Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 418



Urteilskopf

132 V 418

  49. Auszug aus dem Urteil i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) gegen D. und Kantonsgericht Basel-Landschaft
  U 178/04 vom 18. August 2006

Regeste

  Art. 52 Abs. 1, Art. 56 Abs. 1, Art. 60 Abs. 1 ATSG: Beschwerde gegen
Zwischenverfügungen.

  Gegen Zwischenverfügungen des Unfallversicherers kann innert 30 Tagen
Beschwerde ans kantonale Sozialversicherungsgericht erhoben werden. (Erw. 2)

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 418

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Streitig ist, ob die Beschwerdefrist im vorinstanzlichen Verfahren
eingehalten worden ist.

  2.1  Das kantonale Gericht hat dies unter Annahme einer 30-tägigen
Beschwerdefrist bejaht. Dabei hat es erwogen, Art. 55 Abs. 1 ATSG, der
ergänzend auf das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG) verweise, gelte im
Rechtspflegeverfahren nicht. Art. 56 und 60

ATSG würden bezüglich der Beschwerdemöglichkeit von Verfügungen, gegen
welche eine Einsprache ausgeschlossen sei, nicht danach unterscheiden, ob
End- oder Zwischenverfügungen betroffen seien. Auch bezüglich der
Beschwerdefrist werde keine solche Differenzierung getroffen. Nur
hinsichtlich der Möglichkeit, Einsprache zu erheben, sehe Art. 52 ATSG vor,
dass gegen prozess- und verfahrensleitende Verfügungen direkt Beschwerde
beim kantonalen Versicherungsgericht einzureichen sei. Damit gelte die
30-tägige Beschwerdefrist nach Art. 60 ATSG ausdrücklich auch dort, wo es um
die Anfechtung einer Zwischenverfügung gehe. Im Gegensatz etwa zu Art. 104
MVG, welche Bestimmung eine zehntägige Frist statuiere, fehle in den für die
Beantwortung der vorliegenden Frage massgebenden Art. 105 ff. UVG eine
Bestimmung über die Beschwerdefrist hinsichtlich der Anfechtung von
Zwischenverfügungen. In Abweichung von Art. 60 ATSG sei lediglich
vorgesehen, dass die Beschwerdefrist bei Einspracheentscheiden über
Versicherungsleistungen drei Monate betrage. Eine einzelgesetzliche
Sondernorm im Sinne von Art. 2 ATSG fehle somit. Da Art. 60 ATSG für das
gesamte Rechtspflegeverfahren eine Frist von 30 Tagen vorsehe, erweise sich
die Beschwerde als rechtzeitig.

  2.2  Die SUVA stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt,
Zwischenverfügungen seien gemäss den Bestimmungen des
Verwaltungsverfahrensgesetzes innert 10 Tagen anzufechten. Die Vorinstanz
trage insbesondere dem übergeordneten Aspekt keine Rechnung, wonach im
Bundesverwaltungsverfahren (Art. 50 VwVG, Art. 106 OG) wie auch in den
Verfahren des öffentlichen kantonalen Rechts bei verfahrensleitenden
Verfügungen eine verkürzte Beschwerdefrist von 10 Tagen gelte. Wenn in Art.
56 ff. ATSG nicht zwischen End- und Zwischenentscheiden unterschieden werde,
handle es sich um ein gesetzgeberisches Versehen. Es liege daher eine
ausfüllungsbedürftige Gesetzeslücke vor. Diese sei in analoger Anwendung von
Art. 55 Abs. 1 ATSG dahingehend zu schliessen, dass gegen im
Abklärungsverfahren ergangene Zwischenentscheide eine zehntägige Frist
anzunehmen sei. Damit erweise sich die am 5. Dezember 2003 eingereichte
Beschwerde als verspätet.

  2.3
  2.3.1  Gemäss Art. 55 Abs. 1 ATSG bestimmen sich in den Art. 27-54 ATSG
oder in den Einzelgesetzen nicht abschliessend geregelte Verfahrensbereiche
nach dem VwVG. Der Wortlaut der Bestimmung spricht gegen die Annahme, dass
die dort normierten Grundsätze,

insbesondere Art. 50 VwVG, für das kantonale Rechtspflegeverfahren in
Sozialversicherungsangelegenheiten Geltung beanspruchen können, beschränkt
er doch die subsidiäre Anwendbarkeit des VwVG auf den Abschnitt "Auskunft,
Verwaltungshilfe, Schweigepflicht" (Art. 27-33 ATSG) und
"Sozialversicherungsverfahren" (Art. 34-54 ATSG), während die das
Rechtspflegeverfahren regelnden Art. 56-62 im Allgemeinen und die
Bestimmungen zum Beschwerderecht im Besonderen (Art. 56 ) nicht erwähnt
werden. Da gemäss Art. 52 Abs. 1 ATSG die Einsprache gegen
Zwischenverfügungen ausgeschlossen ist, muss direkt Beschwerde beim
kantonalen Versicherungsgericht erhoben werden, womit die Art. 56 ff. ATSG
zur Anwendung kommen, welche vom Verweis auf das VwVG nicht erfasst werden
(vgl. in diesem Sinne auch BGE 130 V 325 Erw. 2.2 sowie die Übersicht bei
KIESER, ATSG-Kommentar, N 9 zu Art. 55).

  2.3.2  Das Beschwerde- oder Rechtspflegeverfahren wird einheitlich und
umfassend in den Art. 56 bis 61 ATSG geregelt. Der Wortlaut von Art. 56 Abs.
1 ATSG lässt darauf schliessen, dass Verfügungen, gegen welche die
Einsprache ausgeschlossen ist (also prozess- und verfahrensleitende
Verfügungen) hinsichtlich ihrer Anfechtbarkeit einem Einspracheentscheid
gleichgestellt sind. In die gleiche Richtung weisen auch der
französischsprachige (Art. 52 Abs. 1 ATSG: Les décisions peuvent être
attaquées dans les trente jours par voie d'opposition auprès de l'assureur
qui les a rendues, à l'exception des décisions d'ordonnancement de la
procédure. Art. 56 Abs. 1 ATSG: Les décisions sur opposition et celles
contre lesquelles la voie de l'opposition n'est pas ouverte sont sujettes à
recours) und der italienischsprachige Wortlaut (Art. 52 Abs. 1 ATSG: Le
decisioni possono essere impugnate entro trenta giorni facendo opposizione
presso il servizio che le ha notificate; fanno eccezione le decisioni
processuali e pregiudiziali. Art. 56 Abs. 1 ATSG: Le decisioni su
opposizione e quelle contro cui un'opposizione è esclusa possono essere
impugnate mediante ricorso). Art. 60 Abs. 1 ATSG differenziert bezüglich
Beschwerdefrist ebenfalls nicht danach, ob eine End- oder eine
Zwischenverfügung angefochten wird. Dies bestätigen auch der französische
(Le recours doit être déposé dans les trente jours suivant la notification
de la décision sujette à recours) und der italienische (Il ricorso deve
essere interposto entro 30 giorni della notificazione della decisione o
della decisione contro cui l'opposizione è esclusa) Wortlaut.

  2.3.3  Der Bericht der Kommission des Ständerates zur Parlamentarischen
Initiative zum Allgemeinen Teil der Sozialversicherung vom 27. September
1990 enthielt eine einheitliche Beschwerdefrist von 30 Tagen. Auf längere
Beschwerdefristen, wie sie bisher in der Unfallversicherung und der
Militärversicherung gegolten hätten, könne angesichts der generellen
Einführung eines Einspracheverfahrens verzichtet werden. Die für das
Sozialversicherungsverfahren geltenden Vorschriften über den Fristenlauf und
die Säumnisfolgen sollten sinngemäss auch für das Beschwerdeverfahren
gelten. Kürzere Fristen wurden nicht erwähnt (BBl 1991 II 263). Im Bericht
der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit zur
Parlamentarischen Initiative Sozialversicherungsrecht vom 26. März 1999 wird
an der Beschwerdefrist von 30 Tagen festgehalten. Soweit die Einzelgesetze
längere Fristen vorsehen würden, sei die Abweichung entsprechend der
gesetzestechnischen Konzeption jeweils im Einzelgesetz zu vermerken. Die
3-monatigen Fristen von Unfall- und Militärversicherung sollten unverändert
bleiben. Bei der Ergänzungsleistung habe bisher für die Fristen kantonales
Verfahrensrecht gegolten. Neu seien auch in diesem
Sozialversicherungsbereich die Fristen des ATSG verbindlich (BBl 1999 4624).
Eine generelle zehntägige Frist für die Anfechtung von Zwischenverfügungen,
wie sie in anderen Gesetzen festgelegt worden ist (vgl. Art. 50 VwVG, Art.
106 Abs. 1 OG), hat in den Materialien keine Erwähnung gefunden, weshalb
kein Anlass für eine vom Wortlaut abweichende Interpretation besteht.
Ausnahmen von der 30-tägigen Frist müssen im jeweiligen Einzelgesetz
ausdrücklich statuiert werden, wie dies beispielsweise in Art. 104 MVG der
Fall ist, welcher eine zehntägige Frist für die Anfechtung von
Zwischenverfügungen vorsieht (BBl 1991 4729). Im Unfallversicherungsgesetz
fehlt eine vergleichbare Regelung.

  2.3.4  In der Literatur wird die Auffassung vertreten, die 30-tägige
Beschwerdefrist gelte auch für Zwischenverfügungen (KIESER, a.a.O., N 4 zu
Art. 60; ANDREAS FREIVOGEL, Zu den Verfahrensbestimmungen des ATSG, in:
SCHAFFHAUSER/KIESER [Hrsg.], Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts [ATSG], St. Gallen 2003, S. 118). Art. 52 Abs. 1
ATSG schliesse in diesem Bereich die Einreichung einer Einsprache aus,
worauf Art. 60 Abs. 1 ATSG ausdrücklich Bezug nehme und womit eine Parallele
zur Formulierung von Art. 56 Abs. 1 ATSG geschaffen werde. Weshalb der
Gesetzgeber bei der Anfechtung der Zwischenverfügung

nicht die in anderen Gesetzen festgelegte zehntägige Frist gewählt habe, sei
aus den Materialien nicht ersichtlich. Der Entscheid stehe wohl mit der
Entstehungsgeschichte von Art. 60 ATSG in Zusammenhang (KIESER, a.a.O., N 4
f. zu Art. 60).

  2.3.5  Die meisten der allgemeinen Verfahrensbestimmungen im 4. Kapitel
des ATSG stellen keine allgemeinen Rechtsgrundsätze dar (vgl. MEYER-BLASER,
Das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts
[ATSG] und das Schicksal der allgemeinen Rechtsgrundsätze des
Sozialversicherungsrechts, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI [Hrsg.],
Sozialversicherungsrechtstagung 2002, St. Gallen 2002, S. 119, insbesondere
S. 141). Gegen die Annahme, die zehntägige Frist für die Anfechtung von
Zwischenverfügungen stelle einen übergeordneten Rechtsgrundsatz dar, spricht
die Tatsache, dass die Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege
vom 28. Februar 2001 vorsieht, im Interesse einer Vereinfachung des
Verfahrens neu eine einheitliche Beschwerdefrist von 30 Tagen festzusetzen,
die für die Anfechtung von Zwischen- und Endverfügungen gleichermassen gilt.
Eine entsprechende Regelung enthalte das Bundesgerichtsgesetz (BBl 2001
4409, vgl. auch Art. 100 des noch nicht in Kraft stehenden Bundesgesetzes
über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005).

  2.3.6  Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich aufgrund der
Systematik und des Wortlautes des Gesetzes die Interpretation aufdrängt, das
ATSG sehe für die Beschwerde gegen Zwischenverfügungen eine 30-tägige Frist
vor. Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck der Norm und deren Zusammenhang
mit anderen Vorschriften ergeben keine hinreichenden Anhaltspunkte, um eine
dem Wortlaut widersprechende Auslegung zu rechtfertigen. Es spricht zudem
nichts für das Vorliegen einer Gesetzeslücke.

  2.4  Zu keinem abweichenden Ergebnis führen übergangsrechtliche
Überlegungen. Art. 82 Abs. 2 ATSG sieht vor, dass die Kantone ihre
Bestimmungen über die Rechtspflege innerhalb von fünf Jahren seit
Inkrafttreten des ATSG diesem Gesetz anzupassen haben und dass bis dahin die
bisherigen kantonalen Vorschriften gelten. Diese Bestimmung hat bisherige
kantonalrechtliche Bestimmungen zur Rechtspflege zum Gegenstand und bezieht
sich auf Art. 56 bis 61 ATSG. Davon erfasst ist daher auch Art. 60 ATSG über
die Beschwerdefrist (BGE 131 V 323 Erw. 5.2). Art. 82 Abs. 2 ATSG hat jedoch
keine Bedeutung für die Anwendung der Verfahrensnormen

des ATSG, welche einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des
Sozialversicherungsrechts beinhalten oder den Inhalt bundesrechtlicher
Bestimmungen wiederaufnehmen, welche für die Kantone schon vor dem 1. Januar
2003 galten. Die Tragweite der Bestimmung hängt somit insbesondere von der
bundesrechtlichen Reglementierung ab, wie sie vor dem Inkrafttreten des ATSG
im konkreten Sozialversicherungsbereich bestanden hatte (BGE 132 V 361). Die
Beschwerdefristen in der Unfallversicherung waren bereits bisher
bundesrechtlich geregelt (vgl. Art. 105 f. UVG in der bis 31. Dezember 2002
gültig gewesenen Fassung). Es bleibt im Bereich der Unfallversicherung mit
Bezug auf die Beschwerdefrist somit kein Raum für die Anwendung kantonaler
Verfahrensvorschriften während der in Art. 82 Abs. 2 ATSG enthaltenen
fünfjährigen (Übergangs-)Frist. Das kantonale Gericht hat somit nicht
Bundesrecht verletzt, wenn es von der Rechtzeitigkeit der Beschwerde
ausgegangen ist.