Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 191



131 V 191

27. Urteil i.S. Assura, Kranken- und Unfallversicherung gegen
Erbengemeinschaft O., bestehend aus: 1. J. und 2. R., und
Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg

    K 79/04 vom 18. April 2005

Regeste

    Art. 42 Abs. 1 und 2, Art. 89 Abs. 1 und 3 KVG: Zuständigkeit des
Schiedsgerichts.

    Fehlt es an der Zuständigkeit des Schiedsgerichtes nach Art. 89
Abs. 1 KVG, weil keine Streitigkeit zwischen Versicherer und
Leistungserbringer vorliegt, bleibt im Streit zwischen versicherter
Person und Leistungserbinger auch kein Raum für eine Vertretung durch
den Versicherer nach Art. 89 Abs. 3 KVG (Erw. 4).

    Auslegung des Begriffs des "Tiers garant" (Art. 42 Abs. 1 und Art. 89
Abs. 3 KVG). Das Gesetz bietet keinen Interpretationsspielraum etwa in
dem Sinne, dass dieselbe Leistung nebeneinander sowohl nach dem System
des Tiers payant wie auch des Tiers garant (teil-)vergütet werden kann
(Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- O. war seit 1. Januar 2001 bis zu ihrem Tod am 10. Oktober
2002 bei der Assura, Kranken- und Unfallversicherung (nachfolgend:
Assura), obligatorisch krankenpflegeversichert. Während dieser Zeit
hielt sich die zuvor im Kanton Freiburg Wohnende im Alters- und
Pflegeheim P. (nachfolgend: Pflegeheim) im Kanton Bern auf. Sie war
dort der Pflegebedarfsstufe 4 zugeteilt. Das Heim stellte der Assura für
Pflegeleistungen täglich Fr. 68.- im Jahr 2001 und Fr. 70.- im Jahr 2002 in
Rechnung. O. stellte es unter den Positionen Grundtarif und Pflegeleistung
jeweils ebenfalls Rechnung. Dabei zog es die Leistungen der Krankenkasse
ab. Die Hinterbliebenen sahen in einer solchen Inrechnungstellung der
Pflegekosten einen Verstoss gegen das Krankenversicherungsgesetz. Die
Erbengemeinschaft O. (nachfolgend: Erbengemeinschaft) gelangte an die
Assura und forderte sie auf, im Leistungsstreit gegen das Pflegeheim
die Vertretung vor dem kantonalen Schiedsgericht gemäss Art. 89 KVG zu
übernehmen. Mit Verfügung vom 18. Februar 2003 lehnte die Assura das
Begehren ab und bestätigte dies mit Einspracheentscheid vom 16. Mai 2003.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Freiburg mit Entscheid vom 22. April 2004 gut. Es verpflichtete
die Assura, die Erbengemeinschaft vor dem Schiedsgericht zu vertreten.

    C.- Die Assura führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die
Aufhebung des kantonalen Entscheides.

    Die Erbengemeinschaft und das Bundesamt für Gesundheit schliessen
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.  (Eingeschränkte Kognition; vgl. BGE 130 V 480 f. Erw. 2, 561
Erw. 1)

Erwägung 2

    2.  Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin die
Beschwerdegegnerin vor dem kantonalen Schiedsgericht im Streit gegen
das Pflegeheim zu vertreten hat. Dazu bedarf es nach Art. 89 KVG im
Wesentlichen zweier Voraussetzungen: Es muss sich bei der zu beurteilenden
Streitigkeit um eine solche zwischen Versicherer und Leistungserbringer
handeln (Abs. 1) und für den Vertretungsanspruch der versicherten Person
ist zusätzlich erforderlich, dass sie dem Leistungserbringer direkt die
Vergütung schuldet (Abs. 3). Dazu wird ausdrücklich auf das in Art. 42
Abs. 1 KVG geregelte System des Tiers garant verwiesen.

    Die Bestimmung über die Zuständigkeit des Schiedsgerichts geht als
lex specialis derjenigen über das kantonale Versicherungsgericht vor
(BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b; KIESER, ATSG-Kommentar,
Rz 7 zu Art. 57; EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 415; MAURER, Das neue
Krankenversicherungsrecht, S. 172; vgl. zum alten Recht BGE 121 V 314 Erw.
2b, 116 V 128 Erw. 2c mit Hinweis). Gesetz (KVG) und Verordnung (KVV)
umschreiben nicht näher, was unter Streitigkeiten im Sinne von Art. 89 Abs.
1 KVG zu verstehen ist. Nach Rechtsprechung (RKUV 2001 Nr. KV 166 S. 243
Erw. 3b/aa mit Hinweis) und Lehre (KIESER, aaO, Rz 7 zu Art. 57; EUGSTER,
aaO, Rz 413; MAURER, aaO, S. 172) setzt die sachliche Zuständigkeit
des Schiedsgerichts voraus, dass die Streitigkeit Rechtsbeziehungen
zum Gegenstand hat, die sich aus dem KVG ergeben oder auf Grund des KVG
eingegangen worden sind. Die Schiedsgerichte sind zur Beurteilung von
Streitigkeiten zwischen Versicherungsträgern und leistungserbringenden
Personen zuständig. Die Zuständigkeit des Schiedsgerichts bestimmt
sich danach, welche Parteien einander in Wirklichkeit gegenüberstehen
(RKUV 2004 Nr. KV 287 S. 301 Erw. 2.2). Der Streitgegenstand muss die
besondere Stellung der Versicherer oder Leistungserbringer im Rahmen des
KVG betreffen. Liegen der Streitigkeit keine solchen Rechtsbeziehungen
zu Grunde, ist sie nicht nach sozialversicherungsrechtlichen Kriterien
zu beurteilen, mit der Folge, dass nicht die Schiedsgerichte, sondern
allenfalls die Zivilgerichte zum Entscheid sachlich zuständig sind (BGE 121
V 314 Erw. 2b). Als Streitigkeiten im Rahmen des KVG fallen z.B. Honorar-
und Tariffragen in Betracht (RKUV 2004 Nr. KV 286 S. 295 Erw. 3 und 4).

Erwägung 3

    3.  Seitens der Erbengemeinschaft ist unbestritten, dass die
Beschwerdeführerin keinen höheren Beitrag zu leisten hatte als denjenigen,
den sie (im System des Tiers payant) direkt an das Pflegeheim bezahlte. Sie
macht aber geltend, dass das Heim der Versicherten nicht noch einen über
die beim Versicherer direkt eingeforderten Kosten hinausgehenden Beitrag
hätte fakturieren dürfen. Da diese den Mehrbetrag selber bezahlt habe,
bestehe nach Art. 89 Abs. 3 KVG ein Anspruch auf Vertretung vor dem
Schiedsgericht durch den Versicherer.

    Die Beschwerdeführerin hält sinngemäss dagegen, dass das
Schiedsgericht nach dem klaren Wortlaut von Art. 89 Abs. 1 KVG zuständig
sei zur Beurteilung von Streitigkeiten zwischen Versicherern und
Leistungserbringern. Eine solche liege nicht vor, weil die Versicherung die
ihr vom Pflegeheim gemäss Art. 9a Abs. 2 lit. d KLV in Rechnung gestellten
Pflegekosten der Bedarfsstufe 4 so wie dort vorgesehen übernommen habe.

    Die Vorinstanz hat als kantonales Versicherungsgericht gemäss Art. 57
ATSG erwogen, die Abrechnung der Pflegeheimkosten sei gemäss Vereinbarung
nach dem System des Tiers payant erfolgt. Es stelle sich damit die
Frage, ob ein Anrecht auf Vertretung nach Art. 89 Abs. 3 KVG überhaupt
bestehe, sei doch dort von einem solchen Anspruch der Versicherten
im System des Tiers garant die Rede. Da die von der Erbengemeinschaft
eingenommene Position nicht von vornherein als aussichtslos erscheine,
sei es am Schiedsgericht, die im Zusammenhang mit der behaupteten
Tarifschutzproblematik aufgeworfenen formell- und materiellrechtlichen
Fragen zu prüfen und zu beurteilen, weshalb es die Versicherung zur
Vertretung der Erbengemeinschaft vor dieser Instanz verpflichtete.

    Wie die Parteien geht auch das Bundesamt für Gesundheit in seiner
Vernehmlassung davon aus, dass das Pflegeheim gegenüber der Versicherten
im System des Tiers garant zusätzlich Rechnung gestellt habe, weshalb die
Erbengemeinschaft gestützt auf Art. 89 Abs. 3 KVG zwingend Anspruch darauf
habe, vor Schiedsgericht vertreten zu werden. Es liege in Tat und Wahrheit
eine Streitigkeit zwischen dem Pflegeheim und der Versicherung vor, da
sich die beiden uneinig seien, in welcher Höhe die an der Versicherten
erbrachten Pflegeleistungen in Rechnung zu stellen seien.

Erwägung 4

    4.  Der Interpretation des Bundesamtes, es liege eine Streitigkeit im
Sinne von Art. 89 Abs. 1 KVG zwischen Versicherer und Leistungserbringer
vor, ist nicht zu folgen. Hier haben die beiden Vertragsparteien im System
des Tiers payant die eingegangenen Verpflichtungen erfüllt. Wenn sie
dabei die Rechtslage unterschiedlich einschätzen, lässt sich daraus nicht
ableiten, sie stünden im Streit zueinander. Die Streitsache berührt das
Rechtsverhältnis zwischen Leistungserbringer und Versicherer nicht, denn
selbst wenn sich herausstellen sollte, dass das Pflegeheim der Versicherten
zu hohe Kosten in Rechnung gestellt hat, bliebe die Beschwerdeführerin nur
im Rahmen der bereits ausgerichteten Vergütungen kostenpflichtig. Es liegt
damit keine Streitigkeit zwischen Versicherer und Leistungserbringer vor,
was allein gemäss Art. 89 Abs. 1 KVG die Zuständigkeit eines kantonalen
Schiedsgerichtes überhaupt begründen könnte (vgl. oben Erw. 2). Fehlt
es an der Zuständigkeit des Schiedsgerichtes nach Art. 89 Abs. 1 KVG,
bleibt auch kein Raum für eine Vertretung nach Art. 89 Abs. 3 KVG. Der
kantonale Entscheid erweist sich in diesem Punkt als bundesrechtswidrig
und ist deshalb aufzuheben.

Erwägung 5

    5.  Im Übrigen bleibt festzuhalten, dass die Parteien und das Bundesamt
den in den Art. 42 Abs. 1 und 89 Abs. 3 KVG verwendeten Begriff des
"Tiers garant" nicht korrekt auslegen. Von einer Rechnungstellung nach
dem System des Tiers garant kann nicht schon dann die Rede sein, wenn
Leistungserbringer Versicherten direkt Rechnung stellen und diese damit
zu (Teil-)Honorarschuldnern machen. Unter dem "Tiers" ist der Versicherer
gemeint (MAURER, aaO, S. 77) und eine Rechnungstellung nach dem System des
Tiers garant bedeutet gemäss dem klaren Wortlaut von Art. 42 Abs. 1 KVG,
dass die Versicherten den Leistungserbringern die Vergütung der Leistung
schulden, weil Versicherer und Leistungserbringer nicht vereinbart haben,
dass der Versicherer diese im System des Tiers payant direkt schuldet. Die
Versicherten haben in diesem Fall gegenüber dem Versicherer einen Anspruch
auf Rückerstattung. Vorliegend haben Versicherer und Leistungserbringer
vereinbart, dass der Versicherer die Vergütung schuldet, weshalb man
sich im System des Tiers payant befunden hat (Art. 42 Abs. 2 KVG). Dabei
ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin dem Pflegeheim den in
Art. 9a Abs. 2 lit. d KLV vorgesehenen Höchstansatz des Rahmentarifs
für die Pflegebedarfsstufe 4 wie zwischen Versicherern und Pflegeheimen
vertraglich vereinbart direkt und voll vergütet hat. Das Gesetz bietet
keinen Interpretationsspielraum etwa in dem Sinne, dass dieselbe Leistung
nebeneinander sowohl nach dem System des Tiers payant wie auch des Tiers
garant eingefordert und (teil-)vergütet werden kann. Nach dem klaren
Wortlaut von Art. 89 Abs. 3 KVG hat der Versicherer die versicherte Person
nur dann vor Schiedsgericht zu vertreten, wenn diese im System des Tiers
garant die Vergütung schuldet. Dies ist dann nicht der Fall, wenn wie
vorliegend eine Direktvergütung durch den Versicherer vereinbart worden
ist. Die Vorinstanz erkannte diesen Widerspruch in der Argumentation
der Parteien ebenfalls, liess die Frage jedoch bewusst offen, um das
Schiedsgericht seine Zuständigkeit selber beurteilen zu lassen. Für diese
mangelt es jedoch bereits an den Voraussetzungen gemäss Art. 89 Abs. 1
KVG, weil keine Streitigkeit zwischen Versicherer und Leistungserbringer
zu beurteilen ist (vgl. oben Erw. 4).

Erwägung 6

    6.  (Kosten, Parteientschädigung)