Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 IV 29



Urteilskopf

132 IV 29

  5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Nichtigkeitsbeschwerde)
  6S.353/2005 vom 8. Dezember 2005

Regeste

  Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG, Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 und Art. 333 Abs. 1
StGB, Art. 13 Abs. 1 StGB; Straftatbestand der rechtswidrigen Einreise,
Anwendbarkeit des Notstandes, psychiatrische Begutachtung.

  Tatbestand der rechtswidrigen Einreise; Begriff (E. 2).

  Ob die Einreise gerechtfertigt ist und der Flüchtling straflos bleibt,
beurteilt sich nach dem Ausländerstrafrecht. Für Notstand bleibt kein Raum,
wenn zur Rechtfertigung der illegalen Einreise einzig Art und Schwere der
Verfolgung vorgebracht werden (E. 3).

  Der Umstand allein, dass jemand wegen einer angeblichen posttraumatischen
Belastungsstörung ärztlich behandelt wird, vermag keine ernsthaften Zweifel
an der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit zu erwecken (E. 5.3).

Sachverhalt

  Am 31. Dezember 2002 reiste die russische Staatsangehörige X. mit Hilfe
von Schleppern auf unbekanntem Weg in die Schweiz. Sie hatte weder
Ausweispapiere noch ein Visum auf sich. Am gleichen Tag wandte sie sich an
die Empfangsstelle in Kreuzlingen und ersuchte um Asyl. Das Bundesamt für
Flüchtlinge lehnte mit Entscheid vom 3. Februar 2003 das Asylgesuch ab,
verfügte ihre Wegweisung und setzte eine Ausreisefrist bis 31. März 2003 an.
Auf eine dagegen erhobene Beschwerde trat die Schweizerische
Asylrekurskommission mit Urteil vom 14. April 2003 nicht ein. Mit Schreiben
des Bundesamtes vom 25. April 2003 wurde X. eine neue Ausreisefrist bis 23.
Mai 2003 angesetzt. Auf ein Revisionsgesuch trat die Asylrekurskommission
mit Urteil vom 10. Juni 2003 nicht ein. X. verblieb weiterhin in der
Schweiz. Am 8. Januar 2004 erstattete das Amt für Migration des Kantons
Luzern Strafanzeige wegen illegaler Einreise und rechtswidrigen Aufenthaltes
in der Schweiz.

  Mit zweitinstanzlichem Urteil vom 5. Juli 2005 sprach das Obergericht des
Kantons Luzern X. unter anderem der rechtswidrigen Einreise und des
rechtswidrigen Verweilens gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 4 des Bundesgesetzes vom
26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung

der Ausländer (ANAG; SR 142.20) schuldig und bestrafte sie mit einer bedingt
vollziehbaren Gefängnisstrafe von acht Wochen und einer Busse von Fr. 50.-.

  X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichts aufzuheben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Zunächst ist zu prüfen, ob die Einreise der Beschwerdeführerin im
Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG rechtswidrig war.

  2.1  Dem Gesetz lässt sich nicht direkt eine Antwort auf die Frage
entnehmen, wann die Einreise eines Ausländers in die Schweiz "rechtswidrig"
ist. Aufschluss gibt hingegen das gestützt auf Art. 25 ANAG erlassene
Verordnungsrecht. Nach Art. 1 Abs. 2 der Vollziehungsverordnung vom 1. März
1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAV;
SR 142.201), ist die Einreise rechtmässig, wenn die Vorschriften über den
Besitz von Ausweisschriften, das Visum, die Grenzkontrolle usw. beachtet
worden sind und der Einreise kein persönliches Verbot entgegensteht. Der
Umkehrschluss ergibt, dass die Einreise im Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 4
ANAG rechtswidrig ist, wenn die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt
sind. Die Einreisevoraussetzungen werden sodann in der Verordnung vom 14.
Januar 1998 über die Einreise und Anmeldung von Ausländerinnen und
Ausländern (VEA; SR 142.211) festgehalten. Für die Einreise in die Schweiz
sind grundsätzlich ein Pass bzw. entsprechende Ausweispapiere und ein Visum
erforderlich (Art. 1 Abs. 1 VEA; vgl. Art. 2-5 VEA), ebenso sind die
weiteren Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 2 VEA zu beachten. Die Einreise
selbst hat über bestimmte, kontrollierte Grenzübergangsstellen (so genannter
grosser Grenzverkehr) sowie Lande- und Flugplätze zu erfolgen (Art. 21 Abs.
1 VEA); vorbehalten bleiben die Bestimmungen über den so genannten kleinen
Grenzverkehr gemäss den entsprechenden Abkommen mit den Nachbarstaaten der
Schweiz, den Grenzübertritt im Hochgebirge und abweichende sonstige
staatsvertragliche Abkommen (Art. 21 Abs. 2 und Art. 22 VEA).

  2.2  Die Beschwerdeführerin ist ohne Pass und Visum auf unbekanntem Weg in
die Schweiz eingereist. Sie hätte für die Einreise grundsätzlich einen
gültigen und anerkannten Pass sowie ein Visum benötigt. Sie macht auch nicht
geltend, sie habe die Schweizer

Grenze bei einer kontrollierten Grenzübergangsstelle überschritten bzw. die
Vorschriften der Grenzkontrolle beachtet. Die Beschwerdeführerin stellt sich
hingegen auf den Standpunkt, sie sei als Asylsuchende zur Einreise in die
Schweiz berechtigt gewesen, da sie in Übereinstimmung mit den
asylrechtlichen Bestimmungen sich unverzüglich nach dem Betreten des Landes
bei der Empfangsstelle in Kreuzlingen gemeldet und ein Asylgesuch
eingereicht habe. Die Annahme einer Strafbarkeit in einem solchen Fall
verletze Bundesrecht, da Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG verfassungskonform und im
Sinne des Flüchtlingsabkommens ausgelegt werden müsse. Es stellt sich daher
die Frage, ob die Beschwerdeführerin aus asylrechtlichen Gründen zur
Einreise berechtigt war und deshalb die Vorschriften über die Ein- und
Ausreise sowie die Grenzkontrolle nicht einhalten musste.

  2.3
  2.3.1  Asylsuchende haben generell wie alle anderen Ausländer die für sie
geltenden Einreisevorschriften zu beachten. Für die Einreise von
Asylsuchenden gelten jedoch in erster Linie die besonderen Bestimmungen des
Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31). Das Asylgesetz sieht für
die Einreise von Asylsuchenden grundsätzlich eine Bewilligungspflicht vor,
wobei unterschieden wird, ob die Bewilligung aufgrund eines im Ausland
gestellten Asylgesuchs zu erteilen ist (Art. 20 AsylG) oder für Personen zu
erfolgen hat, die an der Landesgrenze oder an einem schweizerischen
Flughafen um Asyl ersuchen (Art. 21-24 AsylG). Auf Erteilung der Bewilligung
kann unter Umständen ein Anspruch bestehen, so namentlich wenn die an der
Grenze um Asyl ersuchende Person das zur Einreise erforderliche
Ausweispapier oder Visum besitzt oder in einem Nachbarstaat verfolgt wird
oder ihr im Herkunftsstaat eine völkerrechtlich verbotene Rückschaffung
droht (Art. 21 Abs. 1 und Abs. 2 lit. a AsylG; Art. 11 Abs. 1 der
Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 über Verfahrensfragen [AsylV 1; SR
142.311]). Ferner kann die Einreise bewilligt werden, wenn die asylsuchende
Person nicht direkt aus ihrem Heimat- oder Herkunftsstaat an die Schweizer
Grenze gelangt, aber glaubhaft machen kann, dass sie diesen Staat als
Flüchtling verlassen hat und ohne Verzug an die Schweizer Grenze gelangt ist
(Art. 21 Abs. 3 AsylG in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 lit. b AsylV 1).

  2.3.2  Demnach kann eine asylsuchende Person - selbst wenn sie nicht über
die erforderlichen Papiere verfügt - berechtigt sein, in

die Schweiz einzureisen. Allerdings ist stets erforderlich, dass ihr eine
Bewilligung zur Einreise erteilt wird. Entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin ist es deshalb nicht erlaubt, über die so genannte grüne
Grenze einzureisen, um in der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen. Damit würde
die gesetzlich vorgeschriebene Überprüfung der Gründe, die zur Erteilung der
asylrechtlichen Einreisebewilligung führen, ausgehebelt.

  Zu keinem anderen Ergebnis führt der von der Beschwerdeführerin angerufene
Art. 19 Abs. 1 AsylG. Danach ist das Asylgesuch bei einer schweizerischen
Vertretung, bei der Einreise an einem geöffneten Grenzübergang oder an einer
Empfangsstelle zu stellen. Die genannte Bestimmung beschlägt indessen nicht
die Frage, ob die asylsuchende Person zur Einreise berechtigt war. Wie die
Marginalie deutlich macht ("Einreichung"), regelt sie lediglich die Orte der
Gesuchseinreichung. Das Gesuch um Asylgewährung ist im Ausland an eine
schweizerische Vertretung und bei der Einreise an die für die Grenzkontrolle
zuständige Behörde zu richten. Die Empfangsstelle als Ort der
Gesuchseinreichung gilt für Personen, die sich bereits in der Schweiz
aufhalten. Aus Art. 19 Abs. 2 AsylG ergibt sich, dass damit diejenigen
Personen gemeint sind, die über keine noch gültige Aufenthalts- oder
Niederlassungsbewilligung verfügen, da das Gesuch ansonsten an die Behörden
des betreffenden Kantons zu stellen ist (vgl. auch Art. 9 AsylV 1). Folglich
hat sein Asylgesuch bei einer Empfangsstelle im Sinne von Art. 19 Abs. 1
AsylG einzureichen, wer sich ohne Anwesenheitsrecht in der Schweiz aufhält.
Mehr lässt sich aus Art. 19 Abs. 1 AsylG nicht herleiten.

  2.4  Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Beschwerdeführerin
auf keine asylrechtliche Bestimmung berufen kann, die sie zum Grenzübertritt
berechtigt hätte. Der Umstand, dass sie nach ihrer Einreise auf der
Empfangsstelle in Kreuzlingen unverzüglich ein Asylgesuch gestellt hat,
ändert nach dem Gesagten nichts daran, dass die Einreise im Sinne von Art.
23 Abs. 1 al. 4 ANAG rechtswidrig erfolgte. Inwiefern dieses Ergebnis einer
verfassungskonformen Auslegung oder dem Sinn des Flüchtlingsabkommens
zuwiderlaufen sollte, legt die Beschwerdeführerin nicht dar und ist auch
nicht ersichtlich. Damit steht fest, dass die Beschwerdeführerin den
Tatbestand der rechtswidrigen Einreise im Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 4
ANAG erfüllt hat.

Erwägung 3

  3.  Die Beschwerdeführerin beruft sich für die Einreise in die Schweiz auf
einen rechtfertigenden Notstand im Sinne von Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB.
Die Vorinstanz habe lediglich festgehalten, die Asylbehörden hätten die
Flüchtlingseigenschaft nicht anerkannt. Die begrifflichen Voraussetzungen
des Notstandes seien jedoch weiter gefasst als diejenigen des Flüchtlings,
weshalb sie im Strafverfahren selbständig zu prüfen seien.

  3.1  Nach Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ist die Tat, die jemand begeht, um
sein Gut, namentlich Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Vermögen, aus einer
unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu erretten, straflos, wenn
die Gefahr vom Täter nicht verschuldet ist und ihm den Umständen nach nicht
zugemutet werden konnte, das gefährdete Gut preiszugeben.

  3.2  Die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches finden
grundsätzlich auch Anwendung, wenn Zuwiderhandlungen gegen Art. 23 und 23a
ANAG zu beurteilen sind (Art. 24 Abs. 1 Satz 2 ANAG). Nach Art. 333 Abs. 1
StGB finden die allgemeinen Bestimmungen auf Taten, die in anderen
Bundesgesetzen mit Strafe bedroht sind, insoweit Anwendung, als diese
Bundesgesetze nicht selbst Bestimmungen aufstellen. Der in Art. 24 Abs. 1
Satz 2 ANAG enthaltene Verweis auf den Allgemeinen Teil des
Strafgesetzbuches gilt somit nur, sofern eine bestimmte Frage nicht bereits
durch eine Norm des Ausländerstrafrechts geregelt wird. Liegt eine solche
vor, ist das Strafgesetzbuch nicht anwendbar.

  3.3  Nach Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG sind in die Schweiz Geflüchtete
straflos, wenn Art und Schwere der Verfolgung den rechtswidrigen
Grenzübertritt rechtfertigen (Halbsatz 1); Hilfe hierzu ist ebenfalls
straflos, soweit sie aus achtenswerten Beweggründen geleistet wird (Halbsatz
2). Diese Vorschrift regelt mithin, unter welchen Voraussetzungen die
rechtswidrige Einreise eines Flüchtlings gerechtfertigt ist und wann dessen
Gehilfe straflos bleibt. Die Regelung ist nach der gesetzlichen Konzeption
als abschliessend gedacht, was sich etwa daran zeigt, dass die ethisch
motivierte Gehilfenschaft mitgeregelt wird. Im Vergleich zum Notstand und
zur Notstandshilfe werden damit abweichende Voraussetzungen genannt (vgl.
Art. 34 Ziff. 1 und 2 StGB). Insofern enthält Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG
eine eigene, besondere Bestimmung.

  Zusätzlich zu Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG ist, was das Verhalten des
Flüchtlings anbelangt, Art. 31 Ziff. 1 des Abkommens vom

28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingsabkommen;
SR 0.142.30) zu berücksichtigen. Beiden Bestimmungen dürfte letztlich der
gleiche Gehalt zukommen. Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG ist daher im Lichte des
Flüchtlingsabkommens auszulegen (Urteil 6S.737/1998 vom 17. März 1999, publ.
in: Asyl 2/1999 S. 21). Die Einreise einer Person ist danach gerechtfertigt,
wenn sie die Eigenschaft als Flüchtling erfüllt, für ihre Einreise triftige
Gründe darlegen kann, unmittelbar aus dem Verfolgerstaat in die Schweiz
gelangt und sich unverzüglich den Behörden stellt. Das Erfordernis der
unmittelbaren Einreise ist dabei nicht geographisch zu verstehen. Es genügt,
wenn der Flüchtling zielstrebig, ohne wesentliche Verzögerung in die Schweiz
gelangt, und zwar unabhängig davon, ob er Drittstaaten durchquert hat, in
denen er nicht im Sinne des Flüchtlingsabkommens bedroht wird (Urteil
6S.737/1998 vom 17. März 1999, a.a.O.).

  Dass die Voraussetzungen von Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG oder Art. 31 Ziff.
1 des Flüchtlingsabkommens erfüllt seien, behauptet die Beschwerdeführerin
zu Recht nicht. Sie anerkennt vielmehr, dass ihr der Status eines
Flüchtlings im Sinne des Asylrechts nicht zukommt. Zu prüfen bleibt, ob
unter diesen Voraussetzungen Raum für die Anwendbarkeit des allgemeinen
Notstandes im Sinne von Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB besteht.

  3.4
  3.4.1  Die begriffliche Umschreibung der Flüchtlingseigenschaft ist nicht
identisch mit jener des Notstandes. Vorliegend verweist die
Beschwerdeführerin jedoch ausschliesslich auf ihre Fluchtgründe. Die von ihr
behauptete Gefahr für Leib und Leben begründet sie einzig damit, sie werde
in ihrem Herkunftsstaat bzw. in der Republik Dagestan verfolgt. Gerade für
diese Konstellation kommen jedoch die eigenen Bestimmungen des
Ausländerstrafrechts zur Anwendung. Nur unter ganz bestimmten in Art. 23
Abs. 3 Satz 2 ANAG und Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens genannten
Voraussetzungen ist die rechtswidrige Einreise eines Flüchtlings
gerechtfertigt. Allein wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, bleibt der
Flüchtling straflos. Dass dies vorliegend nicht zutrifft, räumt auch die
Beschwerdeführerin ein. Für die Anwendbarkeit von Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1
StGB bleibt unter diesen Umständen kein Raum. Macht der Flüchtling zur
Rechtfertigung der illegalen Einreise somit einzig die Art und Schwere der
Verfolgung geltend, kann er sich nicht zusätzlich auf Notstand berufen. Das
muss erst Recht gelten, wenn

einer asylsuchenden Person wie der Beschwerdeführerin die
Flüchtlingseigenschaft in einem rechtskräftigen Asylverfahren aberkannt und
ihre Wegweisung verfügt wurde. Nachdem die Asylbehörden in einem solchen
Fall festgestellt haben, dass die Person im Sinne von Art. 3 AsylG nicht
verfolgt wird und der Vollzug der Wegweisung möglich, zulässig und zumutbar
ist (Art. 14a Abs. 1 ANAG), ist nicht ersichtlich, worin die unmittelbare,
nicht anders abwendbare Gefahr für ein Rechtsgut im Sinne von Art. 34 Ziff.
1 Abs. 1 StGB bestehen könnte. Die Beschwerdeführerin legt denn auch nicht
näher dar, worin konkret in ihrem Fall eine notstandsbegründende Gefahr
liegt.

  3.4.2  Unter welchen Voraussetzungen die illegale Einreise eines
Flüchtlings gerechtfertigt ist, wird somit abschliessend durch die
speziellen Normen des Ausländerstrafrechts geregelt. In dieser Regelung wird
eine verbindliche Abwägung getroffen zwischen den persönlichen Interessen
des Flüchtlings und demjenigen des Staates an einer wirksamen
Grenzkontrolle. Dem Richter wird damit die Wertentscheidung für eine
typisierte Notlage vorgegeben, an die er sich zu halten hat. Er darf nicht
durch Rückgriff auf den allgemeinen Notstand die gesetzliche bzw.
staatsvertragliche Entscheidung unterlaufen. Allerdings ist angesichts der
strengen Anforderungen des Notstandsrechts kaum denkbar, dass eine
rechtswidrige Einreise (bei Flucht aus entfernten Ländern) durch Notstand
gedeckt sein könnte. Deshalb normieren Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG und Art.
31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens auch besondere Voraussetzungen, welche
die illegale Einreise von Flüchtlingen rechtfertigen. So ist im Gegensatz zu
Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB weder erforderlich, dass sich der Flüchtling in
einer unmittelbaren Gefahr befindet, noch wird verlangt, dass der
Grenzübertritt die einzige Möglichkeit darstellt, die Bedrohung im
Verfolgerstaat abzuwenden. Daraus erhellt, dass die Bestimmungen des
Ausländerstrafrechts auch in der Sache der speziellen Notlage von
Flüchtlingen weit besser Rechnung tragen, als dies der Notstand gemäss Art.
34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB vermag.

  3.4.3  Der Klarstellung halber ist anzufügen, dass Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1
StGB bei der Beurteilung von Zuwiderhandlungen gegen Art. 23 ANAG anwendbar
bleibt, soweit eine unmittelbare, nicht anders abwendbare Gefahr für ein
persönliches Gut besteht, die nicht in der Art und Schwere der Verfolgung
gemäss Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG und Art. 31 Ziff. 1 des
Flüchtlingsabkommens liegt.

Gleiches gilt für die übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe wie
beispielsweise der Wahrung berechtigter Interessen (vgl. BGE 127 IV 166; 117
IV 170; Urteil 6S.255/2002 vom 29.07.2002; VALENTIN ROSCHACHER, Die
Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer vom 26. März 1931, Diss. Zürich 1991, S. 39).

  3.5  Aus dem Dargelegten ergibt sich, dass der Rechtfertigungsgrund des
Notstandes im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Die Vorinstanz war
entsprechend nicht verpflichtet, die Voraussetzungen gemäss Art. 34 Ziff. 1
Abs. 1 StGB zu prüfen. Die Frage, ob der Strafrichter bei der Prüfung der
Notstandsvoraussetzungen an die Entscheide der Asylbehörden gebunden ist,
stellt sich folglich nicht. Im Ergebnis hat die Vorinstanz das Vorliegen
eines Notstandes daher zu Recht nicht geprüft bzw. verworfen.
  (...)

Erwägung 5

  5.  Zuletzt macht die Beschwerdeführerin geltend, die Vorinstanz habe
entgegen Art. 13 StGB kein Gutachten zur Frage ihrer Zurechnungsfähigkeit
eingeholt. Zur Begründung bringt sie vor, sie habe ihren Vater bei einem
Bombenanschlag verloren, sexuelle Gewalt erfahren und miterleben müssen, wie
ihr Sohn von tschetschenischen Rebellen entführt worden sei, und leide
aufgrund des in ihrer Heimat Erlebten an Angstzuständen. Sie stehe in
psychiatrischer Behandlung, und es bestünden erhebliche Anzeichen für eine
posttraumatische Belastungsstörung.

  5.1  Nach Art. 13 Abs. 1 StGB ist eine Untersuchung des Beschuldigten
anzuordnen, wenn Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit bestehen. Der
Richter soll seine Zweifel nicht selber beseitigen, etwa indem er
psychiatrische Fachliteratur beizieht. Vielmehr ergibt sich aus Art. 13 Abs.
2 StGB, dass er bei Zweifeln einen Sachverständigen beiziehen muss. Art. 13
StGB gilt nicht nur, wenn der Richter tatsächlich Zweifel an der
Zurechnungsfähigkeit hat, sondern auch, wenn er nach den Umständen des
Falles Zweifel haben sollte (BGE 119 IV 120 E. 2a; 116 IV 273 E. 4a; 106 IV
241 E. 1a mit Hinweisen). Dabei genügt es, wenn ernsthafter Anlass zu
Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit auf Grund eines solchen Umstandes
bestand (BGE 98 IV 156 E. 1). Es fragt sich, welche Umstände gegeben sein
müssen, um anzunehmen, der Richter müsse im dargelegten Sinn ernsthafte
Zweifel haben. Das Bundesgericht hat dies beispielsweise angenommen bei
Drogenabhängigkeit (BGE 102 IV

74 und 106 IV 241 E. 2), bei einer Frau, die mit einer schizophrenen Tochter
zusammenlebte (BGE 98 IV 156), bei einem Sexualdelinquenten mit
möglicherweise abnorm starkem Geschlechtstrieb (BGE 71 IV 190) sowie bei
einem Ersttäter, bei dem der Beginn der Straffälligkeit mit dem Ausbruch
einer schweren allergischen oder psychosomatischen Hautkrankheit
zusammenfiel (BGE 118 IV 6). Die Notwendigkeit, einen Sachverständigen
zuzuziehen, ist erst gegeben, wenn Anzeichen vorliegen, die geeignet sind,
Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken, wie etwa ein
Widerspruch zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder völlig unübliches
Verhalten (BGE 116 IV 273 E. 4a mit weiteren Beispielen).

  5.2  Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte posttraumatische
Belastungsstörung (PTSD) ist eine Beeinträchtigung der psychischen
Gesundheit. Gemäss der internationalen Klassifikation der WHO handelt es
sich dabei um eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes
Ereignis oder eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung oder
katastrophenartigen Ausmasses, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung
hervorrufen würde (Internationale Klassifikation psychischer Störungen,
hrsg. von Horst Dilling, 5. Aufl., Bern 2005, S. 169). PTSD äussert sich in
den Symptomen des Wiedererlebens durch Alb- und Tagträume und kann zu
emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit führen.
Gleichzeitig ist häufig eine erhöhte Erregung festzustellen, die sich in
Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz oder
gesteigerter Schreckhaftigkeit manifestiert (ULRICH SCHNYDER,
Posttraumatische Belastungsstörungen, in: Psychische Störungen und
Sozialversicherung, hrsg. von Erwin Murer, Bern 2002, S. 101 und 114).
Solche Belastungsreaktionen gehen nur relativ selten mit Straftaten einher
(NORBERT NEDOPIL, Forensische Psychiatrie, Stuttgart 2000, S. 142). Dass sie
zur Aufhebung der Einsichtsfähigkeit führen, ist kaum denkbar. In seltenen
Fällen sind sie unter Umständen jedoch derart ausgeprägt, dass die
Steuerungsfähigkeit aufgehoben ist (NEDOPIL, a.a.O., S. 144).

  5.3  Die Vorinstanz hält es für durchaus möglich, dass die
Beschwerdeführerin aufgrund schrecklicher Erlebnisse traumatisiert und
infolge der Wegweisung aus der Schweiz psychisch belastet ist. Da sie jedoch
kein auffälliges Verhalten ausmachen konnte, lehnte sie den Antrag auf
Begutachtung ab.

  Wie die Vorinstanz zunächst zutreffend erkennt, begründen die geltend
gemachten Angstzustände keine ernsthaften Zweifel an der
Zurechnungsfähigkeit

der Beschwerdeführerin. Diese konnte während des ganzen Verfahrens und
zuletzt auch in der persönlichen Befragung vor Obergericht ihr Verhalten
stets klar begründen und machte verständliche Aussagen. Sie wusste, dass sie
aus der Schweiz hätte ausreisen müssen. Schon anlässlich der asylrechtlichen
Abklärungen erklärte sie, sie werde die Schweiz nicht freiwillig verlassen,
und weigerte sich entschieden, mit den russischen Behörden
zusammenzuarbeiten. Aus diesen für das Bundesgericht verbindlichen
Tatsachenfeststellungen geht hervor, dass die Beschwerdeführerin in der Lage
war, das Unrecht ihres Verhaltens einzusehen. Anhaltspunkte für eine
Herabsetzung in der Steuerungsfähigkeit lassen sich dem angefochtenen Urteil
ebenfalls nicht entnehmen. Die Tatsache, dass sie für die Einreise in die
Schweiz mehrere Staaten durchquerte, in denen sie ein Asylgesuch hätte
stellen können, zeigt, dass sie durchaus imstande war, ihr Verhalten zu
bestimmen. Es ist auch in keiner Art und Weise erkennbar, inwiefern es ihr
aufgrund eines inneren Zwanges nicht möglich gewesen sein sollte, die
Schweiz wieder zu verlassen. Vielmehr weisen ihre klaren und selbstbewussten
Aussagen auf eine uneingeschränkt vorhandene Zurechnungsfähigkeit hin. Daran
ändert auch ihr Einwand nichts, sie stehe in psychotherapeutischer
Behandlung, und es bestünden Anzeichen für das Vorliegen einer
posttraumatischen Belastungsstörung. Eine solche Belastungsreaktion führt
wie dargelegt nur ganz ausnahmsweise zur Aufhebung der Bestimmungsfähigkeit,
so dass der Umstand einer ärztlichen Behandlung für sich allein nicht
genügt, um ernsthafte Zweifel an einer strafrechtlich relevanten
Beeinträchtigung der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken. Unter diesen
Umständen ist es bundesrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz
auf den Beizug eines Sachverständigen verzichtet hat.