Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 387



Urteilskopf

132 V 387

  45. Auszug aus dem Urteil i.S. IV-Stelle Bern gegen Z. und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern
  I 193/04 vom 14. Juli 2006

Regeste

  Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 8 ATSV: Akteneinsichtsrecht.

  Verletzung des rechtlichen Gehörs im Einspracheverfahren, Heilung im
Gerichtsverfahren. (Erw. 5)
  Um Akteneinsicht zu erhalten, hat eine Partei grundsätzlich ein Gesuch
einzureichen. Dies bedingt, dass die Beteiligten über den Beizug neuer
entscheidwesentlicher Akten informiert werden, welche diese nicht kennen und
auch nicht kennen können. (Erw. 6.2)
  Über Begehren um Akteneinsicht hat primär diejenige Behörde zu befinden,
in deren Zuständigkeitsbereich die Akten gehören. Im Beschwerdeverfahren ist
dies die Rechtsmittelinstanz. (Erw. 6.3)

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

  1.

  1.1  Das kantonale Gericht hat die Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid vom 24. November 2003 aus formellen Gründen
gutgeheissen. Dabei hat es erwogen, die IV-Stelle habe im
Einspracheentscheid im Wesentlichen auf die Stellungnahme ihres
Abklärungsdienstes vom 11. August 2003 und auf die Gewerbestatistik
2001/2002 abgestellt. Sie habe somit dem Dossier neue Akten beigefügt und
sich bei der Entscheidfindung darauf gestützt, ohne den Versicherten darüber
informiert zu haben. In diesem Vorgehen der Verwaltung erblickt die
Vorinstanz eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Angesichts
der erheblichen Versäumnisse komme eine Heilung der Gehörsverletzung nicht
in Betracht. Es hob daher den Einspracheentscheid auf und wies die Sache an
die IV-Stelle zurück, damit sie dem Versicherten das rechtliche Gehör
gewähre und hernach neu verfüge.

  1.2  Die IV-Stelle macht demgegenüber geltend, die Stellungnahme des
Abklärungsdienstes habe keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse enthalten.
Sie habe lediglich dazu gedient, im Rahmen des internen
Entscheidfindungsprozesses die Ergebnisse des Abklärungsberichts vom 21. Mai
2003 zu erläutern. Die Gewerbestatistik sei sodann nur zu Vergleichszwecken
herangezogen worden. Sie sei somit für die Entscheidfindung nicht massgebend
gewesen.

Erwägung 2

  2.  (Anspruch auf rechtliches Gehör; vgl. BGE 132 V 368 mit Hinweisen)

Erwägung 3

  3.

  3.1  Aus Inhalt und Funktion des Akteneinsichtsrechts als Teil des
Anspruchs auf rechtliches Gehör folgt nach der Rechtsprechung, dass
grundsätzlich sämtliche beweiserheblichen Akten den Beteiligten gezeigt
werden müssen, sofern in der sie unmittelbar betreffenden Verfügung darauf
abgestellt wird. Denn es gehört zum Kerngehalt des rechtlichen Gehörs, dass
der Verfügungsadressat vor Erlass eines für ihn nachteiligen
Verwaltungsaktes zum Beweisergebnis Stellung nehmen kann. Das
Akteneinsichtsrecht ist somit eng mit dem Äusserungsrecht verbunden,
gleichsam dessen

Vorbedingung. Der Versicherte kann sich nur dann wirksam zur Sache äussern
und geeignete Beweise führen oder bezeichnen, wenn ihm die Möglichkeit
eingeräumt wird, die Unterlagen einzusehen, auf welche sich die Behörde bei
ihrer Verfügung gestützt hat. Das rechtliche Gehör dient in diesem Sinne
einerseits der Sachaufklärung und stellt anderseits ein
persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht im Verfahren dar. Daraus ergibt
sich, dass der Versicherer, welcher neue Akten beizieht, auf die er sich in
seiner Verfügung zu stützen gedenkt, grundsätzlich verpflichtet ist, die
Beteiligten über den Aktenbeizug zu informieren (BGE 115 V 302 Erw. 2e).

  3.2  Das Akteneinsichtsrecht bezieht sich auf sämtliche
verfahrensbezogenen Akten, die geeignet sind, Grundlage des Entscheids zu
bilden. Die Akteneinsicht ist demnach auch zu gewähren, wenn die Ausübung
des Akteneinsichtsrechts den Entscheid in der Sache nicht zu beeinflussen
vermag. Die Einsicht in die Akten, die für ein bestimmtes Verfahren erstellt
oder beigezogen wurden, kann demnach nicht mit der Begründung verweigert
werden, die fraglichen Akten seien für den Verfahrensausgang belanglos. Es
muss vielmehr dem Betroffenen selber überlassen sein, die Relevanz der Akten
zu beurteilen (Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 13. August
1996, 2A.444/1995).

Erwägung 4

  4.

  4.1  Nach Art. 42 ATSG haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör.
Sie müssen nicht angehört werden vor Verfügungen, die durch Einsprache
anfechtbar sind. Spätestens im Einspracheverfahren hat die Verwaltung jedoch
die allgemeinen Grundsätze des rechtlichen Gehörs zu wahren und folglich der
versicherten Person oder ihrem Vertreter Einsicht in die Akten zu gewähren,
auf deren Grundlage sie den Einspracheentscheid abstützt (vgl. RKUV 1992 Nr.
U 152 S. 200 Erw. 3b). Wird nach Erhebung einer Einsprache festgestellt,
dass die Entscheidungsgrundlagen unvollständig sind, so ist der Sachverhalt
unter Wahrung der Parteirechte zu vervollständigen und das
Verwaltungsverfahren mit dem Einspracheentscheid abzuschliessen (BGE 131 V
413 Erw. 2.1.2.2).

  4.2  Die IV-Stelle hatte dem Versicherten den Abklärungsbericht für
Selbstständigerwerbende vom 21. Mai 2003 zusammen mit der Verfügung vom 29.
Mai 2003 zugestellt. Für den Beschwerdegegner bestand daher kein Anlass, im
Verwaltungsverfahren ein Gesuch um Akteneinsicht zu stellen. Die IV-Stelle
hätte ihm nach

dem in Erw. 4.1 Gesagten die im Einspracheverfahren eingeholte Stellungnahme
des Abklärungsdienstes vom 11. August 2003 samt Beilage von sich aus vor
Erlass des Einspracheentscheids zur Stellungnahme überlassen müssen.

Erwägung 5

  5.

  5.1  Das Recht auf Akteneinsicht ist wie das Recht, angehört zu werden,
formeller Natur. Die Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht führt
ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur
Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Vorbehalten bleiben praxisgemäss
Fälle, in denen die Verletzung des Akteneinsichtsrechts nicht besonders
schwer wiegt und dadurch geheilt wird, dass die Partei, deren rechtliches
Gehör verletzt wurde, sich vor einer Instanz äussern kann, welche sowohl die
Tat- als auch die Rechtsfragen uneingeschränkt überprüft (BGE 115 V 305 Erw.
2h; RKUV 1992 Nr. U 152 S. 199 Erw. 2e). Von einer Rückweisung der Sache zur
Gewährung des rechtlichen Gehörs an die Verwaltung ist im Sinne einer
Heilung des Mangels selbst bei einer schwer wiegenden Verletzung des
rechtlichen Gehörs dann abzusehen, wenn und soweit die Rückweisung zu einem
formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde,
die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei
an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären
(BGE 116 V 187 Erw. 3d).

  5.2  Dass die Stellungnahme des Abklärungsdienstes vom 11. August 2003
eine wesentliche Grundlage des Einspracheentscheids bildete, kann nicht
zweifelhaft sein. Die IV-Stelle hat deren Argumentation praktisch integral
übernommen und bezüglich der einzelnen Einwände des Einsprechers umfassend
daraus zitiert. Aus diesem Umstand kann indessen nicht gefolgert werden, die
Nichtzustellung dieses Berichts vor Erlass des Einspracheentscheids stelle
eine schwere, keiner Heilung zugängliche Verletzung des rechtlichen Gehörs
dar. Der Abklärungsdienst bestätigte nämlich in allen wesentlichen Punkten
lediglich die der Verfügung vom 29. Mai 2003 zugrunde gelegte Beurteilung.
Sein Ergänzungsbericht enthält keine neuen entscheidrelevanten
Gesichtspunkte, sondern äussert sich einzig zu den in der Einsprache
vorgebrachten Rügen. Selbst wenn eine Gehörsverletzung zu bejahen ist, muss
sie mit Blick auf die Verfahrensdauer und das Interesse des Versicherten an
einem raschen Abschluss des Verfahrens als leicht bezeichnet werden, so dass
trotz der Zurückhaltung,

welche sich das Eidgenössische Versicherungsgericht bei der Prüfung der
Frage auferlegt, ob eine Vorinstanz einen (festgestellten) Verfahrensmangel
zu Recht als unheilbar erachtet hat (vgl. RKUV 1998 Nr. U 309 S. 461 Erw.
3c), die Aufhebung des Einspracheentscheids ohne materielle Beurteilung der
Sache Bundesrecht verletzt.

Erwägung 6

  6.

  6.1  Der Beschwerdegegner hat im vorinstanzlichen Verfahren denn auch
keine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Einsprachebehörde gerügt
und keinen Antrag auf Rückweisung der Sache an die Verwaltung gestellt und
somit in keiner Weise angezeigt, dass ihm an einem formell richtigen
Verfahren mehr liegt als an einer beförderlichen Verfahrenserledigung (vgl.
BGE 119 V 218). Vielmehr hat er einzig Aktenedition verlangt, verbunden mit
der Möglichkeit, anschliessend dazu Stellung nehmen zu können. Damit hat er
zum Ausdruck gebracht, dass er zumindest in die von der Verwaltung
beigezogenen Akten Einsicht nehmen und sich dazu äussern möchte, bevor das
Gericht über die materielle Rechtmässigkeit des Einspracheentscheids
befindet.

  6.2  Grundsätzlich hat eine Partei ein Gesuch um Akteneinsicht zu stellen,
damit überhaupt die Einsichtnahme gewährt oder verweigert werden kann (vgl.
SVR 2002 IV Nr. 32 S. 103; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und
Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, Rz 298). So kann
der Versicherer gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSV die Gewährung der Akteneinsicht
von einem schriftlichen Gesuch abhängig machen. Allerdings bedingt dies,
dass die Beteiligten über den Beizug neuer entscheidwesentlicher Akten
informiert werden, welche diese nicht kennen und auch nicht kennen können
(KÖLZ/BOSSHART/RÖHL, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons
Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, N 71 zu § 8; MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG,
Kommentar zum Gesetz vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege des
Kantons Bern, Bern 1997, S. 196; Kieser, ATSG-Kommentar, N 20 zu Art. 47).

  6.3  Die Entscheidung über Einsichtsbegehren obliegt in erster Linie
derjenigen Behörde, in deren Zuständigkeitsbereich die Akten gehören. Da mit
der Erhebung einer Beschwerde die Sache aufgrund des Devolutiveffekts in den
Zuständigkeitsbereich der Rechtsmittelinstanz übergeht, liegt es in deren
Zuständigkeit, die Akteneinsicht zu gewähren, zu verweigern und zu
bestimmen, inwieweit

Kenntnis zu geben ist, wenn im Beschwerdefall Akteneinsicht verlangt wird
(nicht veröffentlichtes Urteil vom 12. Februar 1992, I 230/91; vgl. auch ZAK
1988 S. 38). In der vorinstanzlichen Vernehmlassung vom 6. Februar 2004 hält
die IV-Stelle fest, die genannten Unterlagen befänden sich in den Akten und
würden auf Gesuch hin ohne weiteres zur Verfügung gestellt.

  6.4  Das kantonale Gericht hätte somit über die Akteneinsicht mit der
Möglichkeit der betroffenen Partei, sich zu den fraglichen Unterlagen zu
äussern, selber befinden müssen und die Sache nicht zu deren Vollzug an die
Verwaltung zurückweisen dürfen.