Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 332



Urteilskopf

132 V 332

  37. Auszug aus dem Urteil i.S. F. gegen 1. Vorsorgestiftung der National
Versicherung, 2. M., und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
  B 8/06 vom 16. August 2006

Regeste

  Art. 30d BVG; Art. 22 FZG; Art. 122 ZGB: Behandlung eines Vorbezugs für
Wohneigentum bei Ehescheidung nach Veräusserung oder Verwertung der
Liegenschaft.

  Ein Vorbezug für Wohneigentum, das während der Ehe veräussert oder
verwertet wurde, ist im Rahmen einer Ehescheidung nur insoweit nach den
Regeln von Art. 22 FZG zu teilen, als bei der Veräusserung oder Verwertung
ein Erlös erzielt worden ist. (Erw. 4)

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 332

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.  Nach Art. 22 Abs. 2 FZG entspricht die zu teilende Austrittsleistung
der Differenz zwischen der Austrittsleistung im Zeitpunkt der Ehescheidung
und der auf diesen Zeitpunkt aufgezinsten Austrittsleistung im Zeitpunkt der
Eheschliessung. Eine während der Ehedauer vorgenommene Barauszahlung gehört
nicht zu der zu

teilenden Austrittsleistung (Art. 22 Abs. 2 Satz 3 FZG); ein Ausgleich
solcher Zahlungen hat durch das Scheidungsurteil zu erfolgen (Art. 124 ZGB;
BGE 129 V 254 Erw. 2.1). Hingegen gilt ein Vorbezug für Wohneigentum als
Freizügigkeitsleistung und wird ebenfalls nach Art. 22 Abs. 2 FZG geteilt
(Art. 30c Abs. 6 BVG; Art. 331e Abs. 6 OR). Der Vorbezug ist also zur
Austrittsleistung im Zeitpunkt der Scheidung hinzuzurechnen (vgl. BGE 128 V
235 f. Erw. 3; SVR 2006 BVG Nr. 7 S. 25 Erw. 3.2 und 4.2).

Erwägung 4

  4.  Das Gesetz äussert sich nicht ausdrücklich zur Frage, wie vorzugehen
ist, wenn das Wohneigentum, das mit Hilfe des Vorbezugs erworben worden ist,
seinen Wert verloren hat.

  4.1  Mit dem Vorbezug für Wohneigentum fällt der vorbezogene Betrag und
das damit erworbene Wohneigentum aus dem Vorsorgeguthaben heraus (BGE 124
III 214 f. Erw. 2; SCHNEIDER/BRUCHEZ, La prévoyance professionnelle et le
divorce, in: SANDOZ et al. [Hrsg.], Le nouveau droit du divorce, Lausanne
2000, S. 193 ff., 229). Um trotzdem den Vorsorgezweck sicherzustellen, darf
der Vorbezug einzig zum Zweck der Beschaffung von Wohneigentum zum
Eigenbedarf verwendet werden (Art. 30c Abs. 1 BVG; Art. 331e Abs. 1 OR; Art.
1 bis 4 WEFV). Dies stellt ebenfalls eine Form der Altersvorsorge dar. Um
diese Zweckbindung zu erhalten, muss bei einer Veräusserung des
Wohneigentums der bezogene Betrag an die Vorsorgeeinrichtung zurückbezahlt
werden (Art. 30d Abs. 1 BVG). Diese Rückzahlungsverpflichtung wird
grundbuchlich sichergestellt (Art. 30e BVG).

  4.2  Mit diesen Sicherungsmitteln kann allerdings nicht ausgeschlossen
werden, dass das mit Hilfe des Vorbezugs erworbene Wohneigentum an Wert
verliert. Darin liegt das Risiko, das mit dem Vorbezug verbunden ist. Das
Gesetz nimmt diesen potenziellen Verlust auf dem Vorsorgevermögen in Kauf,
indem es die Rückzahlungspflicht bei Veräusserung auf den Erlös beschränkt;
als Erlös gilt der Verkaufspreis abzüglich der hypothekarisch gesicherten
Schulden und der dem Verkäufer vom Gesetz auferlegten Abgaben (Art. 30d Abs.
5 BVG). Wird also - wie vorliegend - das mit Hilfe des Vorbezugs erworbene
Wohneigentum ohne Erlös verkauft, so besteht auch keine Rückzahlungspflicht
an die Vorsorgeeinrichtung mehr. Der vorbezogene Betrag ist damit - vom
Gesetzgeber in Kauf genommen - für die Vorsorge verloren. Nach der
Grundidee, die dem Vorsorgeausgleich zugrunde liegt, gibt es

insoweit auch nichts mehr zu teilen. Daraus folgt, dass ein Vorbezug für
Wohneigentum nur insoweit nach den Regeln von Art. 22 FZG zu teilen ist, als
noch eine Rückzahlungsverpflichtung im Sinne von Art. 30d BVG besteht, d.h.
im Falle einer Veräusserung maximal im Umfang des Erlöses (Art. 30d Abs. 5
BVG; REGINA AEBI-MÜLLER, Vorbezüge für Wohneigentum bei Scheidung: Wer trägt
den Zinsverlust? In: ZBJV 2001 S. 132 ff., 136; THOMAS GEISER, Berufliche
Vorsorge im neuen Scheidungsrecht, in: HEINZ HAUSHEER [Hrsg.], Vom alten zum
neuen Scheidungsrecht, Bern 1999, S. 55 ff., 77 Rz 2.53; THOMAS KOLLER,
Vorbezüge für den Erwerb von Wohneigentum und Vorsorgeausgleich bei der
Scheidung: Wer trägt den Zinsverlust? - Ein weiterer Diskussionsbeitrag, in:
ZBJV 2001 S. 137 ff., 138 FN 7; JACQUES MICHELI ET AL., Le nouveau droit du
divorce, Lausanne 1999, S. 156 Rz 706; SCHNEIDER/BRUCHEZ, a.a.O., S. 230;
DANIEL TRACHSEL, Spezialfragen im Umfeld des scheidungsrechtlichen
Vorsorgeausgleichs: Vorbezüge für den Erwerb selbstbenutzten Wohneigentums
und Barauszahlung nach Art. 5 FZG, in: FamPra 2005 S. 529 ff., 535; HERMANN
WALSER, Berufliche Vorsorge, in: Stiftung für juristische Weiterbildung, Das
neue Scheidungsrecht, Zürich 1999, S. 49 ff., 60).

  4.3  Diese Lösung ist entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht
ungerecht, sondern entspricht im Gegenteil dem Sinn und Zweck der
gesetzlichen Regelung:
  4.3.1  Der Vorsorgeausgleich will die Nachteile der während der Ehe
erfolgten Aufgabenteilung ausgleichen: Der Ehegatte, der sich während der
Ehe der Haushaltführung und Kindererziehung widmet und auf eine
Erwerbstätigkeit (und damit auf die Äufnung eines Vorsorgeguthabens)
verzichtet, soll bei der Scheidung einen Teil der vom anderen Ehegatten
während der Ehe aufgebauten Vorsorge erhalten (Botschaft des Bundesrates
über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 15. November
1995, BBl 1996 I 100). Der Vorsorgeausgleich bezieht sich mithin auf die
während der Ehe aufgebaute Vorsorge, nicht hingegen auf diejenigen
Vorsorgeguthaben, welche die Ehegatten bei der Eheschliessung bereits
hatten; diese sollen den Ehegatten je individuell erhalten bleiben. Die
gesamte im Zeitpunkt der Scheidung vorhandene Austrittsleistung kann damit
ideell in zwei Massen aufgeteilt werden: Die eine Masse umfasst die bei der
Eheschliessung vorhandene Austrittsleistung plus den darauf bis zur
Scheidung aufgelaufenen Zins und Zinseszins und wird nicht geteilt.

Die andere Masse umfasst das während der Ehe erworbene Vorsorgeguthaben plus
den darauf erzielten Zins und Zinseszins und fällt in den Vorsorgeausgleich.
Gesetzestechnisch erfolgt die Berechnung der beiden Massen so, dass sich der
Umfang der zweiten Masse aus einer Subtraktion der ersten Masse von der bei
der Scheidung vorhandenen Austrittsleistung ergibt (KOLLER, a.a.O., S. 141).
Diese Grundidee entspricht dem Charakter der Ehe als Lebens- und
Wirtschaftsgemeinschaft und ist grundsätzlich dieselbe wie diejenige des
ordentlichen ehelichen Güterstandes der Errungenschaftsbeteiligung: Das
eingebrachte Gut verbleibt den Ehegatten, das während der Ehe Erworbene (die
Errungenschaft) wird bei Auflösung der Ehe geteilt (Art. 207 ff. ZGB). Im
Unterschied zum Ehegüterrecht, wo auch der Ertrag auf dem Eigengut zur
Errungenschaft gehört (Art. 197 Abs. 2 Ziff. 4 ZGB), wird freilich im Recht
der beruflichen Vorsorge der Zins und Zinseszins auf dem bei Beginn der Ehe
vorhandenen Vorsorgeguthaben zu diesem Guthaben geschlagen (Art. 22 Abs. 2
FZG). Der während der Ehe aufgelaufene Zins gelangt folglich nicht in die
Teilungsmasse, was namentlich dem Ausgleich der Inflation dienen soll
(Bundesrätliche Botschaft, BBl 1996 I 107). Stärker als das Ehegüterrecht
legt somit das Recht der beruflichen Vorsorge Gewicht darauf, dass jedem
Ehegatten sein Vorsorgeguthaben, das er bei Beginn der Ehe hatte, auch
wertmässig erhalten bleibt (GEISER, Zur Frage des massgeblichen Zeitpunkts
beim Vorsorgeausgleich, in: FamPra 2004 S. 301 ff., 317).

  4.3.2  Es entspricht dieser vom Gesetz getroffenen Wertung, wenn die auf
dem während der Ehe getätigten Vorbezug erlittenen Verluste zu Lasten der
Teilungsmasse gehen. Der Verlust wird damit nicht einseitig dem einen
Ehegatten auferlegt, sondern von den Ehegatten gemeinsam (im Normalfall je
hälftig) getragen. Dies entspricht der gesetzlichen Grundidee, wonach das
während der Ehe Erworbene den Ehegatten gemeinsam zugutekommt. Desgleichen
ist auch von den Ehegatten gemeinsam zu tragen, wenn sich während der Ehe
kein Gewinn ergibt oder das gemeinsam Erworbene wieder verloren geht. Dabei
ist zu berücksichtigen, dass das während der Ehe mit Hilfe des Vorbezugs
erworbene Wohneigentum in der Regel als gemeinsame Wohnung der Ehegatten und
damit der ehelichen Schicksalsgemeinschaft dient, was dadurch sichergestellt
werden kann, dass der Vorbezug nur mit Zustimmung des anderen Ehegatten
möglich ist (Art. 30c Abs. 5 BVG;

Art. 331d Abs. 5 OR). Das gemeinsame Wohnhaus kann grundsätzlich auch nur
mit Zustimmung beider Ehegatten verkauft werden (Art. 169 ZGB). Die
Ehegatten beschliessen damit gemeinsam über das Schicksal des Vorbezugs,
weshalb es billig ist, wenn sie auch den daraus resultierenden Verlust
gemeinsam tragen. Daran ändert nichts, dass vorliegend die mit Hilfe des
Vorbezugs gekaufte Liegenschaft offenbar im Alleineigentum des
Beschwerdegegners stand und im Rahmen einer Zwangsverwertung veräussert
wurde. Mit der Zustimmung zum Vorbezug übernimmt der Ehegatte das Risiko,
das sich daraus ergibt.

  4.3.3  Das Gesagte gilt insbesondere auch dann, wenn der Vorbezug - wie
hier - teilweise zu Lasten von Vorsorgeguthaben erfolgt, welches einer der
Ehegatten im Zeitpunkt der Eheschliessung bereits hatte. Damit stellt
nämlich dieser Ehegatte einen Teil seiner vorehelichen Vorsorge, die nach
dem Willen des Gesetzes durch die Eheschliessung nicht tangiert werden soll,
der ehelichen Gemeinschaft zur Deckung der gemeinsamen Bedürfnisse zur
Verfügung. Es ist deshalb gesetzeskonform, wenn die eheliche Gemeinschaft
ihm zu Lasten der Teilungsmasse diesen Beitrag ersetzt. Nach der Rechnung
der Beschwerdeführerin würden hingegen dem Beschwerdegegner, der bei der
Eheschliessung eine Austrittsleistung von Fr. 48'457.- hatte, im Ergebnis
bei der Scheidung ein Betrag von Fr. 55'742.25 verbleiben; er würde also
nicht einmal die gesetzliche Verzinsung auf seinem "Eingebrachten" erhalten.
Demgegenüber erhielte die Beschwerdeführerin insgesamt Fr. 46'788.-, obwohl
sie bei der Eheschliessung keine Austrittsleistung hatte. Das während der
Ehe von beiden Ehegatten zusammen netto erzielte Vorsorgeguthaben ginge
damit vollumfänglich an die Beschwerdeführerin, was im klaren Widerspruch
zum Gesetz wäre. Auch die von der Beschwerdeführerin in ihrer beispielhaften
Rechnung sich ergebende Konsequenz ist nicht etwa absurd, sondern entspricht
im Gegenteil dieser gesetzlichen Wertung, indem der Ehemann sein
voreheliches Vorsorgeguthaben samt Zins behält und nur das während der Ehe
netto Erworbene geteilt wird.

  4.4  Auf die in der Lehre umstrittene Frage, wer den Zinsverlust auf dem
Vorbezug zu tragen hat (vgl. dazu AEBI-MÜLLER, a.a.O., passim;
BAUMANN/LAUTERBURG, in: INGEBORG SCHWENZER [Hrsg.], Praxiskommentar
Scheidungsrecht, Basel 2000, Rz 83 zu Art. 122; ROLF BRUNNER, Die
Berücksichtigung von Vorbezügen für Wohn-

eigentum bei der Teilung der Austrittsleistung nach Art. 122 ZGB, in: ZBJV
2000 S. 525 ff., 539 ff.; GEISER, a.a.O., S. 77 f.; KOLLER, a.a.O., passim;
SCHNEIDER/BRUCHEZ, a.a.O., S. 230 FN 165; TRACHSEL, a.a.O., S. 531 ff.),
braucht vorliegend nicht näher eingegangen zu werden, da die Vorinstanz
diesbezüglich eine Lösung zu Gunsten der Beschwerdeführerin getroffen hat
und der Beschwerdegegner das Ergebnis nicht angefochten hat.