Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 349



Urteilskopf

131 V 349

  47. Auszug aus dem Urteil i.S. PROVITA Gesundheits- versicherung AG gegen
O. und Versicherungs- gericht des Kantons Aargau
  K 100/04 vom 21. September 2005

Regeste

  Art. 32 Abs. 1, Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG; Art. 34, 64 ff. KVV; Art. 32,
33 KLV: Kostenübernahme für ein ohne Limitierungen in der Spezialitätenliste
aufgeführtes Arzneimittel, welches in einer höheren als der von Swissmedic
zugelassenen Dosierung abgegeben wird.

  Die medizinische Indikation und die Dosierung eines Medikamentes stehen
zulassungsrechtlich und damit auch für die Aufnahme in die
Spezialitätenliste in einem untrennbaren, engen Sachzusammenhang. Die
Verwendung des Medikamentes bei von Swissmedic nicht genehmigten
medizinischen Indikationen und/oder in darüber hinausgehenden Dosierungen
vermag, von Ausnahmen abgesehen, keine Vergütungspflicht der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung zu begründen. (Erw. 1-3)

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 349

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.  Streitig und zu prüfen ist, inwieweit aus der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung heraus Anspruch auf Vergütung der Kosten der
Behandlung mit dem Medikament Imigran besteht. Dabei ist zu

Recht allseits unstrittig, dass Imigran in der hier applizierten
Verabreichungsform (Ampullen à 6 mg) als Migränemittel in der
Spezialitätenliste (SL) aufgeführt ist und der entsprechende Eintrag nicht
mit einer Limitierung versehen ist (Spezialitätenliste, Stand 1. Juli 2003,
S. 142). Der Rechtsstreit dreht sich daher im Wesentlichen um die Frage, ob
bei Fehlen einer der Wirtschaftlichkeitskontrolle dienenden mengenmässigen
Limitierung gemäss Art. 73 KVV (RKUV 2001 Nr. KV 158 S. 158 Erw. 2d mit
Hinweis auf GEBHARD Eugster, Krankenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, S. 101 FN 436) mit der
Vorinstanz und der Beschwerdegegnerin angenommen werden kann, dass Anspruch
auf Vergütung der Kosten im Rahmen der vom behandelnden Arzt verschriebenen
Dosierung (von bis zu 12 Injektionslösungen täglich) besteht, oder ob, so
der Rechtsstandpunkt der Beschwerdeführerin und des Bundesamtes für
Gesundheit (BAG), die vom Hersteller empfohlene und von Swissmedic
genehmigte maximale Dosierung von zwei Injektionslösungen pro Tag einer
weiter gehenden gesetzlichen Vergütungspflicht entgegensteht.

  1.1  Im Arzneimittelkompendium der Schweiz 2005, S. 1413 finden sich unter
dem Stichwort "Imigran" u.a. folgende Einträge:

   "...

    Indikationen/Anwendungsmöglichkeiten

    Zur akuten Behandlung von Migräneanfällen mit oder ohne Aura.
Die
    Injektionslösung ist auch zur akuten Behandlung von Cluster Headache
    (Graupelkopfweh) indiziert.
Imigran darf nicht zur Prophylaxe von
    Migräne und Cluster Headache verwendet werden.

    Dosierung/Anwendung

    ...

    Injektionslösung

    Empfohlen wird eine Injektion zu 6 mg. Falls der Patient auf die erste
    Dosis angesprochen hat, die Symptome jedoch wieder auftreten, kann
    innerhalb der nächsten 24 Stunden eine weitere Injektion zu 6 mg
    verabreicht werden, vorausgesetzt, dass mindestens 1 Stunde seit der 1.
    Injektion verstrichen ist. Die Maximaldosis für 24 Stunden beträgt 2
    Injektionen (12 mg).

    Zusätzlich zu den beiden Injektionen sollen innerhalb dieser 24 Stunden
    keine anderen Darreichungsformen von Imigran verwendet werden. Hingegen
    ist es möglich, die zweite Injektion einmalig durch eine andere
    Darreichungsform (Filmtabletten, Nasal Spray, Suppositorien) in der
    jeweilig empfohlenen Dosierung zu ersetzen. ..."

Erwägung 2

  2.

  2.1  Gemäss Art. 24 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG sind
ärztlich verordnete Arzneimittel nach Massgabe der in Art. 32-34 KVG
festgelegten Voraussetzungen zu vergüten.

  2.2  Die gesetzliche Ordnung (Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG; Art. 34 und 64
ff. KVV; Art. 30 ff. KLV) schliesst die Übernahme der Kosten von nicht auf
der - abschliessenden und verbindlichen - Spezialitätenliste aufgeführten
Arzneimitteln durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung
rechtsprechungsgemäss grundsätzlich aus (RKUV 2003 Nr. KV 260 S. 299 mit
Hinweisen).

  2.3  In BGE 130 V 532 hatte das Gericht darüber zu befinden, ob die Kosten
für ein in der Spezialitätenliste aufgeführtes Arzneimittel (auch) zu
übernehmen sind, wenn das Medikament für eine Indikation abgegeben wird, für
welche es keine Zulassung besitzt (so genannter off-label-use). Es verneinte
dies dem Grundsatze nach aus der Erwägung heraus, dass gestützt auf den der
Aufnahme in die Spezialitätenliste vorangehenden Zulassungsentscheid nach
dem Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte vom 15. Dezember 2000
(Heilmittelgesetz, HMG, AS 2001 2790 ff.) samt dazugehörigen
Ausführungserlassen einzig dort geprüfte und als zulässig qualifizierte
medizinische Indikationen/Anwendungsmöglichkeiten
krankenversicherungsrechtlich als vergütungsfähig in Betracht fallen
(zitiertes Urteil, Erw. 3.2 und 3.3). Davon kann ausnahmsweise abgewichen
werden, wenn ein so genannter Behandlungskomplex vorliegt oder wenn für eine
Krankheit, die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder schwere und
chronische gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann, wegen fehlender
therapeutischer Alternativen keine andere wirksame Behandlungsmethode
verfügbar ist; diesfalls muss das Arzneimittel einen hohen therapeutischen
Nutzen haben (zitiertes Urteil, Erw. 6 mit Hinweisen).

Erwägung 3

  3.

  3.1  Der hier zu beurteilende Fall unterscheidet sich von dem BGE 130 V
532 zu Grunde liegenden Sachverhalt darin, dass nicht die Vergütung einer
durch Swissmedic nicht geprüften und folglich nicht als zulässig erachteten
therapeutischen Indikation im Streite steht, sondern die Übernahme der
Kosten, welche daraus resultieren, dass die vom Hersteller empfohlene und
durch Swissmedic genehmigte Dosierung überschritten wird. Nach BGE 130 V 532
ergibt sich aus der gesetzlichen Ordnung der Aufnahme in die
Spezialitätenliste,

dass das vorangehende, mit einem positiven Entscheid abgeschlossene
heilmittelrechtliche Zulassungsverfahren insofern bedeutsam ist, als es für
die Prüfung der Wirksamkeit, der Zweckmässigkeit und der Wirtschaftlichkeit
eines Arzneimittels durch die krankenversicherungsrechtlichen Organe (BAG,
Eidgenössische Arzneimittelkommission) den Prüfungsrahmen absteckt. Dies
gilt nun aber nicht bloss mit Bezug auf die im zitierten Urteil strittige
medizinische Indikation, sondern auch für die damit zusammenhängende Frage
der Dosierung eines Medikamentes. Die konkrete medizinische Indikation und
die dabei angewandte Dosierung stehen zulassungsrechtlich und damit auch für
die Aufnahme in die Spezialitätenliste in einem untrennbaren, engen
Sachzusammenhang (vgl. dahin gehend bereits BGE 130 V 539 f. Erw. 3.3.2
sowie 541 Erw. 5.1). Indem das BAG für die Beurteilung der Wirksamkeit und
Zweckmässigkeit eines Arzneimittels sich auf die Unterlagen abstützt, die
für die Zulassung durch Swissmedic massgebend waren (Art. 32 und 33 KLV),
stellt es denn auch nicht bloss für die medizinische Indikation, sondern
auch hinsichtlich der dabei angewandten Dosierung auf die Ergebnisse des
heilmittelrechtlichen Zulassungsverfahrens ab. Dieses sieht mit Blick auf
die hier vorrangige Frage der Dosierung u.a. in Art. 11 Abs. 1 lit. f HMG
vor, dass das Zulassungsgesuch Angaben und Unterlagen enthalten muss über
die Kennzeichnung, die Arzneimittelinformation und die Abgabe- und die
Anwendungsart. Nach Art. 5 Abs. 1 lit. b der Verordnung des Schweizerischen
Heilmittelinstituts über die Anforderungen an die Zulassung von
Arzneimitteln vom 9. November 2001 (Arzneimittel-Zulassungsverordnung, AMZV,
AS 2001 3437 ff.) hat die Dokumentation über die klinischen Prüfungen u.a.
insbesondere die prophylaktische oder die therapeutische Wirkung, die
klinische Verträglichkeit, den Wirkungscharakter sowie die unerwünschten
Arzneimittelwirkungen des Humanarzneimittels zu belegen. Laut Art. 3 des
Anhangs 4 zur AMZV ("Anforderungen an die Information für die
Medizinalpersonen und den Arzneimittel-Fachhandel ["Fachinformation"])
schliesslich hat die entsprechende Fachinformation insgesamt 20
Anforderungen zu genügen, wobei sie sich gemäss Ziff. 4 zu den
Indikationen/Anwendungsmöglichkeiten und laut Ziff. 5 zur
Dosierung/Anwendung auszusprechen hat.

  3.2  Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die medizinische Indikation
und die Dosierung eines Medikamentes wegen ihres untrennbaren,

engen Sachzusammenhanges leistungsrechtlich gleich zu behandeln sind. Es
handelt sich nach dem in BGE 130 V 532  dargelegten System der Aufnahme in
die Spezialitätenliste da wie dort um einen so genannten "off-label-use",
der, von Ausnahmen abgesehen (vgl. Erw. 2.3 in fine), keine
Vergütungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu begründen
vermag.