Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 443



Urteilskopf

132 V 443

  51. Auszug aus dem Urteil i.S. D. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
  I 650/05 vom 14. August 2006

Regeste

  Art. 37 Abs. 1, Art. 44 und 61 lit. a ATSG: Anspruch auf Verbeiständung
anlässlich einer medizinischen Untersuchung.

  Anders als bei einer Verhandlung - allenfalls mit Beweisabnahme - vor
einer Verwaltungs- oder Rechtsmittelbehörde besteht kein Anspruch auf eine
anwaltliche Verbeiständung anlässlich einer medizinischen Begutachtung.
(Erw. 3)

Sachverhalt ab Seite 443

  A.- Die 1971 geborene D. meldete sich am 5. Oktober 1998 erstmals zum
Bezug von Leistungen bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des
Kantons Zürich ermittelte einen Invaliditätsgrad von 28 % und wies das
Ersuchen mit Verfügung vom 26. August 1999 ab. In der Folge eines erneuten
Leistungsbegehrens beauftragte

die IV-Stelle die MEDAS mit einer polydisziplinären Begutachtung, was der
Versicherten über ihren Rechtsvertreter mit Schreiben vom 12. November 2004
eröffnet wurde. Dieser antwortete der IV-Stelle mit Schreiben vom 18.
November 2004, dass er seine Klientin zur Untersuchung durch den Gutachter
und seine Konsiliarärzte begleiten werde. Dieses Ansinnen lehnte PD Dr. med.
Y., Chefarzt der Begutachtungsstelle, kategorisch ab. Der Gutachterauftrag
werde unter dieser Voraussetzung nicht angenommen. Die IV-Stelle
verpflichtete D. in der Folge mit Verfügung vom 5. Januar 2005 sich zwecks
Abklärung eines Anspruchs auf Leistungen der Invalidenversicherung einer
Untersuchung durch die MEDAS zu unterziehen. Nicht aus dem Dispositiv, wohl
aber aus den Erwägungen ging hervor, dass die Anwesenheit des
Rechtsvertreters bei der Begutachtung nicht zulässig sei.

  B.- D. liess mit dem Antrag, die Verbeiständung der Versicherten bei der
bevorstehenden Begutachtung sei zuzulassen, beim Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich Beschwerde erheben. Mit Entscheid vom 30. Juni 2005 wies
dieses die Beschwerde ab (...).

  C.- D. erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Rechtsbegehren, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Verbeiständung bei der
angeordneten Begutachtung sei zuzulassen (...).

  Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung, während das Bundesamt für
Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.  Streitig ist, ob sich eine versicherte Person, welche sich einer
medizinischen Begutachtung zu unterziehen hat, dabei verbeiständen lassen
kann.

  3.1  Die Vorinstanz begründete ihren Entscheid mit dem Verweis auf  einen
solchen vom 3. November 2004, dem die gleiche Sach- und Rechtslage zugrunde
lag, und wo sie diese Frage unter Hinweis auf BGE 119 Ia 260 verneint hatte.
In jenem Urteil, in welchem es um einen fürsorgerischen Freiheitsentzug
ging, hat das Bundesgericht ausgeführt, der in Art. 397f Abs. 2 ZGB
vorgesehene Rechtsbeistand der betroffenen Person müsse nicht zwingend in
jedem Verfahrensstadium anwesend sein. Es könne - gerade in ausgesprochen
persönlichkeitsbezogenen Angelegenheiten - durchaus

verantwortbar oder gar erforderlich sein, eine Person ohne Gegenwart ihres
Rechtsvertreters oder Beistandes anzuhören, um ein möglichst unverfälschtes
Bild ihrer Persönlichkeit zu erhalten. Erforderlich, aber auch genügend sei,
wenn die Partei nachträglich in das Gutachten Einblick und dazu Stellung
nehmen könne. Die dazu in der Literatur von JOST GROSS (in AJP 1994 S. 505
f.), später auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Verfahren
27154/95, Rec. 2001-III S. 21) geäusserte Kritik, galt insbesondere der
Personalunion von Gutachter und Fachrichter und nicht dem Ausschluss des
Rechtsvertreters bei der Begutachtung.

  3.2  Die Beschwerdeführerin stellt diese Analogie zur fürsorgerischen
Freiheitsentziehung in Frage. Im Unterschied dazu gehe es bei der
Beurteilung eines Anspruchs auf Versicherungsleistungen nicht um Eigen- oder
Fremdgefährdung. Der angefochtene Entscheid stehe in Widerspruch zu Art. 37
Abs. 1 ATSG.

  3.3  Nach Art. 37 Abs. 1 ATSG, der gemäss Art. 1 IVG auch im Verfahren vor
der IV-Stelle gilt, kann sich die Partei, wenn sie nicht persönlich zu
handeln hat, jederzeit vertreten oder verbeiständen lassen (frz. "se faire
assister", ital. "farsi patrocinare"). Die Befugnis, sich vertreten oder
verbeiständen zu lassen, hängt mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör
zusammen (BGE 119 Ia 261 Erw. 6a; Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts
vom 29. September 1994 [1P.210/1994 Erw. 3]): Die Partei ist Subjekt in
einem sie betreffenden Verwaltungsverfahren (BGE 116 Ia 99 Erw. 3) und hat
deshalb das Recht, am Verfahren teilzunehmen und sich dazu zu äussern (Art.
29 Abs. 2 BV; Art. 42 ATSG). Sie kann dieses Recht selber wahrnehmen oder
durch einen Vertreter wahrnehmen lassen oder sich dabei durch einen Beistand
unterstützen beziehungsweise begleiten lassen. Dies gilt auch dann, wenn die
Behörde Beweismassnahmen durchführt, an denen die Partei kraft ihrer
Parteiqualität teilnehmen kann. Ein grundsätzlicher Anspruch auf Teilnahme
besteht insbesondere bei Zeugeneinvernahmen und Augenscheinen (Art. 18 VwVG
in Verbindung mit Art. 55 ATSG; BGE 121 V 152 f. Erw. 4, 119 V 211 f. Erw.
3, 119 Ia 262 Erw. 6, 116 Ia 99 f. Erw. 3; MICHELE ALBERTINI, Der
verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren
des modernen Staates, Bern 2000, S. 352 ff.). Demnach besteht
selbstverständlich ein Anspruch darauf, sich bei derartigen Beweismassnahmen
vertreten oder verbeiständen zu lassen.

  3.4  Hingegen haben die Parteien nach der Rechtsprechung keinen Anspruch
darauf, an einer durch einen Sachverständigen durchgeführten Begutachtung
teilzunehmen (BGE 119 Ia 262 Erw. 6c, 99 Ia 47 Erw. 3). So hat das
Bundesgericht auch entschieden, dass im Rahmen eines Strafverfahrens Art. 6
Ziff. 1 EMRK nicht verletzt wird, wenn der Verteidiger an der Abnahme einer
Schriftprobe nicht anwesend sein konnte (Urteil vom 14. September 1999
[1P.405/1999 Erw. 3d]).

  3.5  Diese Differenzierung zwischen Verhandlung vor einem Gericht oder
einer Behörde einerseits und einer Begutachtung durch Experten andererseits
rechtfertigt sich insbesondere dann, wenn die Partei in einem Verfahren
selber Gegenstand der Beweismassnahme ist, namentlich wenn es darum geht,
den Gesundheitszustand der betroffenen Person abzuklären. Dabei ist diese
Person - anders als etwa bei einem Augenschein, wo es darum geht, unter
Mitwirkung der Parteien das Augenscheinsobjekt zu betrachten und zu würdigen
- nicht in erster Linie als Verfahrenspartei beteiligt, die sich zum
Begutachtungsobjekt äussert, sondern sie wird selber begutachtet (BGE 122 II
469 Erw. 4c). Es geht darum, dem medizinischen Begutachter eine möglichst
objektive Beurteilung zu ermöglichen, was bedingt, dass diejenigen
Rahmenbedingungen zu schaffen sind, die aus wissenschaftlicher Sicht am
ehesten geeignet sind, eine solche Beurteilung zu ermöglichen (BGE 119 Ia
262 Erw. 6c). Es muss eine Interaktion zwischen der begutachtenden und der
zu begutachtenden Person stattfinden (HANS-JAKOB MOSIMANN [Hrsg.], Aktuelles
im Sozialversicherungsrecht, Zürich 2001, S. 255 ff., 256 f.). Die
Begutachtung soll möglichst ohne äussere Einflussnahmen vorgenommen werden
(MEYER-BLASER, Das medizinische Gutachten aus sozialversicherungsrechtlicher
Sicht, in: SIEGEL/FISCHER [Hrsg.], Die neurologische Begutachtung, Zürich
2004, S. 91 ff., 107; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts vom 16. Juli 2001,
Erw. 4a, 5P.164/2001). Die Anwesenheit eines Rechtsbeistandes wäre diesem
Zweck nicht dienlich: Dessen Aufgabe ist es, die Interessen seiner
Klientschaft möglichst zu wahren. Er kann zu diesem Zweck auch einseitige
Ansichten vertreten und entsprechend im Verfahren intervenieren. Eine solche
Intervention verträgt sich indessen nicht mit der wissenschaftlichen
Begutachtung, wo es - ähnlich wie bei einer Zeugeneinvernahme,

bei welcher sich der Zeuge auch nicht verbeiständen lassen kann - darum
geht, dem Gutachter ein möglichst unverfälschtes und wahrheitsgetreues Bild
zu verschaffen.

  3.6  Würde man der zu begutachtenden Person das Recht zugestehen, auch
während der Begutachtung ihre Rechte als Verfahrenspartei wahrzunehmen
(selber oder mit Hilfe eines Rechtsbeistandes), so müsste dieses Recht aus
Gründen der Waffengleichheit selbstverständlich auch allfälligen weiteren
Parteien zugestanden werden, seien das der Versicherer oder interessierte
Dritte, wie beispielsweise die Pensionskasse (RKUV 2000 Nr. U 389 S. 299, U
391/99; nicht veröffentlichtes Urteil vom 12. November 1997 Erw. 2b, U
198/97). Auch diese könnten somit bei der Begutachtung anwesend sein und
entsprechend mitwirken. Sie müssten die gleichen Rechte haben wie der
Vertreter der zu begutachtenden Person, könnten also beispielsweise
Ergänzungsfragen und Anträge zur Vornahme weiterer Untersuchungen stellen.
Die Möglichkeit der Anwesenheit der Parteivertreter ist indessen nutzlos,
wenn die Untersuchung nicht unter der Leitung einer übergeordneten, den
"Augenschein an der Person" leitenden Behörde steht, welche über die Anträge
der Parteivertreter zu entscheiden hätte. Die Begutachtung würde dadurch den
Charakter einer kontradiktorischen Parteiverhandlung erhalten. Dies ist
gerade nicht der Sinn einer Begutachtung. Da die Regelung, ob der Vertreter
der zu begutachtenden Partei bei der Expertise anwesend sein darf, im
Verwaltungs- und Rechtsmittelverfahren nicht gegensätzlich sein darf, müsste
im Rechtsmittelverfahren die als "Augenschein" verstandene ärztliche
Untersuchung durch die Rechtsmittelinstanz, das heisst zumindest durch den
Instruktionsrichter, eventuell auch in Anwesenheit des ganzen Spruchkörpers,
geleitet werden. Dies könnte, namentlich bei psychiatrischen Begutachtungen,
mit den Persönlichkeitsrechten und der Menschenwürde der zu begutachtenden
Person in Konflikt treten. Zudem wäre das Resultat einer entsprechenden
Begutachtung fragwürdig. Damit ist offensichtlich, dass verfahrensrechtlich
die Differenzierung zwischen einer Verhandlung - allenfalls mit
Beweisabnahme - vor einer Behörde einerseits und der Begutachtung durch
einen Experten andererseits, gerechtfertigt ist. Die anders lautende
Meinungsäusserung von KIESER (ATSG-Kommentar, N 7 zu Art. 37) setzt sich mit
dem

grundlegenden Unterschied zwischen Begutachtung und Verfahrensbeteiligung
nicht auseinander und kann daher nicht überzeugen.

  3.7  Schliesslich ist in praktischer Hinsicht zu bedenken, dass weder die
Verwaltungs- noch die Rechtsmittelbehörden Experten finden würden, die ihre
- unter Wahrheitspflicht nach bestem Wissen und Gewissen - auszuführende
Tätigkeit unter diesen Voraussetzungen noch verrichten würden. Exemplarisch
diene hiezu die Weigerung des Leiters der MEDAS, PD Dr. med. Y., welcher
sich ausdrücklich nur unter der Voraussetzung zur Annahme des
Gutachterauftrages bereit erklärte, dass die Versicherte ohne Begleitung
ihres Rechtsvertreters erscheinen werde.