Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 1



Urteilskopf

132 V 1

  1. Auszug aus dem Urteil i.S. Sammelstiftung N. gegen IV-Stelle Bern und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern
  I 66/05 vom 9. Dezember 2005

Regeste

  Art. 29 IVG; Art. 23 ff. BVG; Art. 49 Abs. 4 ATSG: Bindung der
Vorsorgeeinrichtung an Entscheidungen der IV-Organe, Verfahrenskoordination
und -teilnahme; Eröffnungsfehler.

  Die Judikatur, wonach die Vorsorgeeinrichtungen im Bereich der
gesetzlichen Mindestvorsorge an die Feststellungen der IV-Organe gebunden
sind, ist auch unter Geltung des ATSG massgebend. Die Vorsorgeeinrichtung
ist durch die Invaliditätsbemessung der Eidgenössischen
Invalidenversicherung gemäss Art. 49 Abs. 4 ATSG berührt. (Erw. 3)
  Versäumt eine IV-Stelle das Einbeziehen einer präsumtiv
leistungspflichtigen Vorsorgeeinrichtung in das IV-Verfahren, ist die
invalidenversicherungsrechtliche Festsetzung des Invaliditätsgrades für die
Vorsorgeeinrichtung nicht verbindlich, weshalb kein Grund besteht, der
Vorsorgeeinrichtung bei nachträglicher Kenntnis der IV-Rentenverfügung den
Rechtsweg gegen diese zu eröffnen. (Erw. 3)

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

  1.  Der Rechtsstreit beschlägt die Frage, wie der Umstand zu würdigen ist,
dass die IV-Stelle es versäumte, die Sammelstiftung als BVG-Versicherer in
das der rentenzusprechenden Verfügung vom 5. März 2003 vorangehende
IV-Verfahren einzubeziehen. Dafür sind nach den hier anwendbaren allgemeinen
Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden
Sachverhalts (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit
Hinweisen) die ab 1. Januar 2003 gültigen Bestimmungen anwendbar.

Erwägung 2

  2.  Unter Geltung der hier nicht einschlägigen, bis 31. Dezember 2002
massgebenden Normenlage entschied das Eidgenössische Vericherungsgericht
bezüglich Verfahrenskoordination und -teilnahme im Verhältnis zwischen
Eidgenössischer Invalidenversicherung (IV) und beruflicher Vorsorge wie
folgt:

  Gemäss BGE 129 V 73 ist die IV-Stelle verpflichtet, eine Rentenverfügung
allen in Betracht fallenden Vorsorgeeinrichtungen von Amtes wegen zu
eröffnen. Dem BVG-Versicherer steht ein selbstständiges Beschwerderecht im
Verfahren nach IVG zu. Unterbleibt ein solches Einbeziehen der präsumptiv
leistungspflichtigen Vorsorgeeinrichtungen, ist die
invalidenversicherungsrechtliche Festsetzung des Invaliditätsgrades
(grundsätzlich, masslich und zeitlich) berufsvorsorgerechtlich nicht
verbindlich. In diesem Fall besteht kein Grund, der Vorsorgeeinrichtung bei
nachträglicher Kenntnis der Rentenverfügung der Invalidenversicherung den
Rechtsweg gegen diese zu eröffnen (Urteil S. vom 5. Oktober 2005, B 91/04,
Erw. 3).

Erwägung 3

  3.  Ob mit In-Kraft-Treten des ATSG in analoger Weise zu entscheiden ist,
hängt davon ab, ob über den 1. Januar 2003 hinaus Vorsorgeeinrichtungen, die
ausdrücklich oder unter Hinweis auf das Gesetz vom gleichen
Invaliditätsbegriff wie die Invalidenversicherung ausgehen, an die
Invaliditätsbemessung der IV-Stelle gebunden sind, sofern diese nicht
offensichtlich unhaltbar ist (in BGE 130 V 501 nicht publizierte Erw. 2 mit
Hinweisen), und ob den BVG-Versicherern - gleichsam als Korrelat zu dieser
Bindungswirkung - die Möglichkeit offen steht, "die gleichen Rechtsmittel
(zu) ergreifen wie die versicherte Person" (Art. 49 Abs. 4 ATSG).

  3.1  In BGE 131 V 362 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
entschieden, dass der Unfallversicherer - wie zuvor schon in Fällen, in
welchen das ATSG noch nicht zur Anwendung gelangte (AHI 2004 S. 181 [Urteil
vom 13. Januar 2004, I 564/02]) - auch unter der Herrschaft des ATSG
(insbesondere Art. 49 Abs. 4 ATSG) an die Invaliditätsbemessung der
Invalidenversicherung nicht gebunden ist. Entsprechend fehlt es dem
Unfallversicherer am "Berührtsein" im Sinne von Art. 49 Abs. 4 ATSG, weshalb
dieser nicht zur Einsprache gegen die Verfügung oder zur Beschwerde gegen
den Einspracheentscheid der IV-Stelle über den Rentenanspruch als solchen
oder den Invaliditätsgrad berechtigt ist; ebenso fehlt dem Unfallversicherer
die Berechtigung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Eidgenössische
Versicherungsgericht gegen Entscheide kantonaler Gerichte in Streitigkeiten
um eine Rente der Invalidenversicherung (BGE 131 V 365 ff. Erw. 2,
insbesondere Erw. 2.2). Damit hat sich das Eidgenössische
Versicherungsgericht im Ergebnis einer früher schon in der Doktrin
verschiedentlich vertretenen

Meinung angeschlossen, wonach ein "Berührtsein" nicht angenommen werden
kann, soweit nicht eine eigentliche Bindung an den durch einen anderen
Sozialversicherungsträger getroffenen Entscheid besteht, sondern bloss eine
Obliegenheit, dessen bereits vorliegenden rechtskräftigen Entscheid mit zu
berücksichtigen (vgl. KIESER, ATSG-Kommentar, N 30 zu Art. 49 in fine mit
entsprechenden Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung; JÜRG SCHEIDEGGER,
Die Koordination der Invaliditätsschätzungen der verschiedenen
Sozialversicherungszweige, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI [Hrsg.], Aktuelle
Rechtsfragen der Sozialversicherungspraxis, St. Gallen 2001, S. 101, wo
ebenfalls keine enge Bindung der Unfallversicherung an eine rechtskräftige
Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung angenommen wird; einlässlich
zum Ganzen: MEYER, Die Teilnahme am vorinstanzlichen Verfahren als
Voraussetzung der Rechtsmittellegitimation, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI
[Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2004, St. Gallen 2004, S. 14 ff.
und insbesondere S. 28 ff.).

  3.2  Dieses Urteil lässt sich auf das hier strittige Verhältnis zwischen
erster Säule (Invalidenversicherung) und zweiter Säule (berufliche Vorsorge)
freilich nicht analog übertragen. Denn im Unterschied zum Verhältnis
Invalidenversicherung zur Unfallversicherung ist die durch die Judikatur
näher umschriebene Bindungswirkung der Invaliditätsbemessung der
Invalidenversicherung für die (obligatorische) berufliche Vorsorge (BGE 115
V 208 und 215 sowie 118 V 39 Erw. 2 und 3 sowie seitherige Urteile) in den
Art. 23 ff. BVG positivrechtlich ausdrücklich verankert. Dies zeigt sich
darin, dass sich der Leistungsanspruch auf eine Invalidenrente der
obligatorischen beruflichen Vorsorge an den sachbezüglichen Voraussetzungen
des IVG orientiert (Art. 23 lit. a BVG in der seit 1. Januar 2005 gültigen
Fassung), die Höhe der berufsvorsorgerechtlichen Rente analog zu derjenigen
nach IVG bestimmt wird und schliesslich für den Beginn des Anspruchs auf
eine BVG-Invalidenrente gestützt auf Art. 26 Abs. 1 BVG sinngemäss die
entsprechenden invalidenversicherungsrechtlichen Bestimmungen (Art. 29 IVG)
gelten. An dieser gesetzlichen Konzeption, die auf der Überlegung fusst, die
Organe der beruflichen Vorsorge von eigenen aufwändigen Abklärungen
freizustellen, und folglich nur bezüglich Feststellungen und Beurteilungen
der IV-Organe gilt, welche im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren
für die Festlegung des Anspruchs auf eine Invalidenrente entscheidend waren,
hat sich mit

In-Kraft-Treten des ATSG, welchem die berufliche Vorsorge grundsätzlich
nicht untersteht (vgl. hiezu im Allgemeinen: KIESER, ATSG-Kommentar, N 18
ff. zu Art. 2 sowie bezüglich Überentschädigung: BGE 130 V 78), nichts
geändert.

  3.3  Das Gesagte zeitigt folgende Wirkungen:
  3.3.1  Indem die Invaliditätsbemessung der Invalidenversicherung für die
Organe der (obligatorischen) beruflichen Vorsorge über den 1. Januar 2003
hinaus prinzipiell bindend ist, ist sie geeignet, die Leistungspflicht des
BVG-Versicherers in grundsätzlicher, zeitlicher und masslicher Hinsicht im
Sinne von Art. 49 Abs. 4 ATSG (unmittelbar) zu berühren. Die Organe der
beruflichen Vorsorge sind daher zur Einsprache gegen die Verfügung oder zur
Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der IV-Stelle über den
Rentenanspruch als solchen oder den Invaliditätsgrad berechtigt; ebenso ist
der BVG-Versicherer befugt, Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Eidgenössische
Versicherungsgericht gegen Entscheide kantonaler Gerichte in Streitigkeiten
um eine Rente der Invalidenversicherung zu führen.

  3.3.2  Einem Eröffnungsfehler gegenüber einer präsumtiv
leistungspflichtigen Vorsorgeeinrichtung ist auch unter Geltung des ATSG in
der Weise Rechnung zu tragen, dass den Ergebnissen bezüglich Invalidität aus
dem IV-Verfahren keine Bindungswirkung für die Invaliditätsbeurteilung im
berufsvorsorgerechtlichen Verfahren zuzuerkennen ist. Es besteht daher, wie
bereits im zitierten Urteil S. vom 5. Oktober 2005, B 91/04, zur
altrechtlichen Normenlage entschieden, kein Grund, der Vorsorgeeinrichtung
bei nachträglicher Kenntnis der IV-Rentenverfügung den Rechtsweg gegen diese
zu eröffnen (vgl. Erw. 2 Absatz 2  hievor). Der angefochtene
Gerichtsentscheid, worin der auf Nichteintreten lautende Einspracheentscheid
bestätigt wurde, hält im Ergebnis Stand.

Erwägung 4

  4.  (Gerichtskosten)