Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 412



Urteilskopf

132 V 412

  48. Auszug aus dem Urteil i.S. G. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) und Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich
  U 62/06 vom 7. September 2006

Regeste

  Art. 49 Abs. 1, 3 und 4, Art. 51 Abs. 1 und 2 ATSG; Art. 124 lit. a und b
UVV; Art. 19 UVG; alt Art. 99 Abs. 1 Satz 1 UVG: Die Einstellung von
Heilbehandlung und Taggeld ist bei Fallabschluss formell zu verfügen.

  Bei der Einstellung vorübergehender Leistungen (Taggeld, Heilbehandlung)
bemisst sich die Erheblichkeit nicht daran, wie lange diese erbracht worden
sind, denn die Erheblichkeit liegt nicht in der Beendigung dieses
vorausgegangenen - längeren oder kürzeren - Leistungsbezuges, sondern im
Fallabschluss ex nunc et pro futuro, da die versicherte Person mit keinerlei
Leistungen mehr rechnen kann. Der (Unfall-)Versicherer hat darum bei
Einstellung von Heilbehandlung und Taggeld den Fallabschluss formell zu
verfügen und darf ihn nicht im formlosen Verfahren behandeln. (Erw. 4)

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.

  1.3  Bis zum Inkrafttreten des ATSG schrieb Art. 99 Abs. 1 Satz 1 UVG in
der bis 31. Dezember 2002 gültigen Fassung (AS 1982 1706) vor, dass der
Versicherer über erhebliche Leistungen und Forderungen und über solche, mit
denen der Betroffene nicht einverstanden ist, schriftliche Verfügungen zu
erlassen hat. Diese Problematik ist jetzt in Art. 49 Abs. 1 ATSG geregelt.
Danach hat der Versicherungsträger über Leistungen, Forderungen und
Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene Person nicht
einverstanden ist, schriftlich Verfügungen zu erlassen. Leistungen,
Forderungen und Anordnungen, die nicht unter Art. 49 Abs. 1 ATSG fallen,
können nach Art. 51 Abs. 1 ATSG in einem formlosen Verfahren behandelt
werden; diesfalls räumt Abs. 2 dieser Bestimmung der betroffenen Person die
Möglichkeit ein, den Erlass einer Verfügung zu verlangen. Gemäss Art. 49
Abs. 3 ATSG werden die Verfügungen mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen.
Sie sind zu begründen, wenn sie den Begehren der Parteien nicht voll
entsprechen. Aus einer mangelhaften Eröffnung einer Verfügung darf der
betroffenen Person kein Nachteil erwachsen.

  1.4  Gemäss dem unter dem Recht des ATSG weiterhin gültigen Art. 124 UVV
ist eine schriftliche Verfügung insbesondere zu erlassen über die
Zusprechung von Invalidenrenten, Abfindungen, Integritätsentschädigungen,
Hilflosenentschädigungen, Hinterlassenenrenten und Witwenabfindungen sowie
die Revision von Renten und Hilflosenentschädigungen (lit. a), sowie über
die Kürzung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen (lit. b; vgl.
unten Erw. 4).

Erwägung 2

  2.  Streitig und zu prüfen ist, ob die SUVA die Einstellung von
Versicherungsleistungen (Heilbehandlung, Taggeld) im formlosen Verfahren
behandeln durfte oder formgültig zu verfügen hatte.

  2.1  Vor Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 umriss die Lehre die
Rechtslage wie folgt: Nach ALFRED MAURER erwähnt Art. 124 UVV - im Sinne von
Beispielen - wichtigere Sachverhalte, die eine Verfügung erfordern. Für die
grosse Masse der Fälle ist jedoch das De-facto-System, das der
administrativen Vereinfachung dient, zulässig: Die Versicherer können
Rechnungen aus der Pflegebehandlung bezahlen, über Taggelder und Prämien
ohne formelle Verfügungen abrechnen usw. Solche Leistungen gelten nicht als
"erheblich" im Sinne von alt Art. 99 Abs. 1 UVG. Wenn aber der Betroffene
mit ihnen nicht einverstanden ist, muss eine formelle Verfügung erlassen
werden (Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 603;
Bundessozialversicherungsrecht, Basel 1993, S. 419). PETER OMLIN (Die
Invalidität in der obligatorischen Unfallversicherung, Freiburg 1995, S.
288) spricht sich dafür aus, dass Entscheidungen in Invaliditätsfragen
(Rentenzusprechungen -revisionen etc.) zweifelsohne in der Form einer
schriftlichen Verfügung zu ergehen haben. Nach FRANZ SCHLAURI
(Grundstrukturen des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens in der
Sozialversicherung, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI, Verfahrensfragen in der
Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 56) kann eine De-facto-Entscheidung
an sich jedwelchen Entscheidungsinhalt haben, also nicht nur in einer
positiven Leistungsgewährung bestehen. Er verweist darauf, dass vor
Inkrafttreten des UVG unter dem KUVG Leistungseinstellungen bei der
Behandlung und beim Taggeld in der Unfallversicherung als
De-facto-Verfügungen behandelt wurden, wobei der Empfang der letzten
Leistung vor der Einstellung die Anfechtungsfrist von sechs Monaten auslöste
(Art. 9 Abs. 1 lit. c Verordnung II über die Unfallversicherung vom 3.
Dezember 1917 [BS 8 367]). Er fordert, schriftliche formlose Entscheidungen
müssten, wenn sie nicht "Fälle von geringer Bedeutung" betreffen, im
Hinblick auf das Recht auf eine formelle Verfügung mit einer
Rechtsmittelbelehrung versehen werden. Als nicht geringfügig bezeichnet er
zum Beispiel die Ablehnung eines Gesuchs um Bezahlung einer Zahnarztrechnung
von Fr. 1000.- (a.a.O., S. 58). ALEXANDRA RUMO-JUNGO (Das
Verwaltungsverfahren in der Unfallversicherung, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI,
Verfahrensfragen in der Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 196)

spricht sich dafür aus, dass nicht nur die Zusprechung einer Invalidenrente
nach Art. 124 lit. a UVV verfügungsweise festzulegen ist, sondern auch die
Ausrichtung eines längerdauernden Taggeldes oder einer sehr kostspieligen
Heilbehandlung, denn Art. 124 UVV zähle jene Gegenstände auf, über welche
insbesondere eine Verfügung zu erlassen sei.

  2.2  Die Interpretation der Hinweise in den Materialien zur Ausarbeitung
des ATSG führt zum Schluss, dass der Gesetzgeber im vorliegenden
Zusammenhang mit der Neuregelung keine grundsätzliche Änderung der
Rechtslage herbeiführen wollte:
- Wie im Bericht der Kommission des Ständerates vom 27. September 1990
  "Parlamentarische Initiative Allgemeiner Teil Sozialversicherung" (BBl 1991
  II 185 ff., hier: 261) ausgeführt ist, sollen die konkreten
  Rechtsverhältnisse in der ganzen Sozialversicherung grundsätzlich durch
  Verfügung geordnet werden. Dies ist von vornherein gegeben für Leistungen,
  Forderungen und Anordnungen von erheblicher Bedeutung, wie Renten und
  Abfindungen, Beitragsnachforderungen, wichtige Anordnungen zur
  Unfallverhütung und dergleichen. Andere Rechtsbeziehungen namentlich im
  Bereich der Taggelder, Sachleistungen, Arbeitgeber/Arbeitnehmerbeiträge
  und dergleichen sollen zweckmässigerweise auch weiterhin in formloser
  Weise durch Abrechnungen oder Mitteilungen abgewickelt werden können (sog.

  De-facto-Erledigung). Es muss jedoch auch in diesen Fällen eine Verfügung
  ergehen, wenn der Betroffene mit der Erledigung nicht einverstanden ist.

  Auch eine Feststellungsverfügung ist auf Gesuch hin zu erlassen, wenn ein
  schutzwürdiges Interesse nachgewiesen ist. Dieses Konzept wird im
  Allgemeinen Teil verankert; den Einzelgesetzen bleibt es überlassen, die
  "verfügungspflichtigen" bzw. vorerst formlos zu erledigenden Geschäfte
  einzeln zu bezeichnen.
- Laut dem Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit
  und Gesundheit (SGK-NR) vom 26. März 1999 "Parlamentarische Initiative
  Sozialversicherungsrecht" (BBl 1999 4523 ff., hier: 4608) entspricht Art.

  99 UVG (im damaligen Wortlaut) im Wesentlichen der neuen Regelung in Art.

  56 der von der SGK-NR vorgeschlagenen Fassung ("Über erhebliche
  Leistungen, Forderungen und Anordnungen und über solche, mit denen der
  Betroffene nicht einverstanden ist, hat der Versicherungsträger
  schriftlich Verfügungen zu erlassen"). Da

  das formlose Verfahren sehr unterschiedliche Abläufe in der
  Sozialversicherung beschlägt, erachtet es die SGK-NR als falsch, eine
  Frist zu fixieren, innert welcher der Betroffene den Erlass einer
  Verfügung verlangen kann (BBl 1999 4610). Sie spricht sich damit gegen den
  Vorschlag des Bundesrates in der vertieften Stellungnahme vom 17. August
  1994 "Parlamentarische Initiative Sozialversicherung" (BBl 1994 V 921 ff.,
  hier: 949) aus, im Interesse der Rechtssicherheit vorzusehen, dass im
  formlosen Verfahren innerhalb eines Jahres seit Entstehen des Anspruches
  der Erlass einer Verfügung verlangt werden kann.

Erwägung 3

  3.  In der parlamentarischen Beratung des ATSG ist die sich auch unter dem
neuen Recht stellende zentrale Frage nach der Erheblichkeit von Leistungen,
Forderungen und Anordnungen nicht direkt angesprochen worden. Gemäss KIESER
schreibt Art. 49 Abs. 1 ATSG aber ausdrücklich den Erlass der schriftlichen
Verfügung als Grundsatz vor. Damit wird ein besonderes Verfahren festgelegt,
welches etwa die stillschweigende Verfügung ausschliesst (ATSG-Kommentar, N
2 zu Art. 49). Die Erheblichkeitsgrenze - soweit sie frankenmässig bestimmt
werden kann - liegt bei einigen hundert Franken und umfasst alle
periodischen Leistungen (N 8 zu Art. 49, mit Hinweis auf die Umschreibung
der auch bei der Wiedererwägung von Verfügungen massgebenden Grenze in ZAK
1989 S. 518 sowie auf N 21 zu Art. 53). Auch nach LOCHER (Grundriss des
Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2003, S. 432 Rz 22 ff.) geht Art.
49 Abs. 1 ATSG vom Grundsatz aus, dass die Sozialversicherung verpflichtet
ist, autoritativ verbindlich mit einer Verfügung über Leistungen,
Forderungen und Anordnungen zu befinden. Ausnahmen von der Verfügungspflicht
sind nur zulässig, wenn die Pflichten und Rechte unerheblich sind und die
betroffene Person mit dem Verwaltungsakt einverstanden ist. Soweit sich die
Erheblichkeit in Geld ausdrücken lässt, dürfte es sich auch nach diesem
Autor bei einmaligen Leistungen um solche bis zu einem Wert von einigen
hundert Franken handeln, während periodische Geldleistungen immer als
erheblich einzustufen sind. Zudem hat der Versicherer in der formlosen
schriftlichen Mitteilung auf das Recht aufmerksam zu machen, eine Verfügung
zu verlangen, und zwar nicht nur dann, wenn das Einzelgesetz eine
entsprechende Bestimmung enthält (wie zum Beispiel Art. 74quater IVV),
sondern generell gestützt auf die Beratungspflicht in Art. 27 Abs. 2 ATSG
(LOCHER, a.a.O., S. 433 Rz 25).

Erwägung 4

  4.  Auch wenn mit der Ersetzung von alt Art. 99 Abs. 1 Satz 1 UVG durch
Art. 49 Abs. 1 ATSG nichts Grundsätzliches geändert werden sollte (vgl.
vorne Erw. 1.3, 1.4, 2 und 3), so ist doch klar bestätigt worden, dass die
konkreten Rechtsverhältnisse prinzipiell durch Verfügung zu ordnen sind und
dies von vornherein gegeben ist bei der Regelung von Leistungen von
erheblicher Bedeutung (Erw. 2.2). Die Erheblichkeit bemisst sich bei der
Einstellung vorübergehender Leistungen (Taggeld, Heilbehandlung) nicht
danach, wie lange diese erbracht worden sind; denn die Erheblichkeit liegt
nicht in der Beendigung dieses vorausgegangenen - längeren oder kürzeren -
Leistungsbezuges, sondern im Fallabschluss ex nunc et pro futuro, da die
versicherte Person mit keinerlei Leistungen mehr rechnen kann. Darum ist die
Anordnung des Fallabschlusses ohne Zusprechung von Dauerleistungen
(Invalidenrente und/oder Integritätsentschädigung) gleich zu behandeln wie
der Fallabschluss mit Zusprechung solcher Leistungen, das heisst, es muss in
beiden Fällen formell verfügt werden. Damit wird im Rahmen von Art. 19 UVG
eine administrative Gleichbehandlung der beiden Abschlussarten erreicht und
durch eine kohärente Verwaltungspraxis Rechtssicherheit geschaffen. Soweit
im Urteil vom 23. Mai 2006 (U 316/05) Erw. 3.1 mit dem Hinweis, dass der
Unfallversicherer auch unter der Herrschaft des ATSG über eine
Leistungsablehnung im formlosen Verfahren entscheiden könne, im Zusammenhang
mit einem Fallabschluss etwas anderes geäussert wurde, kann daran nicht
festgehalten werden. Damit ist aber nicht gesagt, dass ein Fallabschluss
ohne weitere Leistungszusprechung immer sogleich formell verfügt werden
muss. Je nach Verlauf des Heilungsprozesses kann der Unfallversicherer damit
ohne weiteres einmal zuwarten und die Entwicklung beobachten, bevor er
verfügt, was durchaus sachgerecht und dem Einzelfall angepasst ist. Einzelne
unerhebliche Leistungen dürfen dagegen weiterhin formlos abgelehnt werden,
soweit dies unbestritten bleibt.

Erwägung 5

  5.  Das zur Begründung der Position der Beschwerdegegnerin unter Verweis
auf das Urteil vom 14. Juli 2003 (C 7/02) verwendete Zitat im
Einspracheentscheid und die ganze angeführte Rechtsprechung betrifft die
Arbeitslosenversicherung. Hier gilt jedoch - ausdrücklich abweichend von
Art. 49 Abs. 1 ATSG und vorbehältlich der in Art. 36 Abs. 4, 45 Abs. 4 und
59c AVIG genannten Regelungstatbestände - grundsätzlich - und mit
Einschränkungen - das formlose Verfahren (Art. 100 Abs. 1 AVIG in Verbindung

mit Art. 51 Abs. 1 ATSG). Damit dort nach einer gewissen Dauer
Rechtsbeständigkeit und Rechtssicherheit eintreten können, bedarf es ebenso
zeitlicher Schranken wie in einem Rechtsmittelverfahren, in dem dies durch
klar gesetzte Fristen gewährleistet wird. Die Rechtsbeständigkeit gilt bei
Zulässigkeit formloser Verfügungen als eingetreten, wenn anzunehmen ist,
eine versicherte Person habe sich mit einer getroffenen Regelung abgefunden,
was dann der Fall ist, wenn die nach den Umständen zu bemessende
Überlegungs- und Prüfungsfrist abgelaufen ist, welche der versicherten
Person zusteht, um sich gegen das faktische Verwaltungshandeln zu verwahren
(BGE 129 V 111 Erw. 1.2.2 mit Hinweisen; SVR 2004 AlV Nr. 1 S. 2 Erw. 3.1
[Urteil vom 14. Juli 2003, C 7/02]).