Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 49



131 V 49

7. Auszug aus dem Urteil i.S. J. gegen IV-Stelle des Kantons Solothurn
und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn

    I 770/03 vom 16. Dezember 2004

Regeste

    Art. 4 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Fassung); Art. 4 Abs. 1 IVG (in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung)
in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 ATSG: Somatoforme Schmerzstörungen und
Invaliditätsbegriff.

    Die Prüfung der invalidisierenden Wirkung von Schmerzstörungen
setzt eine gesamthafte Prüfung der Sachlage nach den in BGE 130 V 352
formulierten Kriterien voraus; mit zu berücksichtigen sind dabei auch
Aspekte, welche gegen eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung
sprechen. (Erw. 1.2)

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.

    1.2  Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit können in gleicher
Weise wie körperliche Gesundheitsschäden eine Invalidität im Sinne von Art.
4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG bewirken. Nicht als Folgen eines
psychischen Gesundheitsschadens und damit invalidenversicherungsrechtlich
nicht als relevant gelten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, welche die
versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende
Leistungsfähigkeit zu verwerten, abwenden könnte; das Mass des Forderbaren
wird dabei weitgehend objektiv bestimmt (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228
Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine).

    Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, setzt zunächst eine fachärztlich
(psychiatrisch) gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten
Klassifikationssystem voraus (BGE 130 V 398 ff. Erw. 5.3 und Erw. 6). Wie
jede andere psychische Beeinträchtigung begründet indes auch eine
diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche noch
keine Invalidität. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die somatoforme
Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung
überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung
intensiv und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den
Arbeitsprozess unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann
nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen
verfügt. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im
Einzelfall anhand verschiedener Kriterien. Im Vordergrund steht die
Feststellung einer psychischen Komorbidität von erheblicher Schwere,
Ausprägung und Dauer. Massgebend sein können auch weitere Faktoren,
so: chronische körperliche Begleiterkrankungen; ein mehrjähriger,
chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder progredienter
Symptomatik ohne länger dauernde Rückbildung; ein sozialer Rückzug in
allen Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr
beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten,
psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn;
"Flucht in die Krankheit"); das Scheitern einer konsequent durchgeführten
ambulanten oder stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem
therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung der versicherten Person
(BGE 130 V 352). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter
sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise
- die Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen
(MEYER-BLASER, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung
in der Sozialversicherung, namentlich für den Einkommensvergleich in der
Invaliditätsbemessung, in: SCHAFFHAUSER/ SCHLAURI [Hrsg.], Schmerz und
Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen 2003, S. 77).

    Beruht die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen
Konstellation, liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung
vor (siehe MEYER-BLASER, aaO, S. 92 f.). Eine solche Ausgangslage ist etwa
gegeben, wenn: eine erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten
Schmerzen und dem gezeigten Verhalten oder der Anamnese besteht;
intensive Schmerzen angegeben werden, deren Charakterisierung jedoch
vage bleibt; keine medizinische Behandlung und Therapie in Anspruch
genommen wird; demonstrativ vorgetragene Klagen auf den Sachverständigen
unglaubwürdig wirken; schwere Einschränkungen im Alltag behauptet
werden, das psychosoziale Umfeld jedoch weitgehend intakt ist (siehe
KOPP/WILLI/KLIPSTEIN, Im Graubereich zwischen Körper, Psyche und sozialen
Schwierigkeiten, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 1997, S.
1434, mit Hinweis auf eine grundlegende Untersuchung von WINCKLER und
FOERSTER).