Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 I 291



Urteilskopf

132 I 291

  31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S.
Leuzinger gegen Landammann Robert Marti sowie Regierungsrat und
Verwaltungsgericht des Kantons Glarus (Staatsrechtliche Beschwerde)
  1P.427/2006 vom 3. November 2006

Regeste

  Zulässigkeit von Abänderungsanträgen anlässlich der Landsgemeinde; Art. 65
KV/GL, Art. 34 BV.

  Regelung der Verhandlungen der Landsgemeinde durch die Glarner
Kantonsverfassung; Zulässigkeit von Abänderungsanträgen der
Stimmberechtigten (E. 4.1). Der umstrittene Abänderungsantrag steht in einem
sachlichen Zusammenhang mit der Vorlage des Landrates und ist zulässig (E.
4.2).

Sachverhalt ab Seite 291

  Die Landsgemeinde des Kantons Glarus vom 7. Mai 2006 hatte unter
Traktandum § 12 über die Bildung von Einheitsgemeinden (anstelle der
bisherigen Ortsgemeinden, Tagwen, Schulgemeinden und Fürsorgegemeinden
gemäss Art. 122 ff. der Glarner Kantonsverfassung) sowie unter Traktandum §
13 über die Fusion von Einheitsgemeinden zu befinden.

  Der vom Landrat des Kantons Glarus zuhanden der Landsgemeinde
verabschiedete Antrag gemäss Traktandum § 13 war umstritten.

Zu Diskussionen Anlass gab einerseits die Möglichkeit der zwangsweisen
Fusion von Gemeinden. Andererseits standen - vor dem Hintergrund
effizienterer Gemeindestrukturen - verschiedene Fusionsmodelle mit
unterschiedlicher Anzahl von Gemeinden zur Debatte. Der Landrat hatte
Fusionen zu acht und zu drei Gemeinden verworfen und einer Struktur mit zehn
Gemeinden ab dem 1. Januar 2011 den Vorzug gegeben.

  Anlässlich der Landsgemeinde vom 7. Mai 2006 wurde der Bildung von
Einheitsgemeinden gemäss Traktandum § 12 zugestimmt. Zur Frage der Fusion
von Einheitsgemeinden nach Traktandum § 13 wurden nebst einem
Rückweisungsantrag (zwecks Ausarbeitung eines Modells mit drei Gemeinden)
und einem Ablehnungsantrag Abänderungsanträge gestellt, die 1) die Fusion
von Näfels und Mollis, 2) die Fusion von Netstal, Glarus, Riedern und
Ennenda und 3) gemäss Antrag von Kurt Reifler die Fusion zu drei
Einheitsgemeinden verlangten. Mit mehreren Eventualabstimmungen und in der
Schlussabstimmung beschloss die Landsgemeinde die Fusion sämtlicher
Gemeinden zu drei Einheitsgemeinden.

  Der Antrag über den Ausgleich der unterschiedlichen Vermögensverhältnisse
bei den sich zusammenschliessenden Gemeinden sowie die Ermächtigung an den
Regierungsrat, die Ergebnisse der Beschlussfassungen der Landsgemeinde zu
bereinigen und dem Landrat zu unterbreiten, blieben unbestritten und wurden
abgenommen.

  Erich Leuzinger erhob Stimmrechtsbeschwerde und verlangte die Aufhebung
der Landsgemeindebeschlüsse vom 7. Mai 2006 betreffend Traktandum § 13 und
die Feststellung, dass der obsiegende Antrag von Kurt Reifler auf Schaffung
von drei Gemeinden unzulässig war und daher nicht hätte zur Abstimmung
gebracht werden dürfen.

  Nach einem Meinungsaustausch mit dem Regierungsrat des Kantons Glarus trat
das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus auf die Stimmrechtsbeschwerde ein
und wies sie mit Urteil vom 6. Juni 2006 ab. Es hielt zusammenfassend fest,
der Antrag Reifler stehe in einem sachlichen Zusammenhang mit dem
Beratungsgegenstand, stelle nicht etwas gänzlich Neues dar und habe daher
zur Abstimmung gebracht werden dürfen.

  Gegen diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts hat Erich Leuzinger beim
Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde nach Art. 85 lit. a OG erhoben.
Das Bundesgericht weist die Stimmrechtsbeschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Der Beschwerdeführer bezieht sich auf die folgenden Bestimmungen der
Verfassung des Kantons Glarus vom 1. Mai 1988 (KV/GL):

   "Art. 65 - Verhandlungen

    1 Die Grundlage für die Verhandlungen bilden die im Memorial oder im
    Amtsblatt veröffentlichten Vorlagen des Landrates; andere Gegenstände
    dürfen nicht beraten werden.

    2 Jeder stimmberechtigte Teilnehmer hat das Recht, zu den Sachvorlagen
    Anträge auf Unterstützung, Abänderung, Ablehnung, Verschiebung oder
    Rückweisung zu stellen.

    3 Abänderungsanträge müssen zum Beratungsgegenstand in einem sachlichen
    Zusammenhang stehen.

    4 (...)

    5 Wer sich zu einer Sachvorlage äussern will, hat zuerst seinen Antrag
    zu formulieren und ihn danach kurz zu begründen."

  (...)

Erwägung 4

  4.  Zur Hauptsache macht der Beschwerdeführer geltend, der Antrag von Kurt
Reifler auf unmittelbare Bildung von drei Einheitsgemeinden stehe mit dem
Beratungsgegenstand, wie er nach Art. 65 Abs. 1 KV/GL durch den Antrag des
Landrates vorgezeichnet sei, nicht in einem hinreichend sachlichen
Zusammenhang gemäss Art. 65 Abs. 3 KV/GL, stelle daher einen unzulässigen
"andern Gegenstand" im Sinne von Art. 65 Abs. 1 Satz 2 KV/GL dar, habe zu
einer Abstimmung ohne hinreichende Information der Stimmberechtigten geführt
und hätte daher als unrechtmässig der Abstimmung nicht unterbreitet werden
dürfen.

  4.1  Die Grundlage für die Verhandlungen der Landsgemeinde bilden die im
Memorial veröffentlichten Vorlagen des Landrates; diese Vorlagen beschränken
den Gegenstand für die Verhandlungen der Landsgemeinde, und andere
Gegenstände dürfen nicht beraten werden (Art. 65 Abs. 1 KV/GL). Im Rahmen
der derart vorgezeichneten Verhandlungsgegenstände darf jeder
stimmberechtigte Teilnehmer namentlich Abänderungsanträge stellen;
Abänderungsanträge müssen indes zum Beratungsgegenstand in einem sachlichen
Zusammenhang stehen (Art. 65 Abs. 2 und 3 KV/GL). Dieses Antragsrecht stellt
ein durch den Beratungsgegenstand beschränktes, bedingtes und für die
Glarner Landsgemeinde typisches Initiativrecht

dar (vgl. RAINER J. SCHWEIZER, Kommentar zum Entwurf der Verfassung des
Kantons Glarus, Bd. I, S. 208 und 212). Die sachliche Beschränkung des
Antragsrechts weist Ähnlichkeiten auf mit der so genannten Einheit der
Materie in einem weitern Sinne, welche die Zulässigkeit von Gegenvorschlägen
zu Volksinitiativen begrenzt (vgl. BGE 113 Ia 46 E. 5a S. 54), darf indes
mit dieser nicht gleichgesetzt werden. Im Rahmen der Vorarbeiten zur
Kantonsverfassung wurde darauf hingewiesen, dass Abänderungsanträge und ihre
Konsequenzen bisweilen schwierig zu beurteilen sind, dass die Beschränkung
des Antragsrechts gemäss Art. 65 Abs. 3 KV/GL aber nicht allzu engherzig
angewendet werden dürfe (SCHWEIZER, a.a.O., S. 180, 209 und 212). Das Recht,
Abänderungsanträge zu stellen, hat zur Folge, dass die Stimmberechtigten,
anders als bei einer Urnenabstimmung, eine Vorlage nicht nur annehmen oder
verwerfen können, sondern gestaltend auf eine Vorlage einwirken können. Dies
stellt gerade den Sinn der Versammlungsdemokratie und ihr "demokratischer
Mehrwert" gegenüber der Urnendemokratie dar. Die Stimmberechtigten haben mit
Abänderungsanträgen an der Versammlung zu rechnen (Urteil 1P.250/2006 /
1P.264/2006 vom 31. August 2006, E. 4.3).

  4.2  Ausgangspunkt des umstrittenen Landsgemeindebeschlusses bildete der
Antrag des Landrates auf Änderung der Kantonsverfassung im Hinblick auf die
Zusammenlegung der neu gebildeten Einheitsgemeinden. Nachdem der Landrat die
Bildung von zehn Einheitsgemeinden vorschlug, stand deren Anzahl zur
Diskussion. Es wurden denn auch Abänderungsanträge von Hansjörg Marti auf
Bildung von sieben Einheitsgemeinden (unter Zusammenlegung von Mollis und
Näfels einerseits und von Netstal, Glarus, Riedern und Ennenda andererseits)
gestellt und zugelassen (vgl. Protokoll der Landsgemeinde S. 16). Umgekehrt
wären auch Anträge zulässig gewesen, die eine höhere Anzahl von
Einheitsgemeinden als die vom Landrat vorgeschlagene verlangt hätten. Damit
ist, wie das Verwaltungsgericht festgestellt hat, der erforderliche
Sachzusammenhang des Antrags von Kurt Reifler in formeller Hinsicht klar zu
bejahen.

  Auch in materieller Hinsicht kann nicht gesagt werden, dass der Antrag von
Kurt Reifler gegenüber der Vorlage des Landrates etwas gänzlich Neues
verlangt hätte. Die Traktanden § 12 und 13 waren von vornherein auf eine
Änderung der Gemeindestrukturen von weitreichender grundsätzlicher Bedeutung
ausgerichtet. Es war

nicht nur die Bildung von Einheitsgemeinden (anstelle der Ortsgemeinden,
Tagwen, Schulgemeinden und Fürsorgegemeinden) vorgeschlagen, sondern auch
eine radikale Verkleinerung der Anzahl der 25 Einheitsgemeinden beantragt
worden. Wie dargetan, stand nicht nur ein Modell mit zehn Einheitsgemeinden,
sondern auch ein solches mit sieben zur Diskussion. Im Vergleich mit diesen
Anträgen stellt der Antrag von Kurt Reifler nicht etwas grundsätzlich
Anderes dar. Er verfolgt darüber hinaus keine wesentlich andere Zielrichtung
als die behördliche Vorlage und lässt sich mit dem angegebenen Zweck der
Reform der Gemeindestrukturen - Stärkung der Gemeinden und Sicherung von
deren Überlebens- und Entwicklungsfähigkeit, Vereinfachung der
Gemeindestrukturen, Stärkung der finanziellen Basis der Gemeinden, Sicherung
von Qualität und Professionalität (vgl. Memorial S. 141-146) - ohne weiteres
vereinbaren.

  Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann auch nicht gesagt
werden, dass das Modell mit drei Einheitsgemeinden vollkommen unerwartet
gestellt worden ist. Wie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil
dargelegt hat, wurde das Dreier-Modell im Rahmen der Vorarbeiten zur
Gemeindestrukturreform diskutiert und im Landrat beraten. Vorgängig der
Landsgemeinde war davon in der Presse die Rede. Und im Memorial ist auf das
- vom Landrat schliesslich verworfene - Dreier-Modell hingewiesen worden. Im
Übrigen liegt es in der Natur einer Gemeindeversammlung oder Landsgemeinde
(oben E. 4.1 a.E.), dass mit Überraschungen zu rechnen ist.

  Schliesslich beanstandet der Beschwerdeführer, dass die stimmberechtigten
Teilnehmer nicht über hinreichende Informationen zum Modell mit drei
Einheitsgemeinden verfügt hätten. In dieser Hinsicht ist einzuräumen, dass
die Konsequenzen eines Zusammenschlusses zu drei Einheitsgemeinden mangels
entsprechender Informationen im Memorial nicht in gleicher Weise bekannt
waren wie jene des vom Landrat vorgeschlagenen Modells. Angesichts des
Antragsrechts aus den Reihen der Stimmberechtigten hat dies für sich
genommen nicht die Unzulässigkeit des Antrages von Kurt Reifler zur Folge.
Zum einen hätte auch der Antrag auf Zusammenschluss der Gemeinden Mollis und
Näfels bzw. Netstal, Glarus, Riedern und Ennenda gewichtige Abweichungen von
der Vorlage des Landrates zur Folge gehabt. Zum andern bringt es das Recht
auf Abänderungsanträge, soll es nicht seines Sinnes entleert werden,

systemimmanent mit sich, dass weniger Ausgereiftes vorgeschlagen und
schliesslich auch angenommen wird. Dies verhält sich bei Vorlagen zur
Änderung der Kantonsverfassung gleich wie bei Gesetzesvorlagen. Es ist unter
dem Gesichtswinkel der politischen Rechte nicht ersichtlich, dass das
Antragsrecht bei Verfassungsvorlagen restriktiver zu handhaben wäre als bei
Gesetzesvorlagen.

  4.3  Zusammenfassend ergibt sich, dass der Antrag Reifler keinen "andern
Gegenstand" im Sinne von Art. 65 Abs. 1 KV/GL betraf, in einem sachlichen
Zusammenhang mit der Vorlage des Landrates gemäss Art. 65 Abs. 3 KV/GL stand
und damit als rechtmässiger Abänderungsantrag der Landsgemeinde zur
Abstimmung vorgelegt werden durfte. Somit erweist sich die Beschwerde in
diesem Punkte als unbegründet.