Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 III 65



Urteilskopf

132 III 65

  9. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. AG gegen B. und C.
(Berufung)
  4C.198/2005 vom 2. November 2005

Regeste

  Rechtsbegehren im Kündigungsschutzverfahren (Art. 273 Abs. 4 und. 274f
OR).

  Wenn die Schlichtungsbehörde eine Kündigung für ungültig, unwirksam oder
nichtig erklärt, ist der Vermieter bzw. Verpächter berechtigt, im
Kündigungsschutzverfahren auf Feststellung der Gültigkeit einer Kündigung
(E. 3.3.) bzw. auf Feststellung des Nichtbestehens eines
Vertragsverhältnisses (E. 3.4) zu klagen.

Sachverhalt

  A.- Mit Pachtvertrag vom 26. November 1998 pachtete E. von der D. AG das
Restaurant "Y.". Mit Kaufvertrag vom 25. Oktober 2002 verkaufte die D. AG
der A. AG (Klägerin) das betreffende Grundstück mit dem Restaurant "Y.". Im
Grundstückkaufvertrag wurde vereinbart, dass die Klägerin das
Pachtverhältnis betreffend das Restaurant "Y." übernehme.

  Per 1. Oktober 2003 übernahmen B. und C. (Beklagte) den Pachtvertrag von
E. Die Übernahmevereinbarung zwischen den Beklagten und E. enthielt die
Zusicherung, im Kaufvertrag der D. AG mit der Klägerin sei vereinbart
worden, dass diese den Pachtvertrag übernehme.

  Am 11. Dezember 2003 wurde die Klägerin als Eigentümerin im Grundbuch
eingetragen. Am 29. Dezember 2003 kündigte die Klägerin den Beklagten den
Pachtvertrag mit amtlichem Formular per 30. Juni 2004. Zur Begründung wurde
dringender Eigenbedarf und wichtige Gründe genannt.

  B.- Am 10. Februar fochten die Beklagten die Kündigung bei der
Schlichtungsbehörde für Mietwesen des Bezirks Zofingen an. Mit Entscheid vom
22. April 2004 wurde die Kündigung vom 29. Dezember 2003 per 30. Juni 2004
als missbräuchlich erklärt und aufgehoben.

  Am 28. Mai 2004 reichte die Klägerin beim Bezirksgericht Zofingen Klage
gemäss Art. 274f OR ein und stellte folgende Rechtsbegehren:

   "1. Der Entscheid der Schlichtungsbehörde im Mietwesen des Bezirks
       Zofingen vom 22.04.2004 (...) sei aufzuheben.

    2. Es sei festzustellen, dass der Pachtübernahmevertrag zwischen den
       Beklagten und Herrn E. vom 30.09./01.10.2003 nichtig ist und damit
       zwischen den Parteien kein rechtsgültiger Pachtvertrag besteht.

       Eventualiter:

    3. Es sei die Wirksamkeit der von der Klägerin gegenüber den Beklagten
       eröffneten Kündigung vom 29.12.2003 per 30. Juni 2004 festzustellen.

    4. Alles unter der gesetzlichen Kosten- und Entschädigungsfolge."

  Mit Urteil vom 15. Dezember 2004 hiess der Präsident des Bezirksgerichts
Zofingen die Klage gut und stellte fest, dass die Übernahmevereinbarung vom
30. September 2003 nichtig sei und zwischen den Parteien kein Mietvertrag
bestehe.

  Gegen dieses Urteil erhoben die Beklagten Beschwerde ans Obergericht des
Kantons Aargau und beantragten im Wesentlichen, die Klage vom 28. Mai 2004
sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei; eventualiter sei richterlich
festzustellen, dass die Klägerin den Beklagten für allen aus der vorzeitigen
Auflösung des Pachtvertrages entstehenden Schaden bis zum ordentlichen,
frühestens möglichen Kündigungstermin vom 31. Dezember 2013 hafte. Mit
Entscheid vom 21. April 2005 hiess das Obergericht die Beschwerde gut, hob
das Urteil des Präsidenten des Bezirksgerichts Zofingen vom 15. Dezember
2004 auf und trat auf die Klage mangels Feststellungsinteresses nicht ein.

  C.- Mit Berufung vom 9. Juni 2005 beantragt die Klägerin dem
Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 21. April
2005 sei aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen; eventualiter sei festzustellen, dass der
Pachtübernahmevertrag zwischen den Beklagten und Herrn E. vom
30.09./01.10.2003 nichtig sei und damit zwischen den Parteien kein
rechtsgültiger Pacht- bzw. Mietvertrag bestehe; subeventualiter sei die
Wirksamkeit der von der Klägerin gegenüber den Beklagten eröffneten
Kündigung vom 29. Dezember 2003 per 30. Juni 2004 festzustellen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.  Die Klägerin hat im Anschluss an das Schlichtungsverfahren im Rahmen
des Kündigungsschutzverfahrens dem Bezirksgericht Zofingen beantragt, es sei
festzustellen, dass der Pachtübernahmevertrag zwischen den Beklagten und E.
nichtig sei und damit zwischen den Parteien kein rechtsgültiger Pachtvertrag
bestehe; eventuell sei festzustellen, dass die von den Klägern am 29.
Dezember 2003 per 30. Juni 2004 ausgesprochene Kündigung wirksam sei.

  3.1  Nachdem das Bezirksgericht festgestellt hatte, dass die
Übernahmevereinbarung vom 30. September 2003 nichtig sei und zwischen den
Parteien kein Vertrag bestehe, ist das Obergericht im kantonalen
Berufungsverfahren auf die Klage nicht eingetreten. Zur Begründung wurde im
Wesentlichen ausgeführt, es fehle am Feststellungsinteresse, dass zwischen
den Parteien kein rechtsgültiger Pachtvertrag bestehe bzw. dass die
Kündigung per 30. Juni 2004 wirksam sei. Die Klägerin könne ihr Ziel, die
Beklagten aus den gepachteten Räumlichkeiten zu entfernen, um das von ihr
geplante Bauvorhaben zu realisieren, nur mit einer Leistungsklage auf
Rückgabe der Sache bzw. Ausweisung aus der Liegenschaft, nicht aber mit der
Feststellungsklage, erreichen. Das Feststellungsurteil stelle denn auch
keinen vollstreckbaren Titel dar, sondern erst der (rechtskräftige)
Ausweisungsentscheid, welcher materiellrechtlich über die Rückgabe der Sache
entscheide, bilde den Vollstreckungstitel. Die Klägerin hätte daher eine
Leistungsklage auf Rückgabe des Pachtobjektes bzw. Ausweisung aus der
Liegenschaft erheben können und müssen, wobei als Vorfrage zu prüfen gewesen
wäre, ob zwischen den Parteien ein Vertragsverhältnis bestehe bzw. ob dieses
durch gültige Kündigung beendet worden sei. Demgegenüber sei ein
schutzwürdiges rechtserhebliches Interesse lediglich an der gerichtlichen
Feststellung nicht ersichtlich. Diese Begründung hält die Klägerin für
bundesrechtswidrig.

  3.2  Im vorliegenden Fall hat die Klägerin mit amtlichem Formular vom 29.
Dezember 2003 den Pachtvertrag per 30. Juni 2004 gekündigt. Die Beklagten
haben darauf rechtzeitig die Schlichtungsbehörde angerufen. Im
Kündigungsschutzverfahren hat die Schlichtungsbehörde - wenn keine Einigung
zwischen den Parteien zustande kommt - einen Entscheid über die Ansprüche
der Vertragsparteien zu fällen (Art. 273 Abs. 1 und 4 OR), gegen welchen
Entscheid die unterlegene Partei den Richter anrufen kann (Art. 273 Abs. 5,
Art. 274f Abs. 1 OR). Dabei definiert das Gesetz nicht, was unter "Ansprüche
der Vertragsparteien" zu verstehen ist. Es ist daher aus dem Gegenstand des
Kündigungsschutzverfahrens, über welches die Schlichtungsbehörde bzw. das
Gericht zu befinden hat, herzuleiten, welches die Ansprüche der Parteien
sind. Gegenstand des Kündigungsschutzverfahrens ist im Allgemeinen die
Überprüfung einer anfechtbaren Kündigung im Sinn von Art. 271 Abs. 1 und
271a OR und/oder die Erstreckung des Mietverhältnisses (BGE 121 III 156 E.
1c S. 160 ff. mit Hinweisen; HIGI, Zürcher Kommentar,

Zürich 1994, N. 124 und 126 zu Art. 273 OR). Mit der Prüfung der Gültigkeit
der Kündigung kann die Beurteilung von zivilrechtlichen Vorfragen in
Zusammenhang stehen. Als zivilrechtliche Vorfragen, die im
Kündigungsschutzverfahren zu beurteilen sind, wird in der Literatur
insbesondere auf die Prüfung der Unwirksamkeit oder Nichtigkeit einer
Kündigung verwiesen (HIGI, a.a.O., N. 15 zu Art. 273 OR; SVIT-Kommentar, N.
7 zu Art. 273 OR; LACHAT/ STOLL/BRUNNER, Mietrecht für die Praxis, 4. Aufl.,
Zürich 1999, S. 66, Fn. 25; zur Unterscheidung zwischen anfechtbaren,
unwirksamen und nichtigen Kündigungen vgl. BGE 121 III 156 ff.). Insgesamt
kann somit festgehalten werden, dass der Gegenstand des konkreten
Kündigungsschutzverfahrens durch die Rechtsbegehren der klagenden Partei
bestimmt wird. Im Vordergrund steht die Anfechtbarkeit der Kündigung nach
Art. 271 Abs. 1 und 271a OR. In Frage kommen aber auch die von einer Partei
zur Beurteilung aufgeworfenen zivilrechtlichen Vorfragen wie insbesondere
die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit der Kündigung.

  3.3  Im vorliegenden Fall hat die im Schlichtungsverfahren unterlegene
Klägerin im gerichtlichen Verfahren im Eventualstandpunkt beantragt, es sei
die Wirksamkeit der Kündigung vom 29. Dezember 2003 per 30. Juni 2004
festzustellen. Mit diesem Rechtsbegehren wandte sich die Klägerin gegen den
Entscheid der Schlichtungsbehörde, welche die Kündigung für missbräuchlich
erklärt hatte. Sie legte damit dem Gericht "Ansprüche der Vertragsparteien"
im Sinn von Art. 273 Abs. 4 OR zur Beurteilung vor. Aus dieser
bundesrechtlichen Prozessbestimmung ergibt sich ohne weiteres, dass das von
der Klägerin im Kündigungsschutzverfahren gestellte (Eventual-)Begehren
zulässig ist. Dass die Klägerin kein Rechtsschutzinteresse
(Feststellungsinteresse) an der alleinigen Beurteilung der Wirksamkeit der
Kündigung hat, weil es ihr möglich gewesen wäre, mit einer Leistungsklage
die Ausweisung der Beklagten aus der gepachteten Liegenschaft zu verlangen,
trifft nicht zu. Einerseits verschafft das Gesetz den Parteien eines Miet-
bzw. Pachtverhältnisses wie erwähnt einen Anspruch darauf, die
Rechtswirksamkeit der Kündigung gerichtlich prüfen zu lassen (Art. 273 OR).
Und andrerseits wäre es im Kündigungsschutzverfahren gar nicht möglich, die
Ausweisung zu verlangen, weil der Richter im Fall der Wirksamkeit der
Kündigung die Erstreckung des Miet- bzw. Pachtverhältnisses, die eine
Ausweisung verbieten würde, zu prüfen hätte (Art. 273 Abs. 2, Art. 274e Abs.
3 und Art. 274f Abs. 3

OR). Das von der Klägerin gestellte Eventualrechtsbegehren ist daher
zulässig. Die gegenteilige Auffassung des Obergerichts, es fehle der
Klägerin ein Rechtsschutz- bzw. Feststellungsinteresse, widerspricht den
bundesrechtlichen Verfahrensvorschriften zum Kündigungsschutzverfahren.

  3.4  Nichts anderes gilt, soweit die Vorinstanz auch in Bezug auf das
Hauptbegehren ein Feststellungsinteresse verneint. Wie erwähnt kann die
Schlichtungsbehörde und anschliessend das Gericht nicht nur über die
Anfechtbarkeit der Kündigung im Sinn von Art. 271 Abs. 1 und 271a OR
befinden. Vielmehr kann auch über zivilrechtliche Vorfragen, die mit der
Kündigung im Zusammenhang stehen, entschieden werden. In erster Linie
bedeutet dies, dass die Schlichtungsbehörde bzw. der Richter auch über die
Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit der Kündigung entscheiden kann (vgl. oben, E.
3.2). Dasselbe gilt für den Fall, dass umstritten ist, ob zwischen den
Parteien überhaupt ein Vertragsverhältnis besteht. Auch dieser
Prozessgegenstand ist - ähnlich wie die Frage der Unwirksamkeit und
Nichtigkeit der Kündigung - eine zivilrechtliche Vorfrage, die unter den
Begriff der "Ansprüche der Parteien" im Sinn von Art. 273 Abs. 4 OR fällt.
Es muss daher möglich sein, den für das Kündigungsschutzverfahren
zuständigen Schlichtungsbehörden und Richtern die Frage zur Beurteilung zu
unterbreiten, ob zwischen den Parteien überhaupt ein Vertragsverhältnis
besteht, auf welches sich die Kündigung bezieht.

  3.5  Aus diesen Gründen kann der Auffassung der Vorinstanz nicht gefolgt
werden, dass die Klägerin bezüglich der gestellten Rechtsbegehren kein
Rechtsschutzinteresse habe, sondern eine Leistungsklage auf Rückgabe der
Liegenschaft bzw. auf Ausweisung aus dem Mietobjekt hätte erheben müssen.
Vielmehr war die Klägerin berechtigt, im Kündigungsschutzverfahren die
umstrittenen Rechtsbegehren zu stellen, und das Obergericht wäre
verpflichtet gewesen, über die "Ansprüche der Vertragsparteien" im Sinn von
Art. 273 Abs. 4 OR zu befinden. Die Berufung ist daher gutzuheissen und das
angefochtene Urteil aufzuheben.