Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 299



Urteilskopf

132 V 299

  33. Auszug aus dem Urteil i.S. Klinik X. gegen santésuisse St.
Gallen-Thurgau-Glarus und Schweizerischer Bundesrat
  K 21/03 vom 6. März 2006

Regeste

  Art. 47 Abs. 1, Art. 53 KVG; Art. 98 lit. a, Art. 129 Abs. 1 lit. b OG;
Art. 6 Ziff. 1 EMRK: Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Beschwerdeentscheid
des Bundesrates betreffend Festsetzung des Spitaltarifs.

  Auf die gegen einen Beschwerdeentscheid des Bundesrates betreffend
Festsetzung des Spitaltarifs durch die Kantonsregierung gerichtete
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nicht einzutreten. Keine Verletzung des
Anspruchs auf Zugang zu einem Gericht gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK, sofern -
was offen gelassen wurde - dessen Anwendbarkeit überhaupt zu bejahen wäre.
(Erw. 4)

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:
  4.3
  4.3.1 Ist der sachliche Geltungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK betroffen,
besteht Anspruch auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen, auf
Gesetz beruhenden Gericht. Die Vertragsstaaten haben die wirksame Ausübung
dieses Rechts zu gewährleisten, verfügen jedoch in der Wahl der Mittel
hierzu, namentlich in der konkreten Ausgestaltung der innerstaatlichen
Gerichtsbarkeit, über einen erheblichen Ermessensspielraum (Urteile des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] i.S. Airey gegen Irland
vom 9. Oktober 1979, Série A vol. 32 Ziff. 26; A. gegen Grossbritannien vom
17. Dezember 2002, Reports 2002-X S. 146 Ziff. 97; Teltronic-CATV gegen
Polen vom 10. Januar 2006 [Application No. 48140/99] Ziff. 46; Jedamski
gegen Polen vom 26. Juli 2005 [Application No. 73547/01] Ziff. 58). In
institutioneller Hinsicht verlangt Art. 6 Ziff. 1 EMRK, dass im
individuell-konkreten zivil- oder strafrechtlichen Streitverfahren der
Rechtsweg an ein den Anforderungen der Konventionsbestimmung genügendes
Gericht offen steht; hingegen besteht grundsätzlich kein
konventionsrechtlicher Anspruch auf einen Instanzenzug (vgl. auch BGE 124 I
263 Erw. 5b/aa mit Hinweisen) oder - sofern ein solcher besteht - auf
Gerichtsbarkeit in allen Instanzen, insbesondere auch

nicht auf Zugang zu einem obersten Gericht (vgl. MIEHSLER/VOGLER, Rz 272 f.
zu Art. 6, in: KARL WOLFRAM ET AL. [Hrsg.], Internationaler Kommentar zur
Europäischen Menschenrechtskonvention, Köln/Berlin/München 2004, mit
Hinweisen auf die Rechtsprechung). Art. 6 Ziff. 1 EMRK räumt sodann keinen
individuellen Anspruch auf direkte Anfechtung generell-abstrakter Regelungen
ein: Die Bestimmung findet zwar nach der Praxis der Konventionsorgane
mitunter auch auf (verfassungsgerichtliche) Verfahren der abstrakten
Normenkontrolle Anwendung, dies jedoch nur, soweit das nationale Recht die
Möglichkeit der direkten Gesetzesanfechtung vorsieht (Urteil des EGMR i.S.
Voggenreiter gegen Deutschland vom 8. Januar 2004, Reports 2004-I [Auszüge]
S. 11 f. Ziff. 31 und 33, mit Hinweisen). Art. 6 Ziff. 1 EMRK selbst
verlangt mithin grundsätzlich keine abstrakte Normenkontrolle.
Entsprechendes gilt mit Bezug auf Art. 13 EMRK, wonach gegen Verletzungen
der in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten eine wirksame
Beschwerde möglich sein muss (Urteil E. et al. der I. öffentlichrechtlichen
Abteilung des Bundesgerichts vom 14. Februar 2000 [1P.560/1999] Erw. 3b;
aus der Rechtsprechung des EGMR: James u.a. gegen Grossbritannien vom 21.
Februar 1986, Série A vol. 98 Ziff. 85; Hatton u.a. gegen Grossbritannien
vom 8. Juli 2003, Reports 2003-VIII S. 230 Ziff. 138; Costello-Roberts gegen
Grossbritannien vom 25. März 1993, Série A vol. 247-C Ziff. 40: zum Ganzen
s. auch RAINER J. SCHWEIZER, Die schweizerischen Gerichte und das
europäische Recht, in: ZSR 1993, 2. Halbbd., S. 688 f.; RUTH HERZOG, Art. 6
EMRK und kantonale Verwaltungsrechtspflege, Bern 1995, S. 139).

  4.3.2 Im hier zu beurteilenden Fall richtet sich die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde in der Hauptsache gegen die bundesrätliche
Festsetzung einzelner Tarifpositionen im stationären Bereich für den
Zeitraum 1997-2000; es betrifft dies die Herzchirurgie inkl. Plantate (Fr.
16'660.- pro Fall sowie Fr. 914.- für Pflege und Hotellerie pro Tag), sodann
- im Bereich Kardiologie - die Fullrisk-Fallpauschale für
Koronardilatationen inkl. allfällige vorangehende Koronarangiographie (Fr.
5762.-) mit der Möglichkeit der zusätzlichen Verrechnung von Implantaten,
Stents und Spezialkathetern je einzeln zum Einkaufspreis (+ 0.34 %) und
ferner die Fullrisk-Fallpauschale für Koronarangiographien ohne Dilatation
(Fr. 3703.-). Gegen Verfügungen in konkreter Anwendung dieser Tarifklauseln
steht der Beschwerdeführerin unstrittig der Rechtsweg

an das kantonale Schiedsgericht (Art. 89 Abs. 1 KVG) und anschliessend an
das Eidgenössische Versicherungsgericht offen. Dieses ist unter dem
Blickwinkel von Art. 6 Ziff. 1 EMRK verpflichtet, (eine) konkret
angefochtene Tarifposition(en) vorfrageweise - im Sinne einer inzidenten
Normenkontrolle - auf ihre Rechtmässigkeit hin zu überprüfen. Denn wie das
Eidgenössische Versicherungsgericht in seiner neuesten Rechtsprechung
präzisiert hat, erlaubt es Art. 6 Ziff. 1 EMRK einem Vetragsstaat nicht, die
Gesetzmässigkeit einer Tarifklausel der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung jeglicher gerichtlichen Kontrolle zu entziehen,
wenn eine versicherte Person von einer im Einzelfall in Anwendung dieser
Klausel ergangenen Verfügung betroffen ist. Dabei gebietet die geforderte
effektive gerichtliche Kontrolle, dass das Gericht angebliche Tatsachen- und
Rechtsirrtümer ebenso wie Fragen der Verhältnismässigkeit überprüfen kann
und zudem ein Entscheid nicht in einem solchen Umfang in das
unkontrollierbare Ermessen der Verwaltung gestellt wird, dass der Zweck von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereitelt würde; hingegen verlangt die Rechtsprechung
der Konventionsorgane nicht, dass das Gericht volle Überprüfungsbefugnisse
hinsichtlich des Ermessens hat (BGE 131 V 76 f. Erw. 5.4 mit Hinweis;
bestätigt im Urteil S. vom 8. Juli 2005 [K 61/04] Erw. 4.2 und 4.3 [vgl.
ZBJV 2005 S. 903]). Dies gilt namentlich für Tariffestsetzungen, die unter
Umständen komplexe und allenfalls in der Zielrichtung widersprüchliche
Aspekte auf einen Nenner zu bringen haben (vgl. BGE 126 V 349 Erw. 4a mit
Hinweisen).

  4.3.3 Steht die Möglichkeit einer vorfrageweisen richterlichen Überprüfung
der von der Beschwerdeführerin bemängelten Tarifpositionen im konkreten
Anwendungsfall offen, ist den Anforderungen des Art. 6 Ziff. 1 EMRK nach dem
unter Erw. 4.3.1 hievor Gesagten Genüge getan und eine gerichtliche
Anfechtbarkeit des Tarifs als solchem konventionsrechtlich nicht verlangt.