Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 I 1



Urteilskopf

132 I 1

  1. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. gegen B. sowie
Kassationsgericht des Kantons Zürich (Staatsrechtliche Beschwerde)
  4P.130/2005 vom 30. August 2005

Regeste

  Art. 9 BV, § 29 Abs. 2 ZPO/ZH; Prozess- und Postulationsfähigkeit.

  Die Postulationsfähigkeit ist Teil der Prozessfähigkeit. Die
Postulationsfähigkeit fehlt, wenn eine Partei offensichtlich unfähig ist,
ihre Sache selbst gehörig zu führen. Wenn eine Partei im Anschluss an die
Klagebegründung und Klageantwort ausser Stande ist, vor Gericht die Replik
bzw. Duplik zu erstatten, ist die betreffende Partei auch unfähig,
gerichtliche Vergleichsverhandlungen sinnvoll zu führen (E. 3).

Sachverhalt

  A.- A. (Beschwerdeführer) war für B. (Beschwerdegegner) als Kellner im
Restaurant X. in Uster tätig. Am 27. April 2004 erhob der Beschwerdeführer
Klage beim Bezirksgericht Uster mit dem Antrag, der Beschwerdegegner sei zu
verpflichten, ihm insgesamt Fr. 18'091.85 nebst 5 % Zins seit 1. Oktober
2003 zu bezahlen. Am 15. Juni 2004 wurde vor Bezirksgericht Uster die
Hauptverhandlung durchgeführt. Nach der Klagebegründung und der Klageantwort
wurde der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer aufgefordert, die
Replik vorzutragen. Dazu war er offensichtlich unfähig, weshalb ihn der
erstinstanzliche Richter gemäss § 29 Abs. 2 ZPO/ ZH aufforderte, sich um
einen Anwalt zu bemühen. Trotz der vom Einzelrichter festgestellten
Unfähigkeit des Beschwerdeführers, die Sache selbst gehörig zu führen, wurde
die Hauptverhandlung nicht ausgesetzt, sondern eine Vergleichsverhandlung
durchgeführt. Im Verlauf der Vergleichsgespräche schlossen die Parteien
folgenden Vergleich:

   "1. Der Kläger zieht seine Klage zurück.

    2. Die Parteien verzichten gegenseitig auf eine Prozessentschädigung.

    3. Mit Vollzug dieser Vereinbarung erklären sich die Parteien als
       hinsichtlich sämtlicher gegenseitiger Ansprüche auseinandergesetzt."

  Mit Verfügung vom 15. Juni 2004 wurde dieser Vergleich vorgemerkt und das
Verfahren als dadurch erledigt abgeschrieben.

  B.- Am Tag nach der Hauptverhandlung suchte der Beschwerdeführer einen
Anwalt auf, der im Anschluss an die Besprechung mit

dem Beschwerdeführer den Vergleich mit Schreiben vom 16. Juni 2004 an den
Präsidenten des Bezirksgerichts Uster wegen Willensmängeln widerrief. Diese
Eingabe wurde vom Bezirksgericht als Rekurs entgegengenommen und zusammen
mit einer umfangreichen Vernehmlassung des zuständigen Richters ans
Obergericht des Kantons Zürich übermittelt. Mit Beschluss vom 8. September
2004 wies das Obergericht den Rekurs ab.

  C.- Gegen diesen Beschluss erhob der Beschwerdeführer kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde ans Kassationsgericht des Kantons Zürich. Mit
Sitzungsbeschluss vom 11. April 2005 wurde die Beschwerde abgewiesen, soweit
darauf einzutreten war.

  D.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 17. Mai 2005 beantragt der
Beschwerdeführer dem Bundesgericht, der Sitzungsbeschluss des
Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 11. April 2005 sei aufzuheben.
Weiter ersucht er für das Verfahren vor Bundesgericht um unentgeltliche
Rechtspflege.

  Der Beschwerdegegner beantragt die Abweisung der staatsrechtlichen
Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

  Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hat auf eine Stellungnahme
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.  Der erstinstanzliche Richter war nach der Klagebegründung und
Klageantwort davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage
sei, die Replik zu erstatten, weil ihm die Postulationsfähigkeit fehle.
Dennoch führte der Richter sogleich im Anschluss an die Klagebegründung und
Klageantwort mit dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine
Vergleichsverhandlung durch, die im Ergebnis mit einem Rückzug der Klage
endete. Nach Auffassung des erstinstanzlichen Richters und des mit Rekurs
angerufenen Obergerichts kann eine Partei, deren Prozessfähigkeit (§ 27
ZPO/ZH) zu bejahen ist, an Vergleichsgesprächen teilnehmen und einen
Vergleich abschliessen, auch wenn es ihr an der Postulationsfähigkeit fehlt
(§ 29 Abs. 2 ZPO/ZH).

  Auch das Kassationsgericht geht im angefochtenen Urteil von dieser Meinung
aus. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die
Rechtswirksamkeit eines Vergleichs, die auch vom Beschwerdeführer nicht in
Frage gestellte Prozessfähigkeit beschlage und nicht die vom
erstinstanzlichen Richter verneinte Postulationsfähigkeit.

Wer wie der Beschwerdeführer prozessfähig sei, könne frei und selbständig
entscheiden, ob er einem konkreten Vergleich zustimmen wolle. Auch sei es
ihm unbenommen, sich auf Vergleichsgespräche ganz allgemein nicht
einzulassen oder zu erklären, dass er erst zu Gesprächen bereit sei, wenn er
einen Anwalt konsultiert habe. Weiter führte das Kassationsgericht aus,
entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers habe das Obergericht seine
Begründungspflicht im Zusammenhang mit der Rüge, er sei gar nicht in der
Lage gewesen, den langen Vergleichsgesprächen und den dabei gemachten
Ausführungen zu folgen, nicht verletzt. Vielmehr habe es unter Hinweis auf
die Eingabe des Vertreters des Beschwerdeführers vom 16. Juni 2004
festgehalten, dass der Beschwerdeführer offensichtlich in der Lage gewesen
sei, seinen Anwalt detailliert zu instruieren.

Erwägung 2

  2.  Der Beschwerdeführer wirft dem Kassationsgericht eine falsche
Anwendung von § 29 Abs. 2 ZPO/ZH vor. Zur Begründung wird im Wesentlichen
ausgeführt, die gehörige Führung von Vergleichsgesprächen setze die
Fähigkeit voraus, den eigenen und den gegnerischen Standpunkt in materiell-
und prozessrechtlicher Hinsicht umfassend beurteilen zu können. Da der
erstinstanzliche Einzelrichter den Beschwerdeführer nicht dazu gebracht
habe, eine verständliche mündliche Replik zu erstatten, obwohl er seine
richterliche Fragepflicht wahrgenommen habe, sei nicht vorstellbar, wie der
Beschwerdeführer seinen Standpunkt anlässlich der Vergleichsverhandlung
gehörig habe vertreten können. Nachdem der erstinstanzliche Einzelrichter
bereits die Replik des Beschwerdeführers nicht verstanden habe, sei auch
nicht zu sehen, wie er dessen Standpunkt im Rahmen der Vergleichsverhandlung
habe würdigen können. Indem das Verfahren aufgrund einer
Vergleichsverhandlung, an welcher der Beschwerdeführer ohne den
erforderlichen Rechtsbeistand teilgenommen habe, ohne materielle
Anspruchsprüfung durch Vergleich erledigt worden sei, sei der Gehörsanspruch
des Beschwerdeführers verletzt worden (Art. 29 Abs. 2 BV). Dem
Beschwerdeführer, der anlässlich der Vergleichsverhandlung dem
Beschwerdegegner, dessen Treuhänder und dessen Anwalt gegenüber gesessen
habe, sei auch kein faires Verfahren zuteil geworden (Art. 29 Abs. 1 BV).
Indem dem Beschwerdeführer einerseits die Postulationsfähigkeit für die
Erstattung der mündlichen Replik abgesprochen, andrerseits aber zugemutet
worden sei, ohne den erforderlichen Rechtsbeistand das ungleich höhere
Anforderungen stellende

Vergleichsgespräch zu führen, sei auch das Willkürverbot verletzt worden
(Art. 9 BV).

Erwägung 3

  3.

  3.1  Unter dem Randtitel "Prozessfähigkeit" bestimmt § 27 ZPO/ ZH, dass
eine Partei selbständig Prozesse führen kann, soweit sie handlungsfähig ist.
Die Prozessfähigkeit ist die prozessuale Seite der zivilrechtlichen
Handlungsfähigkeit. Demnach ist prozessfähig, wer mündig und urteilsfähig
ist (Art. 13 ZGB). Die Prozessfähigkeit schliesst nicht unbedingt die
Befugnis in sich, den Prozess in eigener Person, d.h. ohne einen
Prozessvertreter, zu führen. Vielmehr beinhaltet die Prozessfähigkeit
lediglich die Befugnis, materiell die zu treffenden prozessualen
Entscheidungen zu fällen, das heisst eine Klageeinleitung zu beschliessen,
über die in Streit stehenden materiellrechtlichen Ansprüche durch
Klagerückzug, Klageanerkennung oder Vergleich zu verfügen, Rechtsmittel zu
ergreifen oder auf solche zu verzichten (EUGEN BUCHER, Berner Kommentar,
Bern 1976, N. 24 und 26 zu Art. 12 ZGB).

  3.2  Die Postulationsfähigkeit ist Teil der Prozessfähigkeit. Als Teil der
Prozessfähigkeit setzt sie die Fähigkeit voraus, vor Gericht die im
Prozessrecht vorgezeichneten Rechte wahrzunehmen, prozessuale Anträge zu
stellen, schriftliche oder mündliche Parteivorträge zu halten etc. (EUGEN
BUCHER, a.a.O., N. 26 zu Art. 12 ZGB). Wenn eine "Partei offensichtlich
unfähig ist ihre Sache selbst gehörig zu führen", kann sie vom Gericht
gemäss § 29 Abs. 2 ZPO/ZH angehalten werden, einen Vertreter zu bestellen
(Satz 1). Leistet sie der Auflage keine Folge, entscheidet das Gericht
aufgrund des Vorbringens der Partei (Satz 2). Aus zureichenden Gründen kann
es statt dessen selbst den Vertreter bezeichnen (Satz 3).

  3.3  Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass die Postulationsfähigkeit
des Beschwerdeführers für die mündliche Erstattung der Replik anlässlich der
Hauptverhandlung vom 15. Juni 2004 nicht gegeben war. Unstreitig ist auch,
dass der Beschwerdeführer vom zuständigen Richter wegen offensichtlicher
Unfähigkeit, seine Sache selbst gehörig zu führen, in Anwendung von § 29
Abs. 2 ZPO/ ZH aufgefordert wurde, einen Vertreter zu bestellen. Dieser
Aufforderung konnte er allerdings nicht nachkommen, weil gleich
anschliessend - das heisst vor der gehörigen Erstattung der Replik -
Vergleichsverhandlungen aufgenommen wurden, die schliesslich mit dem
Abschluss eines Vergleichs endeten. Das Kassationsgericht

geht im Ergebnis davon aus, dass auch eine nicht postulationsfähige Partei
an Vergleichsverhandlungen mitwirken und einen Vergleich abschliessen kann,
solange ihre Prozessfähigkeit zu bejahen sei. Dieser Auffassung kann nicht
beigepflichtet werden. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass der
Beschwerdeführer in Bezug auf die Erstattung der Replik nicht
postulationsfähig war. Er war offensichtlich unfähig, seine Sache selbst
gehörig zu führen. Dabei ist die Fähigkeit, die eigene Sache gehörig zu
führen, nicht nur isoliert bezogen auf die Erstattung der Replik zu
beurteilen, sondern danach zu bemessen, ob die betreffende Partei fähig ist,
ihre Sache als Ganzes gehörig zu führen (ZR 96/1997 S. 250 ff.). Wenn eine
Partei "offensichtlich unfähig" ist, im Rahmen der Hauptverhandlung die
Replik gehörig zu erstatten, dann ist anzunehmen, dass die gleiche Partei
ebenso unfähig ist, die Vergleichsverhandlungen sinnvoll zu führen. Die
Vergleichsgespräche stellen an Richter und Parteien hohe Anforderungen. Die
Beteiligten müssen den Prozessstoff überblicken und in voller Kenntnis
desselben zu den Streitpunkten Stellung nehmen können. Wenn eine
Vergleichsverhandlung wie im vorliegenden Fall vor dem Abschluss des
Behauptungsverfahrens durchgeführt wird, werden die Parteien zudem ihre
Positionen, die sie in der Replik und Duplik vorgetragen hätten, in der
Regel in modifizierter Form in die Vergleichsverhandlung einbringen. Die
Mitwirkung der Parteien erschöpft sich somit nicht einzig in der Annahme
oder Ablehnung eines Vergleichsvorschlages, für welchen Entscheid das
Vorliegen der Prozessfähigkeit genügen könnte. Wenn der Richter den
Beschwerdeführer für "offensichtlich unfähig" hält, nicht einmal mit
  Hilfe der richterlichen Befragung (§ 55 ZPO/ZH) die Replik zu erstatten,
kann keine Rede davon sein, dass die gleiche Partei ihre Position in den
mindestens so anforderungsreichen Vergleichsverhandlungen ohne rechtskundige
Vertretung wirksam zu vertreten vermag. Zumindest hätte unter diesen
Umständen Anlass bestanden, den Vergleich mit einem Ratifikations- oder
Widerrufsvorbehalt abzuschliessen, um der nicht postulationsfähigen
Prozesspartei wenigstens die Möglichkeit einer nachträglichen Rechtsberatung
einzuräumen. Demgegenüber ist widersprüchlich und damit willkürlich,
einerseits die Postulationsfähigkeit für die Erstattung der Replik zu
verneinen, für die Mitwirkung an Vergleichsgesprächen aber vorbehaltlos zu
bejahen. Aus diesen Gründen ist die staatsrechtliche Beschwerde
gutzuheissen. Damit erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des
Beschwerdeführers einzugehen.