Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 78



131 V 78

12. Auszug aus dem Urteil i.S. S. gegen Assura Kranken- und
Unfallversicherung und Verwaltungsgericht des Kantons Bern

    K 166/03 vom 27. Januar 2005

Regeste

    Art. 70 Abs. 1 und 2 lit. a, Art. 71 Satz 1 ATSG; Art. 78 Abs. 1 lit. a
KVG und Art. 112 KVV (je in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Fassung): Vorleistungspflicht der Krankenversicherung im Verhältnis zur
Unfallversicherung.

    Die Bestimmungen des ATSG zur Vorleistungspflicht der
Krankenversicherung entsprechen denjenigen des alten Rechts. Die
Krankenversicherung ist im Falle einer Heilbehandlung im Verhältnis
zur Unfallversicherung u.a. dann vorleistungspflichtig, wenn die
Unfallkausalität der Gesundheitsschädigung streitig ist. In einem solchen
Fall sind die für die Leistungsausrichtung erheblichen Fragen auf Grund
des KVG zu beantworten.

    Erfolgt eine medikamentöse Behandlung gestützt auf eine Diagnose,
die sich nachträglich als falsch herausstellt, ist dies kein Grund für
die Verneinung der Vorleistungspflicht des Krankenversicherers. Diese
entfällt erst, wenn die durchgeführte Behandlung den Kriterien des Art. 32
KVG offensichtlich nicht entspricht. (Erw. 2 und 3)

    Keine Vorleistungspflicht der Krankenversicherung besteht für
Medikamente, die nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind,
sowie für Massnahmen, die im Ausland durchgeführt wurden, ohne dass die
entsprechenden Voraussetzungen erfüllt waren (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- S. ist bei der Assura Kranken- und Unfallversicherung obligatorisch
für Krankenpflege versichert. Nachdem er im Juni 2000 Beschwerden in Folge
von Zeckenbissen im Jahr 1999 hatte melden lassen, erbrachte die Zürich
Versicherungs-Gesellschaft, bei welcher S. vom 1. Januar bis 31. Dezember
1999 obligatorisch gegen Unfälle versichert war, zunächst die gesetzlichen
Leistungen. Gestützt auf die medizinischen Unterlagen, namentlich ein
Gutachten des Neurologen Prof. M. vom 6. Oktober 2002, lehnte die Zürich
den Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung mit Verfügung
vom 8. Januar 2003 ab, weil die Gesundheitsstörungen des Versicherten
keine Folgen eines zwischen 1. Januar und 31. Dezember 1999 eingetretenen
Unfalls darstellten und in keinem Kausalzusammenhang zu einem möglichen, im
Jahr 1999 erlittenen Zeckenbiss stünden. Der Versicherte erhob Einsprache.

    Für die Folgen eines Reitunfalls vom 6. Oktober 2000 erbrachte die
Visana als nunmehr zuständige Unfallversicherung zunächst die gesetzlichen
Leistungen, verneinte indessen mit Verfügung vom 11. Dezember 2002 ihre
weitere Leistungspflicht, woran sie mit Einspracheentscheid vom 31. Januar
2003 festhielt. In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde
hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern den Einspracheentscheid auf
und wies die Sache zu ergänzenden Abklärungen und neuer Verfügung an die
Visana zurück (Entscheid vom 4. November 2003).

    Mit Schreiben vom 14. März 2003 hatte S. die Assura unter Berufung
auf deren gesetzliche Vorleistungspflicht um Begleichung mehrerer offener
Rechnungen für Medikamente und Laboruntersuchungen im Zusammenhang mit dem
behaupteten Zeckenbiss ersucht. Mit Verfügung vom 3. April 2003 eröffnete
die Assura dem Versicherten, dass sie die ihr vorgelegten Rechnungen mit
Ausnahme eines Betrages von Fr. 1432.15 (abzüglich Kostenbeteiligung) nicht
übernehme; die Rocephin-Therapie und die Behandlungen mit den Antibiotika
Zithromax und Clamoxyl seien medizinisch nicht indiziert und damit als
nicht wirtschaftlich zu betrachten. Die Kosten für die Laboruntersuchungen
in den USA könnten auf Grund des Territorialitätsprinzips nicht vergütet
werden, während das Medikament Claforan nicht auf der Spezialitätenliste
aufgeführt sei und damit keine Pflichtleistung der obligatorischen
Krankenversicherung darstelle. Auf Einsprache von S. hin hielt die Assura
mit Entscheid vom 22. Mai 2003 an ihrem Standpunkt fest.

    B.- Die von S. hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher er
beantragen liess, unter Aufhebung des Einspracheentscheides sei die
Assura zu verpflichten, als vorleistungspflichtiger Krankenversicherer
die Leistungen im Zusammenhang mit den Unfällen von 1999 und 2000 zu
erbringen, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid
vom 4. November 2003).

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S. das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren erneuern.

    Während die Assura auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung, Abteilung
Kranken- und Unfallversicherung (seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für
Gesundheit), auf eine Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Begründet ein Versicherungsfall einen Anspruch auf
Sozialversicherungsleistungen, bestehen aber Zweifel darüber, welche
Sozialversicherung die Leistungen zu erbringen hat, so kann die berechtigte
Person Vorleistung verlangen (Art. 70 Abs. 1 ATSG). Vorleistungspflichtig
ist die Krankenversicherung für Sachleistungen und Taggelder, deren
Übernahme durch die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die
Militärversicherung oder die Invalidenversicherung umstritten ist (Art. 70
Abs. 2 lit. a ATSG). Die berechtigte Person hat sich bei den in Frage
kommenden Sozialversicherungen anzumelden (Art. 70 Abs. 3 ATSG). Die
Vorleistungspflicht der Krankenversicherung gemäss Art. 70 Abs. 2
lit. a ATSG entspricht derjenigen des bisherigen Rechts (UELI KIESER,
ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil
des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, N 35 zu
Art. 70). Der mit dem altrechtlichen, gestützt auf Art. 78 Abs. 1 lit. a
KVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) erlassenen
Art. 112 KVV (gültig bis 31. Dezember 2002) geregelte Zweifelsfall
betraf ausschliesslich Tatbestände, bei denen unbestritten ist, dass
eine bestimmte Leistung erbracht werden muss, hingegen zweifelhaft
ist, welcher von zwei Versicherern diese Leistung schuldet (Urteil
T. vom 26. April 2001, K 146/99). Soweit von Art. 70 Abs. 2 lit. a ATSG
Sachleistungen erfasst sind, muss ein Zweifel über die Leistungspflicht
bei einer Heilbehandlung bestehen, weil die Krankenpflegeversicherung
grundsätzlich nur Leistungen mit einer diagnostischen, therapeutischen
oder pflegerischen Zielsetzung erbringt. Es geht somit um Untersuchungen,
Behandlungen, Pflegemassnahmen, Analysen, Arzneimittel und bestimmte
Mittel und Gegenstände (KIESER, aaO, N 12 zu Art. 70).

    Nach Art. 71 ATSG erbringt der vorleistungspflichtige
Versicherungsträger die Leistungen nach den für ihn geltenden
Bestimmungen. Wird der Fall von einem anderen Träger übernommen,
so hat dieser die Vorleistungen im Rahmen seiner Leistungspflicht
zurückzuerstatten. Art. 71 Satz 1 ATSG stellt ebenfalls keine Neuerung
dar, sondern entspricht alt Art. 112 Abs. 1 KVV. Ist somit gestützt
auf Art. 70 ATSG die Vorleistungspflicht bestimmt worden, richtet sich
in der Folge die Leistungspflicht nach den Bestimmungen der für den
betreffenden Sozialversicherungszweig massgebenden Regelung, was bedeutet,
dass sämtliche für die Leistungsausrichtung erheblichen Fragen nach diesen
Bestimmungen zu beantworten sind (KIESER, aaO, N 3 und 4 zu Art. 73).

    Erfolgt eine medikamentöse Behandlung auf Grund einer Diagnose,
die sich nachträglich als falsch herausstellt, ist dies kein Grund
für die Verneinung der Vorleistungspflicht. Massgebend ist, dass
eine Verdachtsdiagnose eine Behandlung rechtfertigen kann und diese
aus medizinischer Sicht im Durchführungszeitpunkt prospektiv als
indiziert erscheint. Tauchen im Nachhinein, beispielsweise gestützt
auf ein fachärztliches Gutachten, Zweifel an der ursprünglichen
Diagnose auf, führt dies nicht dazu, dass die seinerzeit auf Grund
der Verdachtsdiagnose veranlasste, als wirksam, zweckmässig und
wirtschaftlich gemäss Art. 32 KVG erachtete Behandlung nunmehr als
unwirksam, unzweckmässig oder unwirtschaftlich bezeichnet werden kann mit
der Folge, dass der Krankenversicherer sich unter Berufung auf Art. 32
KVG der Vorleistungspflicht gestützt auf Art. 71 Satz 1 ATSG entschlagen
könnte. Die Vorleistungspflicht des Krankenversicherers entfällt erst, wenn
die durchgeführte Behandlung den Kriterien des Art. 32 KVG offensichtlich
nicht entspricht.

Erwägung 3

    3.  Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer an
erheblichen, behandlungsbedürftigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen
leidet, deren Ursache noch nicht geklärt ist. Während die Zürich als
zuständige Unfallversicherung ihre Leistungspflicht nach umfangreichen
Abklärungen gemäss Verfügung vom 8. Januar 2003 verneint hat mit
der Begründung, dass es sich bei den geklagten Beschwerden nicht
um Unfallfolgen handelt und ein Zeckenbiss als Ursache nicht mit
der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sei, vertritt der
Versicherte die Auffassung, seine Beschwerden seien unfallkausal. Über
seine mit der entsprechenden Begründung erhobene Einsprache wurde,
soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Streitig und zu prüfen ist,
ob die Assura als Krankenversicherer des Beschwerdeführers auf Grund der
gesetzlichen Vorleistungspflicht die im Zusammenhang mit der Behandlung
des seitens der beteiligten Ärzte vermuteten Zeckenbisses im Jahr 1999
stehenden Rechnungen zu übernehmen hat.

    3.1  Aus den vorstehend (Erw. 2 hievor) dargelegten Grundsätzen folgt,
dass der Krankenversicherer im Falle einer Heilbehandlung im Verhältnis
zur Unfallversicherung vorleistungspflichtig ist, wenn feststeht,
dass eine bestimmte Leistung erbracht werden muss, aber unklar ist, ob
der behandelte Gesundheitsschaden auf einen Unfall (eine unfallähnliche
Körperschädigung; eine Berufskrankheit) oder eine Krankheit zurückzuführen
ist. Dies bedeutet, dass der Krankenversicherer gerade in Fällen, in
welchen die Unfallkausalität einer Gesundheitsschädigung streitig ist
und von den beteiligten Ärzten kontrovers beurteilt wird, grundsätzlich
vorleistungspflichtig ist.

    3.2  Die Assura kann sich demnach nicht unter Hinweis auf Art. 71
Satz 1 ATSG und eine Stellungnahme ihres Vertrauensarztes oder
anderer am Verfahren beteiligter Mediziner mit Erfolg auf fehlende
Wirtschaftlichkeit der durchgeführten Behandlungen im Sinne von Art. 32
in Verbindung mit Art. 56 KVG berufen, weil sie aus dem Gutachten
des Prof. M. schliesst, der Kausalzusammenhang zwischen (allfälligem)
Zeckenbiss und den Gesundheitsstörungen des Beschwerdeführers sei nicht mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen, weshalb die durchgeführten
Behandlungen medizinisch nicht indiziert gewesen seien. Denn so lange
die im Hinblick auf eine Borreliose-Erkrankung infolge Zeckenbisses
angeordnete medikamentöse Therapie auf Grund einer Verdachtsdiagnose zum
damaligen Zeitpunkt aus medizinischer Sicht unter Berücksichtigung des
dem behandelnden Arzt zustehenden Ermessens gerechtfertigt erschien,
ist die Vorleistungspflicht der Assura gegeben. Mit ihrer Auffassung
verkennt die Assura das Wesen der Vorleistungspflicht gemäss Art. 70
Abs. 2 lit. a ATSG, mit welcher lediglich geregelt wird, welcher der
Versicherer im Zweifelsfall eine Leistung, die erbracht werden muss,
zunächst schuldet. Dass im vorliegenden Fall Versicherungsleistungen
in Form von Heilbehandlung und Arzneimitteln zu erbringen waren, steht
damit fest.

Erwägung 4

    4.  Gestützt auf Art. 70 Abs. 2 lit. a ATSG ist die Assura nach
dem Gesagten grundsätzlich vorleistungspflichtig, wobei sich ihre
Vorleistungspflicht nach Massgabe der Bestimmungen des KVG richtet. Mit
Bezug auf die einzelnen Rechnungen gilt Folgendes:

    4.1  Die Rechnung der Apotheke Y. vom 31. Oktober 2002 über
Fr. 5066.75, welche im Teilbetrag von Fr. 1432.15 anerkannt wurde, hat die
Assura vollumfänglich (abzüglich Kostenbeteiligung des Beschwerdeführers)
zu übernehmen.

    4.2  Die Rechnung der Apotheke Y. vom 1. Februar 2003 über Fr. 9417.15
betrifft das nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführte Medikament
Claforan und Positionen, die im Zusammenhang mit der Verabreichung
dieses Arzneimittels stehen. Da die gesetzliche Ordnung die Übernahme der
Kosten von nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführten Arzneimitteln
durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung ausschliesst (RKUV
2003 KV Nr. 260 S. 302 Erw. 3; GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 126),
entfällt nach Art. 71 Satz 1 ATSG die Vorleistungspflicht der Assura.

    4.3  Nicht vorleistungspflichtig ist die Assura sodann für die in
den USA durchgeführten Laboruntersuchungen (Rechnung vom 6. Oktober 2002
über Fr. 663.-). Gemäss Art. 34 Abs. 2 KVG in Verbindung mit Art. 36
Abs. 1 KVV werden - abgesehen von Notfällen (Art. 36 Abs. 2 KVV) -
Leistungen nach den Art. 25 Abs. 2 und 29 KVG, die im Ausland erbracht
werden, von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nur übernommen,
wenn sie in der Schweiz nicht erbracht werden können (vgl. RKUV 2003 KV Nr.
253 S. 229). Es ist nicht ersichtlich, dass die in den USA vorgenommenen
Laboruntersuchungen nicht auch in der Schweiz hätten durchgeführt werden
können, was vom Beschwerdeführer denn auch nicht behauptet wird.