
und Art. 571 Abs. 2 ZGB. Die Lehre ist sich darin einig, dass sich das
Inventar auf die ganze noch ungeteilte Hinterlassenschaft erstreckt, woraus
sie die Schlussfolgerung zieht, dass das von einem Erben gestellte Begehren
notwendigerweise in dem Sinne alle angeht, dass sie die Inventarisierung
gestatten und ihren Anteil an den Kosten tragen müssen. Nicht einig ist sich
die Lehre über die rechtlichen Wirkungen des Inventars. Die herrschende
Lehre nimmt an, nur dem Antragsteller stehe unter allen Umständen das Recht
zu, sich nach Abschluss des Inventars über den Erwerb der Erbschaft zu
erklären (Art. 587 und 588 ZGB), während den weiteren Erben

dieses Recht nur dann zustehe, wenn sie sich über den Erwerb noch nicht
abschliessend geäussert haben. Einzelne Autoren vertreten demgegenüber vorab
unter Hinweis auf ein Votum von E. Huber im Nationalrat die Meinung, das
Inventarbegehren komme auch dem zustatten, der bereits vorbehaltlos
angenommen habe (zu dieser Diskussion TUOR/PICENONI, Berner Kommentar, N. 14
zu Art. 580 ZGB, und ESCHER, Zürcher Kommentar, N. 14 zu Art. 580 ZGB,
welche die herrschende Lehre vertreten, je mit Hinweisen). Der
unwiderrufliche Charakter von Annahme und Ausschlagung (vgl. BGE 54 II 416
E. 6 S. 424), aber auch die Gefahr der Gläubigerschädigung und der Grundsatz
von Treu und Glauben sprechen gemäss TUOR/PICENONI (a.a.O.) für die
Unwiderruflichkeit dieses Gestaltungsrechts. Wie es sich damit letztlich
verhält, kann indessen dahingestellt bleiben, weil aus dem bisherigen
Verhalten der Miterben nicht geschlossen werden kann, diese hätten die
Erbschaft bereits vorbehaltlos angenommen.

  3.3  Was die Erbenbescheinigung anbelangt, welche sich die Beklagten am
19. August 2002 ausstellen liessen, hat das Obergericht Folgendes
festgestellt. R., die Witwe des Erblassers, sei gemäss letztwilliger
Verfügung von W. sel. mit der Regelung des Nachlasses ihres verstorbenen
Ehegatten beauftragt worden. Sie habe das Willensvollstreckermandat
entsprechend dem Wunsch ihres verstorbenen Ehegatten mit Schreiben an die
Gemeinde A. vom 14. August 2002 angenommen. Als Willensvollstreckerin habe
sie sich am 19. August 2002 von der Teilungsbehörde A. eine
Erbenbescheinigung zuhanden der Erben ausstellen lassen. Im vorliegenden
Fall habe R. offensichtlich ausschliesslich als Willensvollstreckerin
gehandelt. Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz annehmen durfte, dass R. durch
das Begehren der Erbenbescheinigung eine blosse Verwaltungshandlung
vorgenommen habe.

  3.3.1  In der älteren Lehre wird die Meinung vertreten, die Erwirkung
einer Erbenbescheinigung sei eine Handlung, aus der zwingend auf den
Annahmewillen, d.h. auf den Willen, die Erbschaft endgültig zu behalten,
geschlossen werden müsse, weshalb sie zum Verlust der Ausschlagungsbefugnis
führe (ESCHER, a.a.O., N. 9 zu Art. 571 ZGB; TUOR/PICENONI, a.a.O., N. 10 zu
Art. 571 ZGB). Gestützt auf die kantonale Rechtsprechung, die zunächst
zurückhaltend (ZR 85/1986 Nr. 87 S. 218) und später entschiedener (SJ 1988
S. 336; ZR 87/1988 Nr. 43 S. 105; Rep 1996 Nr. 46 S. 160) die Meinung
vertrat, dass das Ersuchen um Ausstellung einer Erbenbescheinigung

allein kein schlüssiges Verhalten darstellt, vertritt die jüngere Lehre
teilweise die Auffassung, dass das Einholen einer Erbenbescheinigung für
sich allein keine Einmischung bedeutet (DRUEY, Grundriss des Erbrechts, 5.
Aufl. 2002, § 15 Rz. 34 S. 220; KARRER, Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch
II, 2. Aufl. 2003, N. 50 zu Art. 559 ZGB; in diesem Sinn
GUINAND/STETTLER/LEUBA, Droit des successions, 6. Aufl. 2005, Ziff. 466 Fn.
837 S. 226, mit Hinweis auf KARRER und ZR 87/1988 S. 105; ferner STEINAUER,
Le droit des successions, Bern 2006, § 41 Rz. 978a S. 471, mit Betonung auf
die kantonale Praxis; a.M. SCHWANDER, a.a.O., N. 5 zu Art. 571 ZGB, mit
Hinweis auf TUOR/PICENONI). So kann sich der Gesuchsteller als juristischer
Laie über die Tragweite des Begehrens um Ausstellung eines Erbenscheins
nicht im Klaren sein (so ZR 85/1986 S. 219), oder dieser kann einzig den
Zweck haben, die Erbeneigenschaft des Gesuchstellers zu klären (SJ 1988 S.
336). Ein solches Begehren kann aber auch gestellt werden, um sich für
Verwaltungshandlungen bei Dritten zu legitimieren oder um die notwendigen
Auskünfte zu erlangen, die erlauben, sich ein Bild über den vorhandenen
Nachlass zu machen (ZR 87/1988 Nr. 43 S. 106) und z.B. Informationen von
Banken zu erhalten (PIOTET, Erbrecht, Schweizerisches Privatrecht, Bd. IV/2,
S. 720; Rep 1996 Nr. 46 S. 161 f.). Das Bundesgericht hat sich mit der
Frage, ob das Verlangen einer Erbenbescheinigung die Verwirkung der
Ausschlagungsbefugnis zur Folge habe, noch nie befassen müssen. Es hat
jedoch in BGE 54 II 416 E. 3 S. 420 erwogen, dass im Allgemeinen die Grenze,
wo eine Handlung über blosses Verwalten der Erbschaft hinausgeht bzw. für
den Fortgang der Geschäfte des Erblassers notwendig ist (Art. 571 Abs. 2
ZGB), von Fall zu Fall festgestellt werden muss. Diese Überlegungen legen
nahe, nach dem Zweck des Gesuchs und den Umständen von Fall zu Fall zu
entscheiden, ob sich der Gesuchsteller mit dem Einholen der
Erbenbescheinigung als Erbe betätigt oder allenfalls bloss eine
Verwaltungshandlung vorgenommen hat (vgl. BGE 70 II 199 E. 4 S. 206; 54 II
416 E. 3 und 4 S. 420 ff.). Daraus folgt, dass die Tatsache des Einholens
einer Erbenbescheinigung für sich allein keine Einmischung bedeutet.

  3.3.2  Im vorliegenden Fall hat das Obergericht für das Bundesgericht
verbindlich festgestellt, dass sich die Witwe des Erblassers in ihrer
Eigenschaft als Willensvollstreckerin die Erbenbescheinigung zuhanden der
Erben habe ausstellen lassen und daher ausschliesslich als
Willensvollstreckerin gehandelt habe. Als Willensvollstreckerin

hat sie die Verwaltung des Nachlasses zu besorgen, die laufenden Geschäfte
zu betreuen und für die Erhaltung und vorsichtige Mehrung der
Erbschaftswerte besorgt zu sein (vgl. Art. 517 und 518 ZGB).
Willensvollstrecker benötigen zwar für ihre Tätigkeit nicht unbedingt eine
Erbenbescheinigung, da sie ihre Kompetenzen aus eigenem Recht herleiten.
Geht es allerdings darum, beim Grundbuch oder anderswo die Identität der
Erben nachzuweisen, braucht der Willensvollstrecker eine Erbenbescheinigung
(KARRER, a.a.O., N. 7 zu Art. 559 ZGB) oder kann bei Bedarf sogar
verpflichtet sein, sich eine Erbenbescheinigung zu beschaffen (KARRER,
a.a.O., N. 16 zu Art. 518 ZGB). Jedenfalls wird der Willensvollstrecker als
berechtigt angesehen, die Ausstellung einer Erbenbescheinigung zu beantragen
(HANSJÜRG BRACHER, Der Willensvollstrecker, Diss. Zürich 1966, S. 36 Fn.
17). Wenn R. als zur Verwaltung der Erbschaft bevollmächtigtes Organ des
Nachlasses eine Erbenbescheinigung eingeholt hat, dann bedeutet dies für
sich allein keine endgültige Annahme der Erbschaft und damit keine
Einmischung im Sinne von Art. 571 Abs. 2 ZGB, sondern ist als
Verwaltungshandlung zu betrachten (vgl. KARRER, a.a.O., N. 7 und 50 zu Art.
559 ZGB; TUOR/PICENONI, a.a.O., N. 12 zu Art. 571 ZGB), zumal nach den
Tatsachenfeststellungen nichts darauf hindeutet, dass sie damit (noch) etwas
anderes bezweckt hätte, als ihr als Willensvollstreckerin oblag. Sie hätte
im Weiteren gar nicht die Befugnis gehabt, die Erbschaft für ihre Miterben
anzunehmen. Nach den Feststellungen der Vorinstanz kam die Witwe des
Erblassers zudem normalerweise nicht mit dem Erbrecht in Berührung. Sie
wusste daher nicht, dass in der Lehre teilweise die Auffassung besteht, das
Begehren um eine Erbenbescheinigung werde als Annahme der Erbschaft
ausgelegt. Die Grenze, wo die Verwaltungshandlung aufhört, notwendig zu
sein, soll nach der Rechtsprechung nicht eng gezogen werden (BGE 54 II 416
E. 3 S. 420); sie ist vorliegend nicht überschritten.

  3.4  Die Kläger führen weiter aus, sie hätten bereits in der Klageschrift
vom 19. Januar 2004 vorgebracht, dass sich die Witwe des Erblassers am 27.
September 2002 als Präsidentin des Verwaltungsrats der H. AG und der G. AG
habe wählen lassen, welche Unternehmungen zur Unternehmensgruppe des
verstorbenen W. gehörten. Zudem habe sich auch T. am 27. September 2002 als
Mitglied des Verwaltungsrats der G. AG wählen lassen. Indem sich die beiden
Beklagten als Verwaltungsratspräsidentin bzw. Verwaltungsrat hätten wählen
lassen, hätten sie den definitiven Entscheid, die Erbschaft

anzunehmen, gefällt. Im angefochtenen Entscheid fehlen Ausführungen zu
dieser Frage. Insbesondere fehlen dazu die erforderlichen tatsächlichen
Feststellungen. Das Bundesgericht ist im Berufungsverfahren grundsätzlich an
die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 43 Abs. 3 und
Art. 63 Abs. 2 OG) und neue Vorbringen sind vor Bundesgericht unzulässig
(Art. 55 Abs. 1 lit. c OG). Bei dieser Sachlage ist auf diesen Gesichtspunkt
nicht näher einzugehen.

  3.5  Zusammenfassend ist als Zwischenergebnis festzuhalten, dass das
Verhalten der Beklagten gestützt auf den für das Bundesgericht verbindlich
festgestellten Sachverhalt nicht als Einmischung in die Erbschaft im Sinne
von Art. 571 Abs. 2 ZGB zu werten ist. Bei dieser Sachlage haben die
Beklagten die Erbschaft unter öffentlichem Inventar angenommen (Art. 588
Abs. 1 ZGB).