Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 368



Urteilskopf

132 V 368

  43. Auszug aus dem Urteil i.S. A. gegen IV-Stelle Bern und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern
  I 158/04 vom 30. Juni 2006

Regeste

  Art. 42, Art. 43 Abs. 1, Art. 52 Abs. 1 ATSG; Art. 29, Art. 30 Abs. 1 und
2 lit. b VwVG; Art. 29 Abs. 2 BV: Sachverhaltsabklärung und Wahrung des
rechtlichen Gehörs im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren.

  Die Verwaltung hat den rechtserheblichen Sachverhalt vor Verfügungserlass
abzuklären und darf diese Aufgabe nicht ins Einspracheverfahren verlegen.
Vorbehalten bleiben ergänzende Abklärungen, zu denen die in der Einsprache
vorgebrachten Einwände Anlass geben.

  Die Abklärung des Sachverhalts und die Gewährung des rechtlichen Gehörs
sind klar zu unterscheiden. Die Anhörung der Parteien, welche einen
Teilgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellt, ist im
Abklärungsverfahren vor Verfügungen, die durch Einsprache anfechtbar sind,
nicht erforderlich. Diesbezüglich enthält das ATSG eine abschliessende
Regelung.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.  In formeller Hinsicht lässt die Beschwerdeführerin - wie bereits im
Einsprache- und im Beschwerdeverfahren - eine Verletzung ihres Anspruchs auf
rechtliches Gehör rügen, welche sie darin erblickt, dass ihr das Gutachten
des Zentrums X. vom 6. November 2002 nicht vor Verfügungserlass zugestellt
wurde. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach bei der Konstellation der
Anordnung eines Gutachtens vor Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 und
des Erlasses der Verfügung über den Leistungsanspruch nach diesem Datum eine
ausnahmsweise Heilung der Gehörsverletzung anzunehmen sei, da das
Einspracheverfahren die Funktion des bisherigen Vorbescheidverfahrens nach
Art. 73bis IVV übernehme, verstosse gegen die Übergangsregelung von Art. 82
ATSG.

Erwägung 2

  2.

  2.1  Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten.
Dessen Bestimmungen sind gemäss Art. 2 ATSG auf die bundesgesetzlich
geregelten Sozialversicherungen anwendbar, wenn und soweit die einzelnen
Sozialversicherungsgesetze es vorsehen, was für die Invalidenversicherung
zutrifft (Art. 1 Abs. 1 IVG in der vom 1. Januar bis 31. Dezember 2003
gültig gewesenen Fassung). Gemäss Art. 82 Abs. 1 Satz 1 ATSG sind dessen
materielle Bestimmungen auf die beim Inkrafttreten laufenden Leistungen und
festgesetzten Forderungen nicht anwendbar. Wie es sich - vom kantonalen
Verfahrensrecht abgesehen - mit der intertemporalrechtlichen Anwendbarkeit
der formellen Vorschriften verhält, lässt sich dem ATSG nicht entnehmen.
Nach der Rechtsprechung sind neue Verfahrensvorschriften mangels anders
lautender Übergangsbestimmungen mit dem Tag des Inkrafttretens sofort und in
vollem Umfang anwendbar (RKUV 1998 Nr. KV 37 S. 316 Erw. 3b mit Hinweisen).
Die allgemeinen Verfahrensbestimmungen des 4. Kapitels des ATSG (Art. 27-62)
treten somit grundsätzlich sofort in Kraft. Der intertemporalrechtliche
Grundsatz der sofortigen Anwendbarkeit gilt dort nicht, wo hinsichtlich des
verfahrensrechtlichen Systems zwischen altem und neuem Recht keine
Kontinuität besteht und mit dem neuen Recht eine grundlegend neue
Verfahrensordnung geschaffen worden ist (BGE 130 V 4 Erw. 3.2, 129 V 115
Erw. 2.2, 112 V 360 Erw. 4a; RKUV 1998 Nr. KV 37 S. 316 Erw. 3b; SVR 1995 MV
Nr. 4 S. 12 Erw. 2b).

  2.2  Im Zusammenhang mit dem Abklärungsverfahren vor den IV-Stellen hat
das ATSG keine gänzlich neuen rechtlichen Strukturen geschaffen, weshalb die
neuen Verfahrensvorschriften grundsätzlich mit dem Tag des Inkrafttretens
sofort anwendbar sind. Die Kontinuität des alten und neuen
verfahrensrechtlichen Systems und damit die sofortige und umfassende
Anwendbarkeit des neuen Prozessrechts ist indessen in dem Sinne zu
relativieren, als neues Recht nicht auf alle im Zeitpunkt seines
Inkrafttretens noch hängigen Verfahren Anwendung findet. Dabei ist bezüglich
der verfahrensrechtlichen Neuerungen des ATSG auf den Zeitpunkt abzustellen,
in welchem sich die strittige Verfahrensfrage stellt oder darüber
entschieden wurde. Liegt der Streitgegenstand in diesem Sinne vor dem 1.
Januar 2003, ist gestützt auf die altrechtlichen Bestimmungen zu befinden.
Ein unter den alten Verfahrensvorschriften eingeleitetes
Administrativverfahren nimmt sodann unter der Hoheit des neuen Rechts seinen
Fortgang, ohne dass deswegen bereits getroffene Anordnungen, welche
unangefochten geblieben sind oder bisher nicht angefochten werden konnten,
nach den Regeln des neuen Rechts neu aufzurollen wären (Urteil vom 25.
August 2004, I 570/03, erwähnt in ZBJV 2004 S. 749).

  2.3  Die IV-Stelle hat der Versicherten am 16. März 2001 mitgeteilt, es
sei eine medizinische Abklärung notwendig, welche durch die Medizinische
Abklärungsstelle (MEDAS) durchgeführt werde. Wenn sie damit nicht
einverstanden sei, könne sie eine beschwerdefähige Verfügung verlangen. Die
Beschwerdeführerin hat dagegen keine Einwände erhoben. Das Gutachten ist am
6. November 2002 und somit noch unter der vor Inkrafttreten des ATSG gültig
gewesenen Rechtsordnung ergangen. Der unter dem Titel "Gutachten" stehende
Art. 44 ATSG, welcher die Mitwirkungsrechte der versicherten Person bei der
Einholung von Sachverständigengutachten regelt, findet nach dem unter Erw.
2.2 Gesagten auf diese Gutachtenanordnung keine Anwendung. Es muss daher in
diesem Verfahren nicht geprüft werden, ob MEDAS-Gutachten überhaupt unter
die Bestimmung von Art. 44 ATSG fallen.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV haben die Parteien Anspruch auf rechtliches
Gehör. Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung,
andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim
Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung einer Person
eingreift. Dazu gehört insbesondere

deren Recht, sich vor Erlass des in ihre Rechtsstellung eingreifenden
Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht
in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und
an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich
zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den
Entscheid zu beeinflussen (BGE 129 II 504 Erw. 2.2, 127 I 56 Erw. 2b, 127
III 578 Erw. 2c, 126 V 131 Erw. 2b; zu Art. 4 Abs. 1 aBV ergangene,
weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 126 I 16 Erw. 2a/aa, 124 V 181 Erw.
1a, 375 Erw. 3b, je mit Hinweisen).

  3.2  Das auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretene ATSG kennt kein
Vorbescheidverfahren, wie es Art. 73bis Abs. 1 IVV (in der bis 31. Dezember
2002 gültig gewesenen Fassung) in der Invalidenversicherung bisher
vorgesehen hatte. Auf den 1. Januar 2003 wurde deshalb u.a. Art. 73bis Abs.
1 IVV ersatzlos aufgehoben (vgl. Änderung der Verordnung über die
Invalidenversicherung vom 11. September 2002; AS 2002 3723). Danach hatte
die IV-Stelle, bevor sie über die Ablehnung eines Leistungsbegehrens oder
über den Entzug oder die Herabsetzung einer bisherigen Leistung beschloss,
der versicherten Person oder deren Vertreter Gelegenheit zu geben, sich
mündlich oder schriftlich zur geplanten Erledigung zu äussern und die Akten
ihres Falles einzusehen (vgl. BGE 125 V 404 Erw. 3, 124 V 180).

Erwägung 4

  4.

  4.1  Der im 4. Kapitel im 2. Abschnitt "Sozialversicherungsverfahren"
unter der Überschrift "Rechtliches Gehör" stehende Art. 42 ATSG hat
folgenden Wortlaut: "Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. Sie
müssen nicht angehört werden vor Verfügungen, die durch Einsprache
anfechtbar sind." In der französischsprachigen Fassung lautet die
Bestimmung: "Les parties ont le droit d'être entendues. Il n'est pas
nécessaire de les entendre avant une décision sujette à opposition". Die
italienischsprachige Version lautet: "Le parti hanno il diritto di essere
sentite. Non devono obbligatoriamente essere sentite prima di decisioni
impugnabili mediante opposizione". Aus dem deutschsprachigen Text erhellt
besser als aus den anderen Sprachfassungen, dass sich die Einschränkung in
Art. 42 Satz 2 ATSG lediglich auf einen Teilgehalt des Grundsatzes des
Anspruchs auf rechtliches Gehör im weiteren Sinn bezieht. Es betrifft dies
die im ATSG nicht ausdrücklich als solche normierte Verpflichtung der
Versicherungsträger, die Parteien vor

Erlass der Verfügung anzuhören. Gemäss KIESER (ATSG-Kommentar, N 20 zu Art.
42) bildet Art. 42 Satz 2 ATSG eine Ausnahme von einem allgemein geltenden
Prinzip, wie dies auch für Art. 30 VwVG im Verhältnis zu Art. 29 VwVG der
Fall ist. Er bedauert, dass damit in verschiedenen Zweigen der
Sozialversicherung für die Parteien gegenüber dem bisherigen Recht eine
Verschlechterung eintritt (KIESER, a.a.O., N 21 zu Art. 42). Weitere
Teilaspekte des Gehörsanspruchs werden im ATSG durch eine Reihe von
Spezialnormen geordnet. So sind etwa die Erforderlichkeit der vorangehenden
schriftlichen Mahnung bei Leistungskürzungen (Art. 21 Abs. 4 ATSG), die
vorangehende schriftliche Mahnung bei Verletzung der Auskunfts- oder
Mitwirkungspflichten (Art. 43 Abs. 3 ATSG), die Mitwirkungsrechte bei
Einholung eines Gutachtens (Art. 44 ATSG), die Akteneinsicht (Art. 47 ATSG)
und die Begründung der Verfügung (Art. 49 Abs. 3 ATSG) separat geregelt. Sie
werden von Art. 42 Satz 2 ATSG nicht erfasst (KIESER, a.a.O., N 22 f. zu
Art. 42).

  4.2  Art. 42 ATSG entspricht im Wesentlichen der Ordnung gemäss Art. 29
und 30 Abs. 2 lit. b VwVG (KIESER, a.a.O., N 1 ff. zu Art. 42). Art. 29 VwVG
räumt den Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör ein. Nach Art. 30 Abs. 2
lit. b VwVG braucht die Behörde die Parteien nicht anzuhören vor
Verfügungen, die durch Einsprache anfechtbar sind. Aus den
Gesetzesmaterialien erhellt, dass die Einschränkung, wonach die Parteien
nicht angehört werden müssen vor Verfügungen, die durch Einsprache
anfechtbar sind, durch die nationalrätliche Kommission eingefügt worden ist
(BBl 1999 4599). Der Bericht der Kommission des Ständerates vom 27.
September 1990 zur Parlamentarischen Initiative Allgemeiner Teil
Sozialversicherung enthielt demgegenüber mit Art. 50 des Entwurfs lediglich
die Bestimmung: "Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör" (BBl
1991 II 199). Im Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale
Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999 wird ausgeführt, das rechtliche
Gehör solle eine effiziente und rasche Erledigung nicht verunmöglichen. Art.
30 VwVG halte fest, dass die Gewährung des rechtlichen Gehörs vor
Verfügungserlass dann nicht zwingend sei, wenn gegen die Verfügung
Einsprache erhoben werden könne. Dieser Grundsatz sei formell ins ATSG
aufzunehmen. Bisher sei das rechtliche Gehör als solches spezialgesetzlich
nur über die Verweisungen im Militärversicherungsgesetz und im
Unfallversicherungsgesetz

auf das VwVG geregelt gewesen. Diese Verweisungsnormen könnten nun
gestrichen werden (BBl 1999 4599). Daraus erhellt, dass der Gesetzgeber mit
Art. 42 Satz 2 ATSG bezüglich des Anspruchs auf Anhörung der Parteien vor
Verfügungen, die durch Einsprache anfechtbar sind, eine abschliessende
Regelung treffen wollte. Ein Rückgriff auf das VwVG, wie ihn Art. 55 Abs. 1
ATSG für den Fall statuiert, dass sich in den Art. 27 bis 54 ATSG oder in
den Einzelgesetzen keine abschliessende Verfahrensregelung findet, ist daher
nicht notwendig.

  4.3  Bezüglich Art. 30 Abs. 2 VwVG wird in der Literatur die Auffassung
vertreten, die Bestimmung stelle zweifellos eine ausreichende gesetzliche
Grundlage dar, um die Rechte auf Orientierung, Äusserung und Mitwirkung im
Beweisverfahren vor Erlass der Verfügung zu beschränken. Die Beschränkung
des rechtlichen Gehörs sei jedoch erst dann zulässig, wenn sie im
öffentlichen Interesse liege, verhältnismässig sei und der Kerngehalt des
rechtlichen Gehörs im engeren Sinne gewahrt bleibe (ROGER PETER, Der
Sachverständige im Verwaltungsverfahren der obligatorischen
Unfallversicherung, Zürich 1999, S. 133). Für das Abklärungsverfahren im
Bereich der Sozialversicherung bildet der dieser Bestimmung nachgebildete
Art. 42 Satz 2 ATSG die gesetzliche Grundlage. Aufgrund der Pflicht der
Behörden, die Verfügung schriftlich zu begründen und mit einer
Rechtsmittelbelehrung zu versehen (Art. 49 Abs. 3 ATSG), sowie der
Einsprachemöglichkeit (Art. 52 Abs. 1 ATSG) erweist sich die Beschränkung
des rechtlichen Gehörs in der Regel als verhältnismässig und der Kerngehalt
des rechtlichen Gehörs im engeren Sinne bleibt gewahrt (vgl. PETER, a.a.O.,
S. 135 zu Art. 34 f. VwVG). Das öffentliche Interesse an der vom Gesetzgeber
ausdrücklich gewollten einfachen und zweckmässigen Verfahrensdurchführung
und funktionierenden Verwaltung vermag zudem das Interesse der versicherten
Person auf Anhörung vor Verfügungserlass grundsätzlich zu überwiegen.

  4.4  Der Wortlaut von Art. 42 Satz 2 ATSG befreit die Behörde von der
Pflicht, die Parteien vor Verfügungen anzuhören, die mit Einsprache
anfechtbar sind, verbietet ihr aber nicht, dies im Einzelfall zu tun. Sie
kann sich dazu beispielsweise dann veranlasst sehen, wenn sie sich davon
eine bessere Akzeptanz der Verfügung durch die versicherte Person verspricht
(vgl. RKUV 1992 Nr. U 152 S. 200 Erw. 3b zu Art. 30 Abs. 2 lit. b VwVG;
BARBARA KUPFER BUCHER, Erfahrungen in der Arbeitslosenversicherung, in:
SCHAFFHAUSER/Kieser

[Hrsg.], Praktische Anwendungsfragen des ATSG, St. Gallen 2004, S. 96). Aber
auch prozessökonomische Gründe können es dem Versicherungsträger gebieten,
die Parteien vor Verfügungserlass anzuhören, beispielsweise um zu vermeiden,
dass eine angeordnete Beweismassnahme unter Umständen auf gerichtliche
Anordnung hin wiederholt werden muss (vgl. BGE 121 V 150 im Zusammenhang mit
der Durchführung eines Augenscheins).

Erwägung 5

  5.  Nach Art. 43 Abs. 1 ATSG prüft der Versicherungsträger die Begehren,
nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die
erforderlichen Auskünfte ein. Die Verwaltung darf die für die Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts notwendigen Abklärungen nicht in das
Einspracheverfahren verschieben (vgl. ZAK 1987 S. 298). Dieses verlöre sonst
weitgehend seinen Sinn und Zweck, letztlich die Gerichte zu entlasten (BGE
125 V 191 Erw. 1c und SVR 2005 AHV Nr. 9 S. 31 Erw. 1.3.1). Hält die
Verwaltung im Rahmen der Sachverhaltsabklärung eine Befragung der Parteien
für erforderlich, weil etwa die Akten ungenügend Auskunft geben, kann sie
dies veranlassen. Die Befragung bleibt in diesem Fall aber
Sachverhaltsabklärung und wird nicht zur Gewährung des rechtlichen Gehörs,
das weit umfassender ist. Kommt die Verwaltung ihrer Pflicht zur Abklärung
des Sachverhalts nicht oder nicht genügend nach, kann die Sache aus diesem
Grund und nicht wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs an sie
zurückgewiesen werden. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor
Verfügungserlass kann der Verwaltung nach dem in Erw. 4 Gesagten nicht
vorgeworfen werden. Etwas anderes kann namentlich auch dem Urteil vom 30.
September 2005 (C 279/03, zusammengefasst in SZS 2006 S. 150 ff.) nicht
entnommen werden.

Erwägung 6

  6.

  6.1  Art. 42 Satz 2 ATSG betrifft wie Art. 30 Abs. 2 lit. b VwVG
Verfügungen, die von der ursprünglich erlassenden Instanz auf Einsprache hin
umfassend überprüft werden müssen (vgl. SALADIN, Das
Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, S. 142). Gemäss Art. 52 Abs. 1 ATSG
kann gegen Verfügungen innerhalb von 30 Tagen bei der verfügenden Stelle
Einsprache erhoben werden; davon ausgenommen sind prozess- und
verfahrensleitende Verfügungen. Die Einsprache ist kein devolutives
Rechtsmittel, das die Entscheidungszuständigkeit an eine Rechtsmittelinstanz
übergehen lässt (BGE 131 V 411 Erw. 2.1.2.1; RKUV 2003 Nr. U 490

S. 367 Erw. 3.2.1). Das Einspracheverfahren wird der nachträglichen
verwaltungsinternen Rechtspflege zugerechnet (KIESER, a.a.O., N 2 zu Art.
52) und nicht der eigentlichen streitigen Verwaltungsrechtspflege. Daran
ändert nichts, dass verfügende Stelle und Einspracheinstanz oftmals
organisatorisch getrennt sind. Dies ergibt sich auch aus der Systematik des
ATSG, welche das Einspracheverfahren im 2. Abschnitt
"Sozialversicherungsverfahren" einordnet. Das Einspracheverfahren zielt
darauf ab, ungenügende Abklärungen oder Fehlbeurteilungen, aber auch
Missverständnisse, die den angefochtenen Verwaltungsverfügungen zugrunde
liegen, in einem kostenlosen und weitgehend formlosen Verfahren auszuräumen,
ohne dass die übergeordneten Gerichte angerufen werden müssen (BGE 131 V 412
Erw. 2.1.2.1 mit Hinweisen; Urteil vom 17. Juni 2005, I 3/05). Bei Erhebung
einer Einsprache wird das Verwaltungsverfahren durch den Einspracheentscheid
abgeschlossen, welcher die ursprüngliche Verfügung ersetzt (RKUV 1992 Nr. U
152 S. 199 Erw. 3b). Für eine nachfolgende richterliche Beurteilung sind
denn auch grundsätzlich die tatsächlichen Verhältnisse zur Zeit des Erlasses
des strittigen Einspracheentscheids massgebend (BGE 131 V 412 Erw. 2.1.2.1
mit Hinweisen).

  6.2  Da das Administrativverfahren das Verfügungs- und das
Einspracheverfahren umfasst, konnte der Gesetzgeber die Pflicht zur Anhörung
in das Einspracheverfahren verlegen, während die Abklärung des Sachverhalts
vor Verfügungserlass zu erfolgen hat. Damit soll ein einfaches und rasches
verwaltungsinternes Verfahren gewährleistet werden. Dies schliesst
ergänzende Sachverhaltsabklärungen im Einspracheverfahren jedoch nicht aus.
Denn in diesem Verfahren kann die Verwaltung die angefochtene Verfügung
nochmals überprüfen und über die strittigen Punkte entscheiden, bevor
allenfalls die Beschwerdeinstanz angerufen wird. Spätestens im
Einspracheverfahren hat die Verwaltung in rechtsgenüglicher Form Gelegenheit
zu geben, sich zu den getroffenen Beweismassnahmen inhaltlich wie auch zum
Verfahren zu äussern (vgl. BGE 121 V 155 Erw. 5b; in HAVE S. 354
zusammengefasstes Urteil S. vom 12. September 2005 [I 435/05]; RKUV 1992 Nr.
U 152 S. 200 Erw. 3b; PETER, a.a.O., S. 136; vgl. auch BGE 131 V 413 Erw.
2.1.2.2).

Erwägung 7

  7.  Vor Erlass der Verfügung vom 10. Januar 2003 hat die IV-Stelle der
Versicherten das Gutachten vom 6. November 2002 nicht zugestellt und sie zu
diesem Beweisergebnis vor Verfügungserlass

nicht angehört. Dazu war sie weder gestützt auf Art. 44 ATSG noch gestützt
auf Art. 42 ATSG verpflichtet. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt
diesbezüglich somit nicht vor. Am 29. Januar 2003 und mithin während
laufender Einsprachefrist hat sie dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin
auf dessen Ersuchen hin die Akten zur Einsichtnahme zugestellt. Dieser stand
das Recht zu, gegen die Verfügung Einsprache zu erheben, von welcher
Möglichkeit sie auch Gebrauch gemacht hat. Falls nach Eingang des Gutachtens
für eine Besprechung mit der Klientin nicht genügend Zeit zur Verfügung
stand, hätte innert Frist eine summarisch begründete Einsprache eingereicht
werden müssen und um Nachfrist für die Einspracheergänzung ersucht werden
können (analoge Anwendung von Art. 61 lit. b ATSG; vgl. KIESER, a.a.O., N 9
zu Art. 52). Da der IV-Stelle keine Verletzung von Parteirechten vorgeworfen
werden kann, steht einer materiellen Überprüfung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts im Wege.