Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 347



Urteilskopf

132 V 347

  39. Auszug aus dem Urteil i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen 1.
Pensionskasse V., 2. S., und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
  B 19/04 vom 16. August 2006

Regeste

  Art. 30c Abs. 5 und 6 BVG; Art. 5 und 25a FZG; Art. 122 und 142 ZGB:
Feststellungsinteresse bezüglich Vorbezugs für Wohneigentum.

  Schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Gültigkeit des Vorbezugs
für Wohneigentum im Hinblick auf den Scheidungsprozess bejaht. (Erw. 3.3)

Sachverhalt ab Seite 347

  A.- Die Eheleute S. und C. schlossen am 1. Juni 1995 mit der Pensionskasse
V. einen Vertrag über die Gewährung eines Darlehens von Fr. 260'000.- zur
Finanzierung des Eigenheims im Alleineigentum des S., wobei das
Altersguthaben des Letzteren verpfändet wurde. Im Frühjahr 1999 trennten
sich die Eheleute S. und C. und schlossen im Juni 1999 eine (offenbar
gerichtlich genehmigte) Trennungsvereinbarung ab. Im August 2000 strengte C.
die Scheidung an. Zuvor war bei der Pensionskasse ein am 10. Juli 2000
datierter "Antrag auf Auszahlung eines Vorbezuges" eingegangen, mit welchem
verlangt wurde, den Betrag von Fr. 100'000.- aus der zweiten Säule dem
Hypothekarkonto gutzuschreiben und in diesem Umfang die Darlehensschuld zu
amortisieren; der Antrag trug die Unterschriften "S." sowie "C.". Die
Pensionskasse kam dem Begehren nach und verwendete den Vorbezug als
anteilmässige Rückzahlung der Hypothekarschuld.

  Mit Urteil des zuständigen Strafrichters vom 17. März 2003 wurde S. des
Betruges und der Urkundenfälschung schuldig gesprochen, da er die
Unterschrift seiner Ehefrau auf dem "Antrag auf Auszahlung eines Vorbezuges"
gefälscht habe. In der Folge forderte C. die Pensionskasse auf
festzustellen, dass der Vorbezug

"zufolge fehlender Zustimmung ungültig erfolgt" sei und somit im Rahmen des
Ehescheidungsverfahrens die Möglichkeit bestehe "das gesamte während der
Ehedauer aufgebaute Guthaben teilen zu lassen." Die Pensionskasse antwortete
darauf, für diese Feststellungen sei das Sozialversicherungsgericht
zuständig, woran sie in einem erneuten Briefwechsel festhielt.

  B.- Am 11. November 2003 liess C. gegen die Pensionskasse Klage einreichen
mit folgenden materiellen Rechtsbegehren:

   "1. Es sei festzustellen, dass der per 1. Januar 2001 erfolgte Vorbezug
       von CHF 100'000.-, welchen die Beklagte gestützt auf den Antrag von
       Herrn S. vom 10. Juli 2000 per 1. Januar 2001 zulasten dessen
       Altersguthabens gewährt hat, und die entsprechende Gutschrift auf dem
       Hypothekardarlehen zu Unrecht erfolgt und ungültig ist.

    2. Ferner sei festzustellen, dass das Scheidungsgericht bestimmen könne,
       dass ein Teil der unter Hinzurechnung des unzulässigen Vorbezuges
       sich ergebenden Austrittsleistung an die Vorsorgeeinrichtung der
       Klägerin zu übertragen sei."

  Mit Entscheid vom 2. Februar 2004 trat das Versicherungsgericht des
Kantons Solothurn auf die Klage nicht ein.

  C.- Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheides sei die Sache an das kantonale Gericht zur
materiellen Beurteilung zurückzuweisen.

  Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
C. sowie die Pensionskasse verzichten auf einen Antrag, während sich S.
nicht vernehmen lässt.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.

  3.1  Die Vorinstanz ist mangels Rechtsschutzinteresses nicht auf die
Feststellungsklage der Ehefrau des Versicherten eingetreten: Das
Eidgenössische Versicherungsgericht habe ein Interesse im Falle der
Barauszahlung des Vorsorgeguthabens zwar bejaht, jedoch liege hier der davon
zu unterscheidende Fall eines Vorbezuges für Wohneigentum vor. In der Folge
sei das Kapital immer noch der Vorsorge verhaftet und bei einer Scheidung zu
teilen. Der Vorbezug könne hier leicht rückgängig gemacht werden, indem die
Darlehenssumme wieder erhöht und der entsprechende Betrag dem Vorsorgekonto
gutgeschrieben werde. Einem möglicherweise verlustbringenden Verkauf des
Hauses könne mittels

vorsorglicher Massnahmen gemäss Art. 137 und 178 ZGB vorgebeugt werden,
während der Zinsausfall infolge des ungerechtfertigten Vorbezuges im Rahmen
der zukünftigen Durchführung der Teilung der Austrittsleistung vom
Sozialversicherungsgericht berücksichtigt werde.

  Das Beschwerde führende BSV ist demgegenüber der Ansicht, durch die
notwendige Zustimmung des Ehegatten für einen Vorbezug habe dieser die
entsprechenden Konsequenzen im Fall einer Scheidung in Kauf zu nehmen und
deshalb ein Interesse an der Feststellung der Ungültigkeit des Vorbezuges
mangels Zustimmung. Weiter habe die Praxis im Fall der Barauszahlung ein
Rechtsschutzinteresse des Ehegatten an der Feststellung der Ungültigkeit
bejaht, was in den Fällen des Vorbezuges für Wohneigentum analog gelten
müsse. Somit habe der Ehegatte hier ein Interesse an der Feststellung der
Unrechtmässigkeit des Vorbezuges vor dem Scheidungsurteil, was in einem
besonderen Verfahren festzustellen sei.

  3.2  Nach Art. 30c Abs. 5 BVG ist ein Vorbezug von Mitteln der zweiten
Säule für den Erwerb von Wohneigentum bei Verheirateten nur zulässig, wenn
der Ehegatte schriftlich zustimmt. Kann der Versicherte diese Zustimmung
nicht einholen oder wird sie ihm verweigert, so kann er das Gericht anrufen.
Hier hat das kantonale Gericht für das Eidgenössische Versicherungsgericht
verbindlich festgestellt (Art. 105 Abs. 2 OG), dass der Versicherte die
Unterschrift seiner Ehefrau gefälscht hat und damit deren Zustimmung zum
Vorbezug nicht vorliegt.

  Im Fall der Barauszahlung der Austrittsleistung, welche ebenfalls der
schriftlichen Zustimmung des Ehegatten des Anspruchsberechtigten bedarf
(Art. 5 Abs. 2 FZG), hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 128
V 41 das schutzwürdige Interesse an der Feststellung der Gültigkeit der
Barauszahlung im Hinblick auf den Scheidungsprozess bejaht. Zur Begründung
führte es an, der Gültigkeit der Auszahlung komme im Scheidungsverfahren
entscheidende Bedeutung für einen allfälligen Anspruch auf eine
Austrittsleistung nach Art. 122 ZGB zu. Denn vom Anspruch nach Art. 122 ZGB
könnten grundsätzlich Kapitalien nicht erfasst werden, die vor der Scheidung
bar ausbezahlt worden seien und nicht mehr der Vorsorge zur Verfügung
stünden. In solchen Fällen könne dem Ehegatten des Vorsorgenehmers
ausschliesslich über Art. 124 ZGB eine angemessene Entschädigung für die
entgangene Beteiligung

an der nicht mehr vorhandenen Austrittsleistung des Vorsorgenehmers
verschafft werden. Die für die Anwendung der Art. 122 ff. ZGB bedeutsame
Vorfrage, ob eine in Nachachtung von Art. 5 Abs. 2 FZG gültige Barauszahlung
vorliege, könne an und für sich auch das Scheidungsgericht vorfrageweise
prüfen. In diesem Zusammenhang sei jedoch zu berücksichtigen, dass die
beteiligte Vorsorgeeinrichtung im Scheidungsverfahren nicht Partei und die
Auffassung des Scheidungsgerichts über die Gültigkeit der Barauszahlung für
sie nicht verbindlich sei. Einer solchen Verbindlichkeit komme indessen
erhebliche Tragweite zu, da die Vorsorgeeinrichtung bei nicht richtiger
Erfüllung damit rechnen müsse, ein zweites Mal zu leisten. Damit ein den
Teilungsschlüssel nach Art. 122 ZGB festsetzendes Urteil des
Scheidungsgerichts gegenüber der Vorsorgeeinrichtung auch vollstreckt werden
könne, habe der begünstigte Ehegatte ein rechtlich erhebliches Interesse
daran, dass das Sozialversicherungsgericht vor Erlass des Scheidungsurteils
eine allfällige Ungültigkeit der Barauszahlung infolge fehlender Zustimmung
nach Art. 5 Abs. 2 FZG auch gegenüber der Vorsorgeeinrichtung verbindlich
feststelle (BGE 128 V 48 Erw. 3b mit Hinweisen).

  3.3  Diese Überlegungen treffen entgegen der Auffassung der Vorinstanz
auch für die Beurteilung der Folgen eines unzulässigen Vorbezugs für
Wohneigentum zu. Zwar bleibt im Rahmen eines solchen Vorbezuges der
Versicherungsschutz insofern bestehen, als die eigene Wohnung resp. das
eigene Haus einen Teil der Altersvorsorge bildet, der vorbezogene Betrag
nach einer Veräusserung des Wohneigentums zurückzubezahlen ist (Art. 30d
Abs. 1 BVG) und der Vorsorgezweck zudem gewissen Sicherungsmassnahmen (Art.
30e BVG) unterliegt. Überdies gilt nach ausdrücklicher Gesetzesvorschrift
des Art. 30c Abs. 6 BVG der Vorbezug als Freizügigkeitsleistung und ist bei
einer Scheidung zwischen den Ehegatten zu teilen. Mit diesen
Sicherungsmitteln kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass das mit
Hilfe des Vorbezugs erworbene Wohneigentum an Wert verliert. Darin liegt das
Risiko, das mit dem Vorbezug verbunden ist. Das Gesetz nimmt diesen
potenziellen Verlust auf dem Vorsorgevermögen in Kauf, indem es die
Rückzahlungspflicht bei Veräusserung auf den Erlös beschränkt; als Erlös
gilt der Verkaufspreis abzüglich der hypothekarisch gesicherten Schulden und
der dem Verkäufer vom Gesetz auferlegten Abgaben (Art. 30d Abs. 5 BVG). Wird
mithin das

mit Hilfe des Vorbezugs erworbene Wohneigentum ohne Erlös verkauft, so
besteht auch keine Rückzahlungspflicht an die Vorsorgeeinrichtung mehr. Der
vorbezogene Betrag ist damit - vom Gesetzgeber in Kauf genommen - für die
Vorsorge verloren. Nach der Grundidee, die dem Vorsorgeausgleich zugrunde
liegt, gibt es insoweit auch nichts mehr zu teilen. Daraus folgt, dass ein
Vorbezug für Wohneigentum nur insoweit nach den Regeln von Art. 22 FZG zu
teilen ist, als noch eine Rückzahlungsverpflichtung im Sinne von Art. 30d
BVG besteht, d.h. im Falle einer Veräusserung maximal im Umfang des Erlöses
(Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom heutigen Tage in
Sachen F., B 8/06). Neben diesem Aspekt hat die Gültigkeit eines Vorbezugs
für Wohneigentum des Weitern ebenfalls entscheidende Bedeutung für die
Frage, wie in güterrechtlicher, unterhaltsrechtlicher und
vorsorgerechtlicher Hinsicht der Vorbezug zu behandeln ist. Je nachdem, ob
der Vorbezug ungültig ist und ob der Einrichtung der beruflichen Vorsorge
pflichtwidriges Verhalten mit entsprechender Ersatzpflicht vorgeworfen
werden kann (vgl. dazu BGE 130 V 103; SZS 2004 S. 461 und 464), hat der
Ausgleich des Vorbezugs im Scheidungsverfahren unter dem Titel Güterrecht,
Art. 124 ZGB, oder nach Art. 122 ZGB/22ff. FZG zu erfolgen (vgl. dazu auch
BAUMANN/LAUTERBURG, in: INGEBORG SCHWENZER [Hrsg.], FamKommentar Scheidung,
2. Aufl., Bern 2005, N 44-46 zu Art. 124 ZGB). Schliesslich ist auch zu
berücksichtigen, dass das Sozialversicherungsgericht einzig
vorsorgerechtliche Streitigkeiten zu beurteilen hat und die Einrichtungen
der beruflichen Vorsorge nicht Partei des Scheidungsverfahrens sind. Unter
diesen Umständen hat der begünstigte Ehegatte wie bei der Barauszahlung auch
im Zusammenhang mit dem Vorbezug angesichts der vielschichtigen Rechtsfragen
ein rechtlich erhebliches Interesse daran, dass das
Sozialversicherungsgericht vor Erlass des Scheidungsurteils eine allfällige
Ungültigkeit des Vorbezugs infolge fehlender Zustimmung nach Art. 5 Abs. 2
FZG auch gegenüber der Vorsorgeeinrichtung verbindlich feststellt. Ein
solches Urteil würde im vorliegenden Fall die Frage für den
Scheidungsprozess und für die Pensionskasse verbindlich beantworten, ob
überhaupt ein rechtsgültiger Vorbezug erfolgt ist und in welcher Höhe ein
Darlehen gegenüber der Pensionskasse besteht.

  3.4  Aus diesen Gründen ist beim Vorbezug von Kapital der zweiten Säule
für den Erwerb von Wohneigentum ebenfalls ein Interesse

des Ehegatten des Versicherten zu bejahen, in einem separaten Verfahren
festzustellen, dass der Vorbezug unrechtmässig erfolgt ist, und die
vorsorgerechtliche Ausgangslage für den Scheidungsprozess vorweg klären zu
lassen. Das kantonale Gericht ist deshalb zu Unrecht auf die
Feststellungsklage der Ehefrau des Versicherten nicht eingetreten.