Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 4



131 V 4

2. Auszug aus dem Urteil i.S. R. gegen Ausgleichskasse GastroSuisse und
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen

    H 319/03 vom 22. Oktober 2004

Regeste

    Art. 16 Abs. 2, Art. 52 AHVG; Art. 137 Abs. 2 OR: Vollstreckungsfrist
bei Schadenersatzforderungen.

    An der Rechtsprechung, wonach die Frist für die
Vollstreckungsverwirkung für Beiträge von Art. 16 Abs. 2 AHVG analog
auch für Forderungen nach Art. 52 AHVG gilt (ZAK 1991 S. 129 Erw. 2c),
kann nicht festgehalten werden; vielmehr ist die zehnjährige Frist von
Art. 137 Abs. 2 OR analog anwendbar. (Erw. 3)

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  Zu prüfen ist die Frage, ob die Vollstreckungsverwirkung für
Schadenersatzforderungen nach Art. 52 AHVG fünf oder zehn Jahre beträgt.

    3.1  Das AHVG regelt in Art. 16 Abs. 2 lediglich
die Vollstreckungsverwirkung der rechtskräftig festgesetzten
Beitragsforderungen. Für die Vollstreckungsverwirkung einer rechtskräftigen
Schadenersatzforderung nach Art. 52 AHVG ist nach der Rechtsprechung
Art. 16 Abs. 2 AHVG sinngemäss anwendbar (ZAK 1991 S. 129 Erw. 2c,
gestützt auf Urteil R. vom 14. April 1986, H 74/85; vgl. auch Urteil
K. vom 5. Februar 2003, H 183/01, sowie Urteil G. vom 27. Mai 2002, H
281/01). Diese Rechtsprechung wurde in der Lehre kritisiert: KNUS geht
bei der Frage der Vollstreckungsverwirkung der Schadenersatzverfügung von
einer echten Lücke aus und postuliert die analoge Anwendung von Art. 137
Abs. 2 OR. Einerseits entspreche die zehnjährige Frist am ehesten Sinn und
Zweck von Art. 52 AHVG; andererseits werde damit eine Vereinheitlichung
des Schadenersatzes in Privat- und AHV-Recht erreicht, nachdem auch
das mit Art. 52 AHVG verwandte Verantwortlichkeitsgesetz häufig auf
das Privatrecht Bezug nehme. Zudem setze die Schadenersatzpflicht
im Gegensatz zu den Beitrags- und Rückerstattungsforderungen ein
Verschulden voraus. Im Übrigen sei der Schadenersatz im Rahmen des
AHV-Rechts fremd und einzigartig, weshalb es sich rechtfertige, wie bei
einem anderen Ausnahmefall (Rückforderungsanspruch des Nichtversicherten
auf bezahlte Beiträge) die zehnjährige Frist anzuwenden (MARLIES KNUS,
Die Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers in der AHV, Diss. Zürich 1989,
S. 71 ff.). NUSSBAUMER kritisiert mit KNUS die Rechtsprechung zur analogen
Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AHVG (THOMAS NUSSBAUMER, Die Ausgleichskasse
als Partei im Schadenersatzprozess nach Art. 52 AHVG, in: ZAK 1991
S. 440). Die Vorinstanz hat unter Einbezug dieser Kritik sowie unter
Berücksichtigung der Umstände, dass das Verfahren nach Art. 52 AHVG sich
von jenem der Beitragsfestsetzung und des Beitragsbezugs unterscheidet
und auch keine Abgabestreitigkeit im Sinne von Art. 114 OG darstellt,
auf eine zehnjährige Vollstreckungsverwirkungsfrist erkannt.

    Nach dem Gesagten ist die Beibehaltung der Rechtsprechung zur analogen
Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AHVG zu überprüfen.

    3.2  Im nicht publizierten Urteil R. vom 14. April 1986, mit
welchem die analoge Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AHVG auch für die
Vollstreckungsverwirkung bei Schadenersatzforderungen für anwendbar
erklärt wurde (bestätigt in ZAK 1991 S. 129 Erw. 2c), stützte sich das
Gericht auf die ebenfalls analoge Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AHVG
bei Rückerstattungsforderungen (BGE 105 V 81 Erw. 2c) und führte aus,
die Herbeiziehung von Art. 16 Abs. 2 AHVG bei Schadenersatzforderungen
sei umso gerechtfertigter, als es sich beim Schadenersatz um entgangene
Beiträge handle; den Einwand des Bundesamtes für Sozialversicherung
(BSV), beim Schadenersatz gehe es oft um hohe Summen, weshalb
den Verantwortlichen längere Fristen zuzugestehen seien, wies das
Gericht ab, weil auch Rückerstattungsforderungen hohe Beträge zum
Gegenstand haben könnten. Nachdem in erster Linie der Umstand, dass
der Schadenersatzforderung Beitragsverluste zugrunde liegen, für die
analoge Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AHVG spricht (vgl. NUSSBAUMER,
aaO, S. 440) und das Eidgenössische Versicherungsgericht in konstanter
Praxis den Unterschied von Schadenersatz- und Beitragsforderung betont
hat (BGE 126 V 449 Erw. 4c mit Hinweisen), erscheint die Rechtsprechung
in ZAK 1991 S. 129 Erw. 2c nicht folgerichtig und es kann an ihr nicht
weiter festgehalten werden. Daran ändert auch BGE 129 V 345 nichts:
In jenem Fall waren Verzugszinsen streitig; diese sind akzessorisch
zu den Beiträgen und damit untrennbar mit diesen verbunden, was auf
eine Schadenersatzforderung gerade nicht zutrifft. Mit der Vorinstanz
ist zudem darauf hinzuweisen, dass das Verfahren zur Geltendmachung des
Schadenersatzes sich wesentlich vom Beitragsverfahren unterscheidet (AHI
1996 S. 131 Erw. 2c mit Hinweisen); es stellt auch keine Abgabestreitigkeit
im Sinne von Art. 114 OG dar (BGE 119 V 392 Erw. 2b mit Hinweisen).

    3.3  Das seit 1. Januar 2003 in Kraft stehende Bundesgesetz über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000
(ATSG) sieht für die vorliegende Fragestellung keine Lösung vor. Art. 24
ATSG (Erlöschen des Anspruchs) erfasst nur ausstehende, nicht jedoch
bereits rechtskräftig festgesetzte Leistungen und Beiträge (UELI KIESER,
ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil
des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, N 3
f. zu Art. 24). Art. 25 ATSG handelt hingegen von der Rückerstattung von
Leistungen und Beiträgen und bezieht sich somit auch nicht explizit auf
Schadenersatzforderungen. Bei Art. 78 ATSG (Verantwortlichkeit) hat der
Gesetzgeber dessen Anwendung im Verfahren nach Art. 52 AHVG ausgeschlossen
(vgl. Art. 52 Abs. 6 AHVG in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung
sowie KIESER, aaO, N 16 zu Art. 78). Art. 52 Abs. 3 AHVG in der seit
1. Januar 2003 geltenden Fassung behandelt lediglich die Festsetzungs-,
nicht jedoch die Vollstreckungsfrist, wobei der Gesetzgeber diese Fristen
neu als Verjährungs- und nicht mehr als Verwirkungsfristen behandelt
wissen will (vgl. BBl 1994 V 983 f.).

    Auch aus der gescheiterten 11. AHV-Revision ergeben sich keine neuen
Anhaltspunkte: Art. 16 Abs. 2 AHVG sollte dahin gehend ergänzt werden,
dass Art. 149a Abs. 1 SchKG (Verjährung des Verlustscheins) nicht anwendbar
sei, und die vorgesehene Fassung von Art. 52 Abs. 3 AHVG äusserte sich
ebenfalls nur zur Festsetzungs- nicht jedoch zur Vollstreckungsfrist.

    Somit lässt sich weder aus der Einführung des vorliegend nicht
direkt anwendbaren Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen) noch aus der
Neuformulierung des Art. 52 AHVG etwas zur Beantwortung der Frage gewinnen.

    3.4  Nebst der analogen Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AHVG bietet sich
einzig diejenige der allgemeinen Verjährungsfrist von Art. 137 Abs. 2
OR an, welche bei Anerkennung der Forderung durch Ausstellung einer
Urkunde oder Feststellung der Schuld durch ein richterliches Urteil eine
zehnjährige Frist vorsieht. Die Anwendung dieser längeren Frist entspricht
denn auch Sinn und Zweck von Art. 52 AHVG, da Schadenersatzforderungen
oft fünf- oder sechsstellige Summen ausmachen und deshalb häufig nicht
innert einer fünfjährigen Frist abbezahlt werden können, sodass die
Ausgleichskassen wiederum eines Teils ihrer Ansprüche verlustig gehen
und der Zweck der Schadloshaltung demnach nur teilweise erreicht wird
(vgl. hiezu bereits die Bedenken des BSV im Urteil R. vom 14. April
1986, H 74/85, sowie KNUS, aaO, S. 72). Andererseits besteht aus Sicht
der Rechtssicherheit kein Bedürfnis an einer kurzen Frist, weil die
Verhältnisse nach der rechtskräftigen Festsetzung des Schadenersatzes
(Verwaltungsverfügung oder richterliches Urteil) klar sind, der geschuldete
Betrag feststeht und es keine Beweisschwierigkeiten wegen Zeitablaufs
mehr zu gewärtigen gibt. In diesem Zusammenhang ist auch auf die neuere
Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts hinzuweisen,
wonach die Vollstreckung einer rechtskräftig festgesetzten Witwenabfindung
(BGE 127 V 209) respektive rechtskräftig zugesprochener Leistungen der
Invalidenversicherung (SVR 2002 IV Nr. 15 S. 47) einer zehnjährigen Frist
unterliegt. Im Übrigen stellt jede kürzere als die zehn Jahre dauernde
Frist eine Privilegierung des Schadenersatzschuldners dar; denn es ist
nicht nachvollziehbar, weshalb dieser aus Verschulden Haftende für den
von ihm verursachten Schaden nicht ebenso lange soll belangt werden können
wie für jede andere Forderung (vgl. Art. 137 Abs. 2 OR).