Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 273



Urteilskopf

132 V 273

  30. Urteil i.S. S. gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern
  P 31/05 vom 7. Juni 2006

Regeste

  Art. 3d Abs. 1 lit. b und Abs. 4 Satz 1 ELG; Art. 14 Abs. 1 lit. a und
Abs. 2 ELKV: Kostenvergütung für Hilfe, Pflege und Betreuung von Behinderten
in Tagesstrukturen.

  Die letztgenannte Verordnungsbestimmung, wonach (nur) Kosten bis höchstens
Fr. 45.- pro Tag angerechnet werden, an dem sich die behinderte Person in
der Tagesstruktur aufgehalten hat, ist gesetzmässig. Von den Tagesstätten
erhobene sog. Reservationstaxen für Tage krankheits- oder ferienbedingter
Abwesenheit gehen nicht zulasten der EL. (Erw. 2-5)

Sachverhalt

  A.- Der 1973 geborene, unter elterlicher Sorge stehende S. bezieht seit
1993 Ergänzungsleistungen (EL) zur Invalidenrente. Unter der Woche hält er
sich tagsüber in der Eingliederungsstätte Y. auf. Mit Verfügung vom 17.
Dezember 2004 und Einspracheentscheid vom 18. Februar 2005 vergütete ihm die
Ausgleichskasse des Kantons Bern für die Monate März bis August 2004 Kosten
für Hilfe, Pflege und Betreuung in einer Tagesstruktur im Gesamtbetrag von
Fr. 3090.-, lehnte aber gleichzeitig die Übernahme der in diesem Zeitraum
seitens der Tagesstätte erhobenen sog. Reservationstaxen in Höhe von
insgesamt Fr. 720.20 ab.

  B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 25. Mai 2005 ab,
soweit es darauf eintrat.

  C.- S. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag auf
Vergütung der ihm von der Eingliederungsstätte Y. für Tage krankheits- oder
ferienbedingter Abwesenheit in Rechnung gestellten Reservationstaxen.

  Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung
(BSV) auf eine Vernehmlasssung verzichtet.

  D.- Am 7. Juni 2006 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine
parteiöffentliche Beratung durchgeführt.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

  1.  Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Vergütung von
Behinderungskosten verlangt wird, welche ausserhalb des mit dem streitigen
Einspracheentscheid erfassten Zeitraums (März bis August 2004) anfielen,
kann darauf im vorliegenden Verfahren nicht eingetreten werden.

Erwägung 2

  2.  Bezügern einer jährlichen Ergänzungsleistung ist ein Anspruch
einzuräumen auf die Vergütung von ausgewiesenen, im laufenden

Jahr entstandenen Kosten für u.a. Hilfe, Pflege und Betreuung zu Hause sowie
in Tagesstrukturen (Art. 3d Abs. 1 lit. b ELG). Gemäss Art. 3d Abs. 4 Satz 1
ELG bezeichnet der Bundesrat die Kosten, die nach Abs. 1 vergütet werden
können. Diese Kompetenz hat er in Art. 19 Abs. 1 lit. b ELV an das
Eidgenössische Departement des Innern (EDI) übertragen, welches gestützt
darauf die Verordnung vom 29. Dezember 1997 über die Vergütung von
Krankheits- und Behinderungskosten bei den Ergänzungsleistungen (ELKV)
erlassen hat. Laut deren Art. 14 Abs. 1 werden Kosten für Hilfe, Pflege und
Betreuung von Behinderten in Tagesheimen, Beschäftigungsstätten und
ähnlichen Tagesstrukturen vergütet, wenn sich die behinderte Person mehr als
fünf Stunden pro Tag dort aufhält (lit. a) und die Tagesstruktur von einem
öffentlichen oder gemeinnützigen privaten Träger betrieben wird (lit. b).
Angerechnet werden Kosten bis höchstens Fr. 45.- pro Tag, an dem sich die
behinderte Person in der Tagesstruktur aufgehalten hat (Art. 14 Abs. 2
ELKV).

Erwägung 3

  3.  Die bernischen Tagesstätten verrechneten (offenbar bis Ende 2004)
externen behinderten Erwachsenen auch bei mit einem ärztlichen Zeugnis
begründeten Abwesenheiten eine Reservationstaxe, welche der Grundtaxe
abzüglich der Kosten für das Mittagessen entsprach (frühere Tarifregelung
der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern). Für die von der
Institution festgelegte Anzahl Ferientage pro Jahr wurde und wird auch nach
geltender Tarifregelung keine Reservationstaxe erhoben. Verwaltung und
Vorinstanz vertreten unter Hinweis auf Art. 14 Abs. 1 lit. a einerseits
sowie Art. 14 Abs. 2 ELKV anderseits die Auffassung, dass diese
Reservationsgebühr generell nicht als Behinderungskosten mit
Ergänzungsleistungen vergütet werden kann. Demgegenüber stellt sich der
Beschwerdeführer auf den Standpunkt, die Ergänzungsleistungen hätten
diejenigen Reservationskosten zu übernehmen, welche (noch vor 2005) auf
krankheits- bzw. unfallbedingte Absenzen entfielen oder vom "offiziell
berechtigten Mindestferienanspruch von sechs Wochen" herrührten. Art. 14
ELKV erweise sich als gesetzwidrig.

Erwägung 4

  4.  Nach der Rechtsprechung kann das Eidgenössische Versicherungsgericht
Verordnungen des Bundesrates grundsätzlich, von hier nicht in Betracht
fallenden Ausnahmen abgesehen, auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen. Bei
(unselbstständigen) Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation
stützen, prüft es, ob sie sich in den Grenzen der dem Bundesrat eingeräumten
Befugnisse

halten. Besteht ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf
Verordnungsebene, muss sich das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die
umstrittenen Vorschriften offensichtlich aus diesem Rahmen herausfallen oder
aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Es kann sein eigenes
Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen und es hat
auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen. Die verordnete Regelung
verstösst allerdings dann gegen das Willkürverbot oder das Gebot der
rechtsgleichen Behandlung (Art. 9 und 8 Abs. 1 BV), wenn sie sich nicht auf
ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn- oder zwecklos ist oder wenn
sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für die sich ein vernünftiger Grund
nicht finden lässt. Gleiches gilt, wenn die Verordnung es unterlässt,
Unterscheidungen zu treffen, die richtigerweise hätten berücksichtigt werden
sollen (BGE 131 II 25 Erw. 6.1, 165 Erw. 2.3, 566 Erw. 3.2, 131 V 14 Erw.
3.4.1, 266 Erw. 5.1).

Erwägung 5

  5.  Soweit Ausgleichskasse und kantonales Gericht ihre Ablehnung einer
Vergütung von Reservationstaxen für Tage krankheits- oder ferienbedingter
Abwesenheit einzig mit Art. 14 Abs. 1 lit. a ELKV begründen, wonach sich die
behinderte Person mehr als fünf Stunden pro Tag in einem Tagesheim, einer
Beschäftigungsstätte oder in einer ähnlichen Tagesstruktur aufhalten muss,
kann ihnen nicht gefolgt werden. Sinn und Zweck dieses Erfordernisses liegen
nämlich gemäss den seinerzeitigen Erläuterungen des BSV zur (am 1. Januar
1996 in Kraft getretenen) Neufassung des damaligen Art. 11a der Verordnung
des EDI vom 20. Januar 1971 über den Abzug von Krankheits- und
Behinderungskosten bei den Ergänzungsleistungen (aELKV) allein in der
Klarstellung, dass Kosten für Mittagstische und Freizeitstätten
grundsätzlich nicht vergütet werden können (AHI 1996 S. 72 unten).

  Hingegen haben sich Verwaltung und Vorinstanz zur Ablehnung der Vergütung
von Reservationskosten zu Recht auf Art. 14 Abs. 2 ELKV berufen, welcher
bestimmt, dass Kosten bis höchstens Fr. 45.- pro Tag angerechnet werden, an
dem sich die behinderte Person in der Tagesstruktur aufgehalten hat. Laut
den erwähnten BSV-Erläuterungen wollte der Verordnungsgeber mit dieser
Vorschrift (damals noch Art. 11a Abs. 2 aELKV) sicherstellen, dass nur die
effektiven Aufenthaltstage in einer Tagesstruktur zulasten der
Ergänzungsleistungen gehen; jegliches In-Rechnung-Stellen von Pauschalen
sollte verhindert werden (AHI 1996 S. 73). Die

Verordnungsbestimmung stützt sich auf Art. 19 Abs. 1 lit. b ELV und den
ersten Satz von Art. 3d Abs. 4 ELG, welcher - wie bereits angeführt - dem
Bundesrat die Kompetenz gibt, die ausgewiesenen Kosten u.a. für Hilfe,
Pflege und Betreuung zu Hause sowie in Tagesstrukturen zu bezeichnen, die
zusätzlich zur jährlichen Ergänzungsleistung vergütet werden können. Durch
diese offene Formulierung wird dem Verordnungsgeber ein sehr weiter
Spielraum der Gestaltungsfreiheit eingeräumt, ermächtigt doch die
Delegationsnorm des Art. 3d Abs. 4 ELG den Bundesrat (bzw. Art. 19 Abs. 1
ELV das Departement) insbesondere zum Erlass materieller Vorschriften
darüber, welche in einer Tagesstruktur im Zusammenhang mit Hilfe-, Pflege-
und Betreuungsleistungen anfallenden Kosten vergütungsfähig sind (vgl. BGE
131 V 267 Erw. 5.2.1). Angesichts dieses weiten Gestaltungsspielraums hält
sich das vom EDI in Art. 14 Abs. 2 ELKV verankerte, die Übernahme pauschaler
Kosten möglichst verhindernde Erfordernis des effektiven Aufenthaltes der
behinderten Person in der Tagesstruktur offenkundig innerhalb der mit Art.
3d Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 ELG abgesteckten Grenzen. Kann nach dem
Gesagten von einer Gesetzwidrigkeit der streitigen Verordnungsbestimmung
keine Rede sein, erweist sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als
unbegründet.

Erwägung 6

  6.  Wie die Ausgleichskasse im Einspracheentscheid zutreffend festgestellt
hat, ist es nicht Sache der EL-Organe (und auch nicht des
Sozialversicherungsgerichts) zu beurteilen, inwieweit die Erhebung von
Reservationsgebühren durch die Tagesstätten überhaupt zulässig ist.
Anzumerken bleibt, dass seit anfangs 2005 bei Abwesenheiten wegen Krankheit
oder Unfall keine Reservationstaxe mehr erhoben wird, "falls ab 1.
Abwesenheitstag ein Arztzeugnis vorliegt" (neue Tarifregelung der
Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern für externe behinderte
Erwachsene).