Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 454



Urteilskopf

131 V 454

  59. Auszug aus dem Urteil i.S. Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich gegen
Z. und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
  C 156/04 vom 7. Oktober 2005

Regeste

  Art. 53 und 58 AVIG: Insolvenzentschädigung bei Nachlassstundung.

  Die Frist für die Anmeldung des Insolvenzentschädigungsanspruchs beginnt
bereits im Zeitpunkt der Veröffentlichung der provisorischen
Nachlassstundung im Schweizerischen Handelsamtsblatt. Die in diesem Sinn vom
Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) abgefasste Weisung "Nachlassstundung
- Insolvenzentschädigung (IE)", AM/ALV-Praxis 2002/3 Blatt 7/1, ist
gesetzeskonform. (Erw. 6 und 7)

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Beschwerdegegnerin den
Anspruch auf Insolvenzentschädigung rechtzeitig geltend gemacht hat.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Nach Art. 53 Abs. 1 AVIG muss der Arbeitnehmer seinen
Entschädigungsanspruch spätestens 60 Tage nach der Veröffentlichung des
Konkurses im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) bei der öffentlichen
Kasse stellen, die am Ort des Betreibungs- und Konkursamtes zuständig ist.
Mit dem Ablauf dieser Frist erlischt der Anspruch auf Insolvenzentschädigung
(Art. 53 Abs. 3 AVIG). Die Frist von Art. 53 Abs. 1 AVIG hat
Verwirkungscharakter, ist aber einer Wiederherstellung zugänglich (BGE 123 V
107 Erw. 2a; ARV 1996/97 Nr. 13 S. 70 Erw. 1a und b; GERHARDS, Kommentar zum
Arbeitslosenversicherungsgesetz, Bd. I, N 21 zu Art. 53; THOMAS NUSSBAUMER,
Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR],
Soziale Sicherheit, Rz 515).

  3.2  Gemäss Art. 58 AVIG (in der vorliegend massgebenden, seit 1. Juli
2003 in Kraft stehenden Fassung) gilt bei einer Nachlassstundung oder einem
richterlichen Konkursaufschub dieses Kapitel (somit das fünfte Kapitel mit
dem Titel "Insolvenzentschädigung": Art. 51 ff. AVIG) sinngemäss für
diejenigen Arbeitnehmer, die aus dem Betrieb ausgeschieden sind. Die vor der
Nachlassstundung entstandenen Lohnforderungen müssen damit innert der
60-tägigen Frist seit Bewilligung der Nachlassstundung geltend gemacht
werden; wird später über den Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin der Konkurs
eröffnet, so lebt ein im Zeitpunkt der Nachlassstundung entstandener, aber
nicht oder nicht rechtzeitig geltend gemachter und damit verwirkter
Insolvenzentschädigungsanspruch nicht wieder auf (BGE 126 V 140 Erw. 3a, 123
V 107 f. Erw. 2b).

Erwägung 4

  4.

  4.1  Die Beschwerdeführerin und das Staatssekretariat für Wirtschaft
(seco) gehen davon aus, der Begriff der "Nachlassstundung" im Sinne von Art.
58 AVIG umfasse die provisorische und die

definitive Nachlassstundung. Sie stützen sich dabei auf eine vom seco
erlassene Weisung "Nachlassstundung - Insolvenzentschädigung (IE)", worin
festgehalten wird, bereits die provisorische Nachlassstundung sei ein für
die Anmeldung zum Bezug von Insolvenzentschädigung fristauslösendes Ereignis
(AM/ALV-Praxis 2002/3 Blatt 7/1).

  Folgt man dieser Auffassung, so hätte die 60-tägige Frist gemäss Art. 53
Abs. 1 AVIG vorliegend mit der Veröffentlichung der provisorischen
Nachlassstundung im SHAB (12. September 2003) zu laufen begonnen, womit die
Beschwerdegegnerin ihren Insolvenzentschädigungsantrag vom 27. November 2003
verspätet gestellt hätte.

  4.2  Die Vorinstanz hält diese Verwaltungspraxis für gesetzwidrig: Die
provisorische Nachlassstundung stelle nur eine vorsorgliche Massnahme im
Rahmen des Verfahrens um Bewilligung der Nachlassstundung dar. Dieses
Verfahren werde erst mit der definitiven Nachlassstundung abgeschlossen.
Auch aus dem Wortlaut von Art. 58 AVIG ergäben sich keine Anhaltspunkte
dafür, dass auch die provisorische Nachlassstundung gemeint sei.

  Im zu beurteilenden Fall hätte sich die Beschwerdegegnerin bei dieser
Betrachtungsweise ohne Zweifel (Veröffentlichung der definitiven
Nachlassstundung im SHAB: 21. November 2003; Antrag auf
Insolvenzentschädigung: 27. November 2003) rechtzeitig zum Bezug von
Insolvenzentschädigung angemeldet.
  (...)

Erwägung 6

  6.

  6.1
  6.1.1  Die auf den 1. Januar 1983 in Kraft gesetzte Fassung von Art. 58
AVIG (AS 1982 2184) lautete: "Bei einem Nachlassvertrag mit
Vermögensabtretung gilt dieses Kapitel sinngemäss". Mit der Teilrevision vom
5. Oktober 1990, in Kraft ab 1. Januar 1992 (AS 1991 2125), wurde Art. 58
AVIG wie folgt geändert: "Bei einer Nachlassstundung oder einem
gerichtlichen Konkursaufschub gilt dieses Kapitel sinngemäss". In der
Botschaft zu einer Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes vom
23. August 1989 wurde dazu ausgeführt, es habe bisher eine gewisse
Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Frage geherrscht, ob die zu
entschädigenden Monate vom Datum der Genehmigung des Nachlassvertrags oder
bereits vom Zeitpunkt der Bewilligung der Nachlassstundung

an zurückzurechnen seien. Die neue Fassung entscheide die Frage im Sinne der
zweiten Lösung. Das nachmalige Zustandekommen des Nachlassvertrags bilde
damit keine Anspruchsvoraussetzung mehr; der Anspruch entstehe bereits mit
der Stundungsbewilligung (BBl 1989 III 400).

  6.1.2  Im Zeitpunkt der Teilrevision des AVIG, in Kraft ab 1. Januar 1992,
galt noch das SchKG in der alten Fassung. Dieses regelte in den alt Art. 293
ff. SchKG den Nachlassvertrag, kannte aber keine provisorische
Nachlassstundung: Der Schuldner hatte das Nachlassvertragsbegehren
einzureichen (alt Art. 293 SchKG), worauf die Nachlassbehörde entschied, ob
auf das Begehren einzutreten sei (alt Art. 294 SchKG), und - sofern dem
Begehren entsprochen wurde - eine Nachlassstundung bis zu vier Monaten, um
maximal zwei Monate verlängerbar, gewährte (alt Art. 295 SchKG). Es ist
daher selbstverständlich, dass anlässlich der Teilrevision des AVIG im Jahr
1992 nicht zwischen der provisorischen und der definitiven Nachlassstundung
differenziert wurde. Erst später wurde das SchKG revidiert (Inkraftsetzung:
1. Januar 1997; AS 1995 1227). In diesem Rahmen wurde insbesondere das
Nachlassverfahren geändert. Neu sieht Art. 293 Abs. 3 SchKG nun vor, dass
der Nachlassrichter das Gesuch um Nachlassstundung in begründeten Fällen für
einstweilen höchstens zwei Monate provisorisch bewilligen kann. Auf die
provisorisch bewilligte Nachlassstundung finden gemäss Art. 293 Abs. 4 SchKG
die Art. 296, 297 und 298 SchKG Anwendung. Die provisorische Bewilligung der
Stundung wird demnach ebenfalls öffentlich bekannt gemacht (Art. 296 SchKG)
und führt wie die definitive Nachlassstundung dazu, dass eine Betreibung
grundsätzlich weder eingeleitet noch fortgesetzt werden kann (Art. 297 Abs.
1 SchKG). Zulässig bleiben, wie bereits nach altem Recht (alt Art. 297 Abs.
2 SchKG), unter anderem Betreibungen auf Pfändung für die Forderungen der
ersten Klasse (Art. 297 Abs. 2 Ziff. 1 SchKG).
  Art. 58 AVIG wurde anlässlich der SchKG-Revision nicht verändert. Dies
geschah erst mit der Revision des AVIG vom 22. März 2002, in Kraft seit. 1.
Juli 2003 (AS 2003 1755).

  6.2  Bei dieser Rechtslage kann die von der Vorinstanz angestellte
Überlegung, wonach die provisorische Nachlassstundung bloss einen
vorsorglichen und nicht einen definitiven Zustand schaffe,

nicht überzeugen: Zum einen ist die definitive Nachlassstundung ebenfalls
immer bloss provisorisch, nämlich auf in der Regel maximal sechs, in
besonders komplexen Fällen auf maximal 24 Monate befristet (Art. 295 Abs. 1
und 4 SchKG); auch sie kann zudem widerrufen werden (Art. 295 Abs. 5 SchKG).
Dies relativiert auch das Argument der Beschwerdegegnerin, bei der
provisorischen Nachlassstundung könne man noch nicht wissen, wie das Gericht
entscheiden werde; denn auch dieser Gerichtsbeschluss ist nicht definitiv.
Zum andern sind die Wirkungen der provisorischen Nachlassstundung weitgehend
die gleichen wie diejenigen der definitiven. Es besteht daher kein Grund,
die provisorische Nachlassstundung in Bezug auf die Insolvenzentschädigung
anders zu behandeln als die definitive: In beiden Fällen sind
Lohnforderungen der Arbeitnehmer bedroht. Es ist sachlich nicht haltbar, den
durch die Insolvenzentschädigung gewährten Schutz nicht bereits bei der
provisorischen Nachlassstundung zuzulassen. Zwar findet bei der
provisorischen Nachlassstundung noch kein Schuldenruf (Art. 300 SchKG) statt
(Art. 293 Abs. 4 SchKG). Die Arbeitnehmer müssen demnach ihre Forderungen
nachlassrechtlich noch nicht eingeben, sie können jedoch die von der
Arbeitslosenkasse verlangte Geltendmachung des Anspruchs provisorisch beim
Sachwalter vornehmen (RIEBEN/ASCHENBERGER, Stellung der Arbeitnehmer im
Nachlassverfahren, in: Insolvenz- und Wirtschaftsrecht 2002, Heft 3, S. 105
ff., 107).

  6.3  In der Literatur wird die Ansicht vertreten, dem Arbeitnehmer sei es
zumutbar, die relativ kurze Frist bis zum definitiven Entscheid abzuwarten,
weshalb der Anspruch auf Insolvenzentschädigung erst mit der definitiven
Stundung entstehe (URS BURGHERR, Die Insolvenzentschädigung,
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als versichertes Risiko, Diss. Zürich
2004, S. 78 f.; ähnlich: GERHARDS, Kommentar zum
Arbeitslosenversicherungsgesetz, Bd. III, S. 1296 N 1 und 4 zu Art. 58;
NUSSBAUMER, a.a.O., Rz 512). Indessen führt die provisorische
Nachlassstundung nicht zwingend zu einer definitiven. Letztere wird
verweigert, wenn keine Aussicht auf einen Nachlassvertrag besteht (Art. 295
Abs. 1 SchKG), beispielsweise weil die Forderungen der Arbeitnehmer nicht
hinlänglich sichergestellt werden können (vgl. Art. 306 Abs. 2 Ziff. 2 in
Verbindung mit Art. 219 Abs. 4 lit. a SchKG). Bei der Auffassung der
Vorinstanz würde gerade in diesen Fällen, in denen das Schutzbedürfnis in
der Regel am grössten sein dürfte, keine (bzw.

erst nach einer allfälligen Konkurseröffnung) Insolvenzentschädigung
ausgerichtet.

  6.4  Auch die Materialien im Zusammenhang mit der AVIG-Revision von 2003
sprechen für die Auffassung der Beschwerdeführerin und des seco:
  6.4.1  Das Ziel der Änderung von Art. 58 AVIG bestand darin, zu
verhindern, dass im Falle des Nichtzustandekommens eines Nachlassvertrags
die Arbeitslosenversicherung für den gleichen Versicherten zweimal (d.h. bei
der Nachlassstundung und bei der späteren Konkurseröffnung)
Insolvenzentschädigung zu bezahlen hat. Zu diesem Zweck wurde die
Insolvenzentschädigung bei Nachlassstundung beschränkt auf diejenigen
Arbeitnehmer, die aus dem Betrieb ausgeschieden sind. In der Botschaft zu
einem revidierten Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 28. Februar 2001 (BBl
2001 II 2245) wurde zwar nicht ausdrücklich diskutiert, ob eine
provisorische oder eine definitive Nachlassstundung gemeint sei. Es wurde
ausgeführt, da ohnehin die Sicherstellung der privilegierten
(Lohn-)Forderungen zum Abschluss eines Nachlassvertrages Voraussetzung sei,
sei die Nachlassstundung aus der Sicht der Arbeitslosenversicherung als
Anspruchsberechtigung nur für jene Fälle relevant, in denen es später auch
zur Konkurseröffnung komme. Komme es nämlich zum Abschluss des
Nachlassvertrages, so könne sich der Arbeitnehmer oder allenfalls die
Arbeitslosenkasse auf Grund des geltend zu machenden Privilegs für die
ausbezahlte Insolvenzentschädigung schadlos halten. Komme hingegen kein
Nachlassvertrag zu Stande und arbeite der Arbeitnehmer weiter, so habe dies
zwangsläufig jene Konstellation mit einer zweiten IE-Anspruchsvoraussetzung
zur Folge (BBl 2001 II 2286). Gerade dies sollte mit der Gesetzesrevision
verhindert werden. Da eine definitive Nachlassstundung voraussetzt, dass
Aussicht auf einen Nachlassvertrag besteht (Art. 295 Abs. 1 SchKG), dürfte
der Fall, den der Gesetzgeber vermeiden wollte, gerade dann besonders häufig
sein, wenn wohl eine provisorische, in der Folge aber keine definitive
Nachlassstundung gewährt wird.

  6.4.2  Der Ständerat genehmigte Art. 58 AVIG in der vom Bundesrat
vorgeschlagenen Fassung diskussionslos (Amtl. Bull. 2001 S 397).
Demgegenüber wurde im Nationalrat ein Antrag für einen zusätzlichen Absatz
von Art. 58 AVIG gestellt, wonach der Bund

für Mitarbeiter von Firmen, die in Nachlassstundung stehen, während maximal
zweier Monate die Differenz zwischen der Arbeitslosenentschädigung und dem
Lohn bis zum Höchstbetrag des versicherten Verdienstes bezahlen könne. Damit
sollte eine gesetzliche Grundlage für die Zahlungen geschaffen werden,
welche der Bundesrat im Rahmen der provisorischen Swissair-Nachlassstundung
geleistet hatte. Der Nationalrat lehnte diesen Antrag ab (Amtl. Bull. 2001 N
1903 ff.). Auch in den Plenumsberatungen wurde demnach nicht ausdrücklich
zwischen der provisorischen und der definitiven Nachlassstundung
differenziert. Da aber die ganze Diskussion am Beispiel der provisorischen
Swissair-Nachlassstundung geführt wurde, ist davon auszugehen, dass unter
"Nachlassstundung" im Sinne von Art. 58 AVIG stillschweigend auch die
provisorische Nachlassstundung verstanden wurde.

  6.5  Die teleologische Auslegung des Art. 58 AVIG stützt die vom seco in
seinen Weisungen getroffene Lösung ebenfalls. Die Nachlassstundung bezweckt,
eine Sanierung des Unternehmens zu ermöglichen. Sanierungsversuche werden
erschwert, wenn Betreibungen für Lohnforderungen laufen, was auch während
der Stundung zulässig ist (Art. 297 Abs. 2 Ziff. 1 in Verbindung mit Art.
219 Abs. 4 lit. a SchKG). Können die betroffenen Arbeitnehmer damit rechnen,
eine Insolvenzentschädigung zu erhalten, so haben sie geringeren Anlass,
ihre Arbeitgeber zu betreiben, was Sanierungsversuche erleichtern kann.

Erwägung 7

  7.  Insgesamt ergibt sich, dass die Insolvenzentschädigung gemäss Art. 58
AVIG bereits bei der provisorischen Nachlassstundung auszurichten ist
(gleicher Meinung: Rieben/Aschenberger, a.a.O., S. 108). Demzufolge beginnt
auch die 60-tägige Frist zur Geltendmachung des Anspruchs (Art. 53 Abs. 1
AVIG) mit der Veröffentlichung der provisorischen Nachlassstundung im SHAB.
Die in diesem Sinn vom seco formulierte Weisung "Nachlassstundung -
Insolvenzentschädigung (IE)", AM/ALV-Praxis 2002/3 Blatt 7/1, ist somit
gesetzeskonform. Für den vorliegend zu beurteilenden Fall bedeutet dies,
dass die Anmeldung der Beschwerdegegnerin zu spät erfolgt und ihr Anspruch
auf Insolvenzentschädigung verwirkt ist. Ein Wiederherstellungsgrund wurde
nicht geltend gemacht und auch aus den Akten ergeben sich keine
Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen.