Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 357



Urteilskopf

132 V 357

  41. Auszug aus dem Urteil i.S. Staatssekretariat für Wirtschaft gegen G.
und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
  C 67/04 vom 9. Juni 2006

Regeste

  Art. 23 AVIG; Art. 40b AVIV: Versicherter Verdienst von Behinderten.

  Ausgangspunkt bildet der vor der gesundheitsbedingten Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit während eines bestimmten Zeitraumes tatsächlich erzielte
Lohn. Dieser Wert ist mit dem Faktor zu multiplizieren, der sich aus der
Differenz zwischen 100 % und dem Invaliditätsgrad ergibt. Mit Blick auf die
langjährige Verwaltungs- und Gerichtspraxis nicht einschlägig ist das
(hypothetisch erzielbare)  Invalideneinkommen. (Erw. 3.2)

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 357

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.

  3.1  Es steht fest und ist letztinstanzlich zu Recht unstrittig, dass die
rückwirkende Zusprechung einer halben Invalidenrente für die Zeit vom 1.
Oktober 2001 bis 30. April 2002 sowie einer ganzen

Invalidenrente ab 1. Mai 2002 hinsichtlich der formlos erbrachten
Taggeldleistungen der Arbeitslosenversicherung vom 1. Oktober 2001 bis 27.
Juni 2002 eine neue erhebliche Tatsache darstellt, deren Unkenntnis die
Arbeitslosenkasse nicht zu vertreten hat (BGE 108 V 167; ARV 1998 Nr. 15 S.
81 Erw. 5a mit Hinweisen [Urteil vom 12. Dezember 1996, C 188/95]), weshalb
ein Zurückkommen auf die ausgerichteten Leistungen auf dem Wege der
prozessualen Revision zulässig ist.

  3.2  Auf Grund der Parteivorbringen strittig ist einzig der Umfang der
Rückerstattungspflicht.

  3.2.1  Uneinigkeit besteht dabei über den durch Auslegung zu bestimmenden
Bedeutungsgehalt des Art. 40b AVIV (in Kraft seit 1. Juli 1985, AS 1985 648;
zur Gesetzesauslegung statt vieler: BGE 125 II 196 Erw. 3a, 244 Erw. 5a, 125
V 130 Erw. 5, 180 Erw. 2a mit Hinweisen), welcher bei der Bemessung der
Taggelder invalider Versicherter zu berücksichtigen ist. Die Vorinstanz
erwog, für die Bestimmung des versicherten Verdienstes nach Art. 40b AVIV
sei auf das (monatliche) hypothetische Invalideneinkommen abzustellen. Das
Beschwerde führende Staatssekretariat für Wirtschaft stellt sich auf den
Standpunkt, dass der Lohn massgebend sei, den die versicherte Person vor der
gesundheitsbedingten Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit - während eines
bestimmten Bemessungszeitraumes (Art. 37 AVIV) - tatsächlich erzielt habe
(Art. 23 Abs. 1 AVIG). Das auf diese Weise ermittelte Einkommen sei alsdann
mit dem Faktor zu multiplizieren, der sich aus der Differenz zwischen 100 %
und dem Invaliditätsgrad ergebe (in diesem Sinne: Thomas Faesi,
Arbeitslosenentschädigung und Zwischenverdienst - Ursachen und Wirkungen der
zweiten Teilrevision des AVIG, Diss. Zürich 1999, S. 398 Ziff. 19).

  3.2.2  Art. 40b AVIV ("Versicherter Verdienst von Behinderten", "Gain
assuré des handicapés", "Guadagno assicurato degli impediti fisici o
psichici"; zur Gesetzmässigkeit der Bestimmung: Urteil vom 8. November 2005,
C 256/03) lautet in den drei amtssprachlichen Fassungen (Art. 14 Abs. 1 des
Bundesgesetzes über die Sammlungen des Bundesrechts und das Bundesblatt
[Publikationsgesetz; SR 170.512], in Kraft getreten am 1. Januar 2005; Art.
9 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 21. März 1986 über die Gesetzessammlungen
und das Bundesblatt, aufgehoben auf 31. Dezember 2004 durch Art. 20
Publikationsgesetz) wie folgt:

   "Bei Versicherten, die unmittelbar vor oder während der Arbeitslosigkeit
    eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit
    erleiden, ist der Verdienst massgebend, welcher der verbleibenden
    Erwerbsfähigkeit entspricht."

   "Est déterminant pour le calcul du gain assuré des personnes qui, en
    raison de leur santé, subissent une atteinte dans leur capacité de
    travail durant le chômage ou immédiatement avant, le gain qu'elles
    pourraient obtenir, compte tenu de leur capacité effective de gagner
    leur vie."

   "Nel caso di assicurati che subiscono, a cagione del loro stato di
    salute, una menomazione della loro capacità lucrativa durante la
    disoccupazione o immediatamente prima, è determinante il guadagno che
    corrisponde alla capacità lucrativa rimanente."
  3.2.3  Der Wortlaut des Art. 40b AVIV gibt keine klare, d.h. eindeutige
und unmissverständliche Antwort darauf, welche der beiden Rechtsauffassungen
(Erw. 3.2.1) zutreffend ist. Entsprechendes gilt für die Auslegung nach
systematischen und teleologischen Gesichtspunkten. Die Ratio legis des Art.
40b AVIV besteht darin, über die Korrektur des versicherten Verdienstes die
Koordination zur Eidgenössischen Invalidenversicherung zu bewerkstelligen,
um eine Überentschädigung durch das Zusammenfallen einer Invalidenrente mit
Arbeitslosentaggeldern zu verhindern. Beide divergierenden Interpretationen
sind in gleicher Weise geeignet, diesem Normzweck zu genügen. Dem
historischen Auslegungselement kommt allgemein insofern bloss beschränkte
Bedeutung zu, als die Interpretation von Gesetzen nicht entscheidend
historisch zu orientieren, im Grundsatz aber dennoch auf die
Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die erkennbar getroffenen
Wertentscheidungen auszurichten ist (BGE 131 III 103 f. Erw. 3.2 mit
Hinweisen). Im hier zu beurteilenden Fall ist die Materialienlage dürftig.
Laut Schreiben des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartementes vom 18.
April 1985 an den Bundesrat soll durch das Abstellen auf die verbleibende
Erwerbsfähigkeit verhindert werden, dass die Arbeitslosenentschädigung auf
einem Verdienst ermittelt wird, den der Versicherte nicht mehr erzielen
könne. Daraus kann für die hier strittige Auslegungsfrage nichts
Entscheidendes gewonnen werden.

  3.2.4
  3.2.4.1  Aus den - normunmittelbaren - Auslegungselementen ergibt sich
nicht eindeutig, welche der beiden Rechtsauffassungen dem Rechtssinn am
besten entspricht. Weil Art. 40b AVIV vor über zwanzig Jahren in Kraft
getreten ist (1. Juli 1985), liegt es daher nahe, zu prüfen, wie Verwaltung
und Gerichte die Streitfrage

in der Vergangenheit entschieden haben, dies insbesondere mit Blick auf die
Regel, dass bei Fehlen entscheidender Gründe für eine
Rechtsprechungsänderung die bisherige Praxis beizubehalten ist. Gegenüber
dem Postulat der Rechtssicherheit lässt sich eine Praxisänderung
grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der
Ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten
Rechtsanschauungen entspricht. Nach der Judikatur ist eine bisherige Praxis
zu ändern, wenn sie als unrichtig erkannt oder wenn deren Verschärfung wegen
veränderter Verhältnisse oder zufolge zunehmender Missbräuche für
zweckmässig gehalten wird (BGE 131 V 110 Erw. 3.1, 130 V 372 Erw. 5.1, 495
Erw. 4.1, 129 V 373 Erw. 3.3, 126 V 40 Erw. 5a, 125 I 471 Erw. 4a, je mit
Hinweisen).

  3.2.4.2  Rz 192 f. des Kreisschreibens über die Arbeitslosenentschädigung
(KS-ALE; in der ab 1. Juli 1985 gültig gewesenen Fassung) bestimmte, dass
bei der Berechnung des versicherten Verdienstes der Lohn massgebend ist, den
die versicherte Person vor der gesundheitsbedingten Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit erzielt hatte. Das auf diese Weise ermittelte Einkommen war
alsdann mit dem Faktor zu multiplizieren, der sich aus der Differenz
zwischen 100 % und dem Invaliditätsgrad ergab. An dieser Berechnungsart,
welche der Rechtsauffassung der Beschwerde führenden Partei entspricht,
haben die diversen Revisionen des zitierten Kreisschreibens bis zum heutigen
Tage inhaltlich nichts geändert (vgl. Rz 234 ff. der ab 1. Januar 1989
gültig gewesenen Fassung, Rz 212 ff. der am 1. Januar 1992 in Kraft
getretenen Fassung und Rz C24 der ab 1. Januar 2003 gültig gewesenen Fassung
des KS-ALE und schliesslich die Weisung "Koordination ALV - IV" vom 4. Juli
2005, AVIG-Praxis 2005/29 Ziff. 4). Diese Berechnungsweise entspricht sodann
der - publizierten - Rechtsprechung (BGE 127 V 486 Erw. 2b mit Hinweisen;
ARV 1991 Nr. 10 S. 92 [Urteil vom 1. Mai 1991, C 57/90], 1988 Nr. 5 S. 34
[Urteil vom 18. Dezember 1987, C 11/87]). Dass das Eidgenössische
Versicherungsgericht im nicht veröffentlichten Urteil vom 6. November 1995,
C 177/95, einen kantonalen Entscheid bestätigte, worin der versicherte
Verdienst gemäss Art. 40b AVIV entsprechend dem von der IV ermittelten
Invalideneinkommen festgesetzt wurde, gibt keinen hinreichenden Anlass, die
über Jahrzehnte hinweg konstante Verwaltungspraxis und die gleich lautende
höchstrichterliche Rechtsprechung zu ändern.

  3.2.4.3  Zusammenfassend gilt Folgendes: Für die Bemessung des
versicherten Verdienstes gemäss Art. 40b AVIV ist - entsprechend der
Verwaltungspraxis und gemäss ständiger Rechtsprechung - der Lohn massgebend,
den die versicherte Person vor der gesundheitsbedingten Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit - während eines bestimmten Zeitraumes (Art. 37 AVIV) -
tatsächlich erzielt hat. Diese Betrachtungsweise entspricht dem klaren
Wortlaut und Sinn von Art. 23 Abs. 1 AVIG, was im Rahmen gebotener
gesetzeskonformer Verordnungsauslegung (BGE 131 V 266 Erw. 5.1 in fine) von
entscheidender Bedeutung ist. Das entsprechende Einkommen ist mit dem Faktor
zu multiplizieren, der sich aus der Differenz zwischen 100 % und dem
Invaliditätsgrad ergibt. Die im Urteil vom 8. November 2005, C 256/03, offen
gelassene Frage, ob als versicherter Verdienst im Sinne des Art. 40b AVIV
das hypothetische Invalideneinkommen heranzuziehen sei, ist zu verneinen.