Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 414



Urteilskopf

131 V 414

  54. Urteil i.S. IV-Stelle Schaffhausen gegen S. und Obergericht des
Kantons Schaffhausen
  I 335/05 vom 23. September 2005

Regeste

  Art. 12 Abs. 2 ATSV: Einspracheentscheid zu Ungunsten der Einsprache
führenden Person.

  In der angeführten Verordnungsbestimmung ist nunmehr die von der
Rechtsprechung entwickelte erweiterte Hinweispflicht festgelegt, wonach der
Versicherungsträger die Einsprache führende Person nicht nur auf die
drohende Schlechterstellung (reformatio in peius), sondern auch auf die
Möglichkeit eines Rückzugs ihrer Einsprache aufmerksam machen muss. Diese
doppelte Aufklärungspflicht wäre ihrer Bedeutung entleert, würde man dem
Sozialversicherer gleichzeitig gestatten, seine mittels Einsprache
angefochtene Verfügung (ohne die erwähnten, der Sicherstellung eines fairen
Verfahrens dienenden Hinweise an den Einsprecher) durch Erlass einer
Wiedererwägungsverfügung im Sinne einer reformatio in peius aufzuheben oder
abzuändern und hernach die Einsprache unter Berufung auf die nicht mehr
existierende ursprüngliche Verfügung als gegenstandslos geworden
abzuschreiben. (Erw. 1)

Sachverhalt

  A.- Mit Verfügung vom 11. November 2003 sprach die IV-Stelle Schaffhausen
dem 1971 geborenen S. unter Zugrundelegung eines Invaliditätsgrades von 40 %
ab 1. Oktober 2002 eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zu. Hiegegen
erhob der Versicherte am 11. Dezember 2003 Einsprache mit dem Begehren, die
Sache sei zu ergänzender medizinischer Abklärung (Einholung eines
psychiatrischen Gutachtens) und anschliessender Neuverfügung an die
Verwaltung zurückzuweisen. Die IV-Stelle erliess daraufhin am 27. Januar
2004 eine Wiedererwägungsverfügung, mit welcher sie auf die angefochtene
Verfügung vom 11. November 2003 zurückkam, einen Rentenanspruch von S.
mangels leistungsbegründender Invalidität rückwirkend ab 1. Oktober 2002
verneinte und die Rückforderung der bereits bezogenen Rentenbetreffnisse mit
separater Verfügung in Aussicht stellte. Anschliessend schrieb sie die gegen
die ursprüngliche Rentenverfügung gerichtete Einsprache zufolge
Gegenstandslosigkeit als erledigt ab (Einspracheentscheid vom 8. April
2004). Mit Einspracheentscheid vom 13. April 2004 wies die IV-Stelle sodann
die gegen die Wiedererwägungsverfügung erhobene Einsprache ab.

  B.- Das Obergericht des Kantons Schaffhausen hiess die (sinngemäss) gegen
beide Einspracheentscheide erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 15. April
2005 insoweit gut, als es die angefochtenen Einspracheentscheide und die
Wiedererwägungsverfügung vom

27. Januar 2004 aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit
diese S. "bei einer allfällig in Aussicht stehenden Aufhebung der mit
Verfügung vom 11. November 2003 zugesprochenen IV-Rente die Möglichkeit zum
Rückzug der Einsprache vom 11. Dezember 2003 gibt" (Dispositiv-Ziffer 1 mit
Verweisung auf die Urteilserwägungen).

  C.- Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.

  S. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das
kantonale Gericht hat, ohne einen formellen Antrag zu formulieren, eine
Stellungnahme eingereicht, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf
eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

  1.  Gemäss Art. 52 Abs. 1 ATSG kann gegen Verfügungen innerhalb von 30
Tagen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden; davon
ausgenommen sind prozess- und verfahrensleitende Verfügungen. Laut Art. 12
Abs. 1 ATSV ist der Versicherer an das Begehren der Einsprache führenden
Person nicht gebunden; er kann die Verfügung zu Gunsten oder zu Ungunsten
der Einsprache führenden Partei abändern. Beabsichtigt er, die Verfügung zu
Ungunsten der Einsprache führenden Person abzuändern, gibt er ihr
Gelegenheit zum Rückzug der Einsprache (Abs. 2 der genannten
Verordnungsbestimmung). Mit diesen Ausführungsbestimmungen hat der Bundesrat
die nach Art. 61 lit. d ATSG im Beschwerdeverfahren vor dem kantonalen
Versicherungsgericht geltenden Grundsätze auch auf das Einspracheverfahren
des jeweils verfügenden Versicherers übertragen. Die nunmehr in Art. 12 Abs.
2 ATSV festgelegte erweiterte Hinweispflicht, wonach der Versicherungsträger
die Einsprache führende Person nicht nur auf die drohende Schlechterstellung
(reformatio in peius), sondern auch auf die Möglichkeit eines Rückzugs ihrer
Einsprache aufmerksam machen muss, galt in den Sozialversicherungsbereichen,
welche ein Einspracheverfahren kannten, rechtsprechungsgemäss als direkter
Ausfluss der verfassungsrechtlichen Garantie des rechtlichen Gehörs sowie
des Fairnessgebots nach Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 4 Abs. 1 aBV bereits vor
In-Kraft-Treten von ATSG und ATSV am 1. Januar 2003 (BGE 129 II 395 Erw.
4.4.3, 122 V 166, 118 V 182; RKUV 2000 Nr. U 371 S. 110 Erw. 4b/aa, 1998 Nr.
U 309 S. 460 oben). Diese doppelte

Aufklärungspflicht wäre ihrer Bedeutung entleert, würde man dem
Sozialversicherer gleichzeitig gestatten, seine mittels Einsprache
angefochtene Verfügung (ohne die erwähnten, der Sicherstellung eines fairen
Verfahrens dienenden Hinweise an den Einsprecher) durch Erlass einer
Wiedererwägungsverfügung im Sinne einer reformatio in peius aufzuheben oder
abzuändern und hernach die Einsprache unter Berufung auf die nicht mehr
existierende ursprüngliche Verfügung als gegenstandslos geworden
abzuschreiben.

Erwägung 2

  2.  Im hier zu beurteilenden Fall ist die IV-Stelle in unmittelbar hievor
beschriebener, Art. 12 Abs. 2 ATSV und den Anspruch des Beschwerdegegners
auf rechtliches Gehör verletzender Weise vorgegangen. Dies wurde vom
kantonalen Gericht mit dem angefochtenen Entscheid in zutreffender Weise
korrigiert.

  Der Klarheit halber ist beizufügen: Zieht der Versicherte seine Einsprache
zurück, bleibt es zumindest zunächst bei der mit der ursprünglichen
Rentenverfügung zugesprochenen Viertels-Invalidenrente ab 1. Oktober 2002.
Der IV-Stelle steht es indessen frei, im Anschluss an einen
Einspracherückzug auf die materiell richterlich unbeurteilt gebliebene
Verfügung zu Lasten des Versicherten zurückzukommen, allerdings nur nach
Massgabe der nunmehr in Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG verankerten
Rückkommenstitel (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen). In diesen Fällen
könnte der Eingriff in das Rentenverhältnis grundsätzlich nur mit Wirkung ex
nunc et pro futuro erfolgen (Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV).

Erwägung 3

  3.  (Gerichtskosten und Parteientschädigung)