Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 181



Urteilskopf

132 V 181

  19. Auszug aus dem Urteil i.S. M. gegen beco Berner Wirtschaft,
Arbeitslosenkasse, und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
  C 229/03 vom 1. Februar 2006

Regeste

  Art. 8 Abs. 2 AVIG; Art. 3 Abs. 1 AVIV; Art. 351 OR: "Tagesmütter".

  Versicherte, welche fremde Kinder bei sich zu Hause betreuen
("Tagesmütter"), gelten nicht als Heimarbeitnehmer. (Erw. 2)

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 181

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.

  2.1  Es steht fest, dass die Beschwerdeführerin im Bemessungszeitraum vom
1. Dezember 2001 bis 30. November 2002 als Tagesmutter (Betreuung eines
Kindes bei sich zu Hause) einen versicherten Verdienst von durchschnittlich
Fr. 423.50 im Monat erzielte. Umstritten ist, ob sie in Bezug auf diese
Tätigkeit als Heimarbeitnehmerin nach Art. 8 Abs. 2 AVIG, alt Art. 18 Abs. 3
AVIG und Art. 3 Abs. 1 AVIV sowie Art. 351 OR zu betrachten ist. Das
kantonale Gericht hat diese Frage mit der Begründung verneint, das Betreuen
von Kindern stelle keine Arbeit industrieller, gewerblicher, kaufmännischer
oder technischer Natur im Sinne des Gesetzes und der Literatur dar. Dem hält
die Beschwerdeführerin im Wesentlichen entgegen, die gesetzliche Regelung
schliesse die Qualifikation der Fremdkinder-Betreuung als Heimarbeit nicht
aus. Die gegenteilige Auffassung stelle eine Ungleichbehandlung

verschiedener Arbeiten/Berufsgruppen im tertiären Arbeits-Sektor dar. Die
Betreuung fremder Kinder bei sich zu Hause sei geradezu ein typisches
Beispiel für Heimarbeit dieses Bereichs.

  2.2  Im Urteil M. vom 12. November 1997 (ARV 1998 Nr. 46 S. 261) hat das
Eidgenössische Versicherungsgericht im Zusammenhang mit der Sonderregelung
des Art. 14 Abs. 2 AVIV (Vermittlungsfähigkeit von Versicherten, die vor
ihrer Arbeitslosigkeit als Heimarbeitnehmer beschäftigt waren) Erwägungen
angestellt zur Frage, ob die Tätigkeit als Tagesmutter, die Betreuung von
Tageskindern zu Hause, Heimarbeit im Sinne von Art. 351 OR darstellt. Das
Gericht hat im Wesentlichen unter Hinweis auf die Lehre sowie die Botschaft
zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Revision des 10. Titels und des
10. Titelsbis des Obligationenrechts (Der Arbeitsvertrag; BBl 1967 II 241
ff.) zusammengefasst Folgendes ausgeführt: Unter den Begriff der Heimarbeit
fallen alle Arbeiten, zu deren Ausführung der Heimarbeitnehmer (allenfalls
von ihm zu beschaffendes) Material und/oder Geräte, die ihm vom Arbeitgeber
übergeben werden, benötigt (vgl. Art. 351a und 352a Abs. 1 OR). Es handelt
sich dabei in erster Linie um manuelle und maschinelle Verrichtungen zur
Güterherstellung, -verarbeitung und -veredelung in Industrie und Gewerbe.
"Typische" Beispiele sind etwa das Handmaschinensticken und -weben, das
Zusammensetzen und Fertigen von Uhren oder das Ausführen von Sackreparaturen
für die PTT oder das EMD. Heimarbeiten im Sinne von Art. 351 OR können
indessen nicht nur industrieller und gewerblicher, sondern auch
kaufmännischer oder technischer Natur sein (BBl 1967 II 267 unten). Zu
denken ist insbesondere an das Führen der Buchhaltung für eine Firma, das
Leiten einer lokalen oder regionalen Krankenkassenagentur, an
Schreibarbeiten, Übersetzungen oder das Zeichnen von Plänen. Schliesslich
können auch journalistische, wissenschaftliche und künstlerische
Verrichtungen in Heimarbeit ausgeführt werden. Im Unterschied zum
Heimarbeitsgesetz vom 12. Dezember 1940, welches nur für industrielle und
gewerbliche Heimarbeit galt, kann somit der Heimarbeitsvertrag (neben
werkvertraglichen) auch dienstvertragliche Merkmale aufweisen. Im Rahmen der
Kodifikation des Arbeitsvertragsrechts (Bundesgesetz vom 25. Juni 1971)
wurde zwar der Kreis der unter den Heimarbeitsvertrag fallenden
Rechtsverhältnisse bewusst weiter gezogen. Daraus kann indessen nicht
gefolgert

werden, Heimarbeit im Sinne von Art. 351 ff. OR liege in der Regel dann vor,
wenn die betreffende Tätigkeit in der Wohnung oder in einem andern,
bestimmten Arbeitsraum ausgeführt wird. Gegen eine solche Interpretation
spricht schon der Gesetzeswortlaut. Danach gibt der Arbeitgeber Arbeit aus,
der Heimarbeitnehmer führt diese aus, wozu er in der Regel Material und
Geräte benötigt, und übergibt, wenn die Arbeit fertig gestellt ist, das
Arbeitserzeugnis dem Arbeitgeber (Art. 351-352a Abs. 1 OR). Lassen sich nun
die vorher erwähnten Beispiele von Heimarbeit ohne weiteres unter diese
gesetzliche Umschreibung subsumieren, trifft dies auf die überwiegend
dienstvertragliche Merkmale aufweisende Tätigkeit als Tagesmutter nicht ohne
weiteres zu (ARV 1998 Nr. 46 S. 268 ff. Erw. 4b/aa). Indessen musste die
Frage letztlich nicht beantwortet werden.

  Eine nochmalige eingehende Prüfung ergibt, dass Tagesmütter nicht als
Heimarbeitnehmerinnen zu betrachten sind. Die Betreuung fremder Kinder bei
sich zu Hause kann nicht als Ausführen von "Arbeiten" im Sinne von Art. 351
OR bezeichnet werden. Gegen ein solches Begriffsverständnis spricht, dass
der Heimarbeitnehmer oder die Heimarbeitnehmerin dem Arbeitgeber ein
Arbeitserzeugnis zu übergeben oder abzuliefern hat. Es ist somit ein
Arbeitsergebnis geschuldet und nicht bloss das Leisten von Arbeit (MANFRED
REHBINDER, Zur gesetzlichen Begriffsbestimmung des Heimarbeitsvertrages, in:
ArbR [Mitteilungen des Instituts für Schweizerisches Arbeitsrecht] 1990 S.
79 ff., S. 81 II.1). Selbst wenn über den Gesetzeswortlaut hinaus "die in
das Pflegekind 'eingeflossene' Betreuung mitsamt dem zufriedenen Kind" als
Arbeitserzeugnis bezeichnet werden wollte, wie die Beschwerdeführerin
vorbringt, wäre damit nichts gewonnen. Es kommt entscheidend dazu, dass das
Arbeitsergebnis (Gegenstand, Ware, Text usw.) durch den Arbeitgeber weiter
wirtschaftlich verwendet resp. verwertet wird, in der eigenen Produktion
oder direkt auf dem Markt. Dieses Merkmal fehlt bei der Kinderbetreuung
gänzlich. Die Entstehungsgeschichte der Regelung über den Heimarbeitsvertrag
(Art. 351 ff. OR) bestätigt im Übrigen, dass der Wortlaut auch dem
Rechtssinn entspricht. Insbesondere finden sich in den Materialien keine
Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber auch die Tätigkeit als Tagesmutter als
Heimarbeit erfasst haben wollte (vgl. BBl 1967 II 267 f. und 414 ff.; ferner
Botschaft vom 27. Februar 1980 zu einer Revision des Bundesgesetzes über die
Heimarbeit

[BBl 1980 II 282 ff.] S. 293). Hinsichtlich der Merkmale des
Heimarbeitsvertrages ist sodann ergänzend festzuhalten, dass der
Arbeitnehmer den Ort der Arbeitsausführung ausserhalb des Betriebes selber
wählt, dass das Weisungsrecht des Arbeitgebers beschränkt ist und er weder
die Arbeitszeit festsetzen noch Anweisungen über die Organisation der
Arbeitszeit erteilen kann und dass der Arbeitnehmer die Arbeit nicht
persönlich ausführen muss (vgl. BRUNNER/BÜHLER/WAEBER/BRUCHEZ, Kommentar zum
Arbeitsvertragsrecht, 3. Aufl., S. 345 f.). All diesen Kriterien entspricht
die Tätigkeit als Tagesmutter nicht.

  Die in ARV 1998 Nr. 46 S. 261 offen gelassene Frage, ob die Tätigkeit als
Tagesmutter als Heimarbeit im Sinne von Art. 8 Abs. 2 AVIG und Art. 3 Abs. 1
AVIV sowie Art. 351 OR gelten kann, ist somit zu verneinen.