Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 153



131 V 153

21. Auszug aus dem Urteil i.S. IV-Stelle des Kantons Zürich gegen
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, betreffend M.

    I 385/04 vom 29. März 2005

Regeste

    Art. 9 und 29 Abs. 3 BV; Art. 37 Abs. 4, Art. 52 Abs. 1, Art. 55 Abs. 1
und Art. 56 Abs. 1 ATSG; Art. 65 Abs. 5 VwVG in Verbindung mit Art. 12a
der Verordnung über Kosten und Entschädigungen im Verwaltungsverfahren
(VVKV) und Art. 2 Abs. 1 des Tarifs über die Entschädigungen an die
Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
(EVG-Tarif): Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsvertreters im
Sozialversicherungsverfahren.

    Unter der Herrschaft des ATSG bestimmt sich das Anwaltshonorar im
Verwaltungsverfahren der Invalidenversicherung nicht mehr nach kantonalem
Recht, sondern unter Anwendung von Art. 2 Abs. 1 EVG-Tarif; die Höhe
des Armenrechtshonorars ist daher nicht mehr nur im Hinblick auf das
Willkürverbot, sondern daraufhin zu überprüfen, ob die einschlägigen
bundesrechtlichen Vorschriften verletzt wurden oder ob die Verwaltung das
ihr durch die VVKV und den EVG-Tarif eingeräumte Ermessen rechtsfehlerhaft
ausgeübt hat und insofern eine Bundesrechtsverletzung vorliegt. (Erw. 3.1,
6.1 und 6.2)

    Die unterschiedliche kantonale Kostenstruktur bei Anwälten bzw. die
kantonale Anwaltsgebührenregelung bildet nicht Bemessungsfaktor
für die Entschädigungshöhe, weshalb ein gesamtschweizerischer
Stundenansatz, wie ihn das Bundesamt für Sozialversicherung in Rz 2058
des Kreisschreibens über die Rechtspflege in der AHV, der IV, der EO
und bei den EL festgelegt hat, grundsätzlich nicht rechtswidrig ist;
der in dieser Randziffer gewählte Stundenansatz von Fr. 160.- hingegen
ist zu niedrig; als im Ergebnis bundesrechtskonform bestätigt wird das
von der Vorinstanz zugesprochene Stundenhonorar von Fr. 200.- (zuzüglich
Mehrwertsteuer). (Erw. 6.2 und 7)

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.  Streitig ist die Bemessung der dem Beschwerdegegner zugesprochenen
Entschädigung als unentgeltlicher Rechtsvertreter im Einspracheverfahren
der Invalidenversicherung.

    Die bundesrechtliche Verfügungsgrundlage (Art. 5 VwVG in Verbindung
mit Art. 97 Abs. 1 und Art. 128 OG) ist gegeben. Im Streit um die Höhe des
Armenrechtshonorars kommt dem unentgeltlichen Rechtsbeistand Parteistellung
zu (BGE 110 V 363 Erw. 2; SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 5 Erw. 1; Urteil L. vom
22. September 2004 [I 322/04], Erw. 1; KIESER, ATSG-Kommentar, N 92 zu
Art. 61).

    Zu den prozess- und verfahrensleitenden Verfügungen, gegen welche
gemäss Art. 52 Abs. 1 ATSG keine Einsprache erhoben werden kann, gehören
auch die Verfügungen betreffend unentgeltliche Verbeiständung (KIESER,
aaO, N 18 zu Art. 52). Die Vorinstanz ist daher zu Recht auf die Beschwerde
gegen die Verfügung der IV-Stelle vom 10. Februar 2004 eingetreten.

Erwägung 2

    2.  (...)

Erwägung 3

    3.

    3.1  Gemäss Art. 37 Abs. 4 ATSG wird im Sozialversicherungsverfahren
der gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand
bewilligt, wo die Verhältnisse es erfordern. Damit besteht nun (vgl. die
Rechtsprechung vor dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen ATSG: BGE
125 V 409 Erw. 3b) eine bundesrechtliche Regelung des Armenrechts im
Verwaltungsverfahren (vgl. KIESER, aaO, N 22 zu Art. 37). Weil das ATSG
die Bemessung der Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes
nicht ordnet, ist das VwVG anwendbar (Art. 55 Abs. 1 ATSG). Grundlage
ist Art. 65 Abs. 5 VwVG in Verbindung mit Art. 12a der Verordnung über
Kosten und Entschädigungen im Verwaltungsverfahren (VVKV) und Art. 2
Abs. 1 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht vom 16. November
1992 (EVG-Tarif). Demnach ist das Anwaltshonorar ermessensweise nach der
Wichtigkeit der Streitsache, ihrer Schwierigkeit sowie dem Umfang der
Arbeitsleistung und dem Zeitaufwand des Anwalts innerhalb einer Bandbreite
von Fr. 500.- bis Fr. 7500.- zu bestimmen.

    3.2  Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) hat in Rz 2058 des
Kreisschreibens über die Rechtspflege in der AHV, der IV, der EO und bei
den EL (KSRP) das Honorar für Juristen vorbehältlich besonderer Umstände
auf Fr. 160.- pro Stunde festgesetzt. Hierauf stützte sich die IV-Stelle.

    Es fragt sich, wie Art. 2 Abs. 1 EVG-Tarif auszulegen ist und ob ein
gesamtschweizerisch geltender Stundenansatz gemäss Rz 2058 KSRP und dessen
Höhe gesetzmässig ist.

Erwägung 4

    4.  (...)

Erwägung 5

    5.

    5.1  Das kantonale Gericht hat erwogen, Rz 2058 KSRP orientiere
sich mit dem Stundenhonorar von Fr. 160.- offenbar an der Praxis des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts zur Entschädigung für unentgeltliche
Verbeiständung im kantonalen Gerichtsverfahren. Dass das BSV einen
landesweit einheitlichen Stundenansatz festsetze, erscheine vorerst unter
dem Aspekt der Verwaltungsvereinfachung nachvollziehbar. Allerdings liege
der Einheitstarif mit Fr. 160.- pro Stunde (zuzüglich 7,6 % Mehrwertsteuer:
Fr. 172.16) am unteren Rand der vom Eidgenössischen Versicherungsgericht
bestimmten Bandbreite von Fr. 160.- bis Fr. 320.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer). Dies erscheine insofern als problematisch, als die
Bandbreiten-Regelung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts mit dem
Zusatz "je nach der kantonalen Anwaltsgebühren-Regelung" versehen sei. Die
Vorgabe eines landesweiten Einheitstarifs auf vergleichsweise tiefem Niveau
verunmögliche es, dass kantonale Abweichungen nach oben berücksichtigt
würden. Die Bezugnahme des Eidgenössischen Versicherungsgerichts auf die
kantonale Anwaltsgebühren-Regelung sei sachlich nicht nur gerechtfertigt,
sondern im Hinblick auf die Ermittlung einer insgesamt angemessenen
Entschädigung unentbehrlich. Die kantonalen Unterschiede in den kantonalen
Gebührenordnungen und in den Entschädigungsansätzen der Gerichte im
Falle der unentgeltlichen Verbeiständung seien Ausdruck der regional
unterschiedlichen Kostenstruktur in der Advokatur. Wenn die Notwendigkeit
der unentgeltlichen Verbeiständung bejaht und der gerechtfertigte,
stundenmässig anrechenbare Aufwand festgesetzt werde, werde die
geleistete Arbeit nur dann angemessen entschädigt, wenn sich der angewandte
Stundentarif im regional gegebenen Rahmen bewege. Wenn ohne Rücksichtnahme
auf die regional unterschiedliche Kostenstruktur ein tiefer Einheitstarif
Anwendung finde, führe dies dazu, dass entweder bei gegebener Stundenzahl
die resultierende Entschädigung unangemessen tief ausfalle oder dass im
Hinblick auf eine resultatsmässig angemessene Entschädigung eine höhere
Stundenzahl als eigentlich gerechtfertigt berücksichtigt werden müsste. Ein
landesweit einheitlicher Stundenansatz bewirke somit eine übermässige
Schematisierung und verunmögliche eine Ermessensausübung, welche die
bundesrechtlich beachtlichen Kriterien ausgewogen berücksichtige. Der
Einheitstarif führe zu einer Ermessensunterschreitung, die darin bestehe,
dass die entscheidende Behörde sich als gebunden betrachte, obschon sie
nach Gesetz berechtigt wäre, nach Ermessen zu handeln, oder dazu, dass
sie auf Ermessensausübung ganz oder teilweise zum vornherein verzichte
(BGE 116 V 310 Erw. 2 mit Hinweisen). Demnach sei Rz 2058 KSRP insofern
mit dem massgebenden Recht nicht vereinbar, als damit ein landesweit
einheitlicher Stundenansatz vorgeschrieben werde.

    Bezogen auf den vorliegenden Fall legte das kantonale Gericht weiter
dar, die Anzahl der entschädigungsberechtigten Stunden stehe fest. Die
in diesen Stunden geleistete Arbeit unterscheide sich hinsichtlich
der fachlichen Voraussetzungen und der Kostenstruktur auf Seiten des
Anwalts durch nichts von der Arbeit, die im Falle der unentgeltlichen
Verbeiständung im kantonalen Gerichtsverfahren geleistet werde, und
auch nicht von der anwaltlichen Arbeit, wie sie im Falle des Obsiegens
durch die Gegenpartei zu honorieren sei. Es sei deshalb sachlich richtig,
im Kanton Zürich auf den Stundenansatz zurückzugreifen, der seit 1. April
2002 vom Obergericht des Kantons Zürich und vom hiesigen Gericht im Falle
der unentgeltlichen Verbeiständung - und vom hiesigen Gericht überdies
bei der Festsetzung von Prozessentschädigungen - verwendet werde. Es
seien dies Fr. 200.- pro Stunde zuzüglich Mehrwertsteuer.

    5.2  Die IV-Stelle wendet ein, an eine Einsprache würden in formeller
und materieller Hinsicht minimale Anforderungen gestellt (Art. 52 Abs. 1
ATSG). Werde die Verwaltung verpflichtet, für die diesbezüglichen
Aufwendungen der Anwälte den Gerichtstarif anzuwenden, schaffe dies
einen Anreiz für immer ausführlicher begründete Einsprachen, was nicht
der Sinn der nachträglichen verwaltungsinternen Verwaltungsrechtspflege
sei. Es dürfe auch nicht zu einer Bevorzugung gegenüber jenen Personen
kommen, die im Einspracheverfahren keinen Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung hätten. Zudem werde das Verwaltungsverfahren der
Invalidenversicherung einzig durch Bundesrecht normiert. Danach könne
die Verwaltung bei der Festsetzung der Entschädigung für unentgeltliche
Verbeiständung ihr Ermessen innerhalb einer Bandbreite von Fr. 500.- bis
höchstens Fr. 7500.- ausüben. Solange sich die Entschädigung in diesem
Rahmen halte sowie der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Streitsache,
dem Umfang der Arbeitsleistung und dem Zeitaufwand angemessen Rechnung
trage, sei sie nicht zu beanstanden. Für eine Konkretisierung der Tarife
mittels kantonaler Anwaltskosten-Regelung bestehe mithin kein Raum.

Erwägung 6

    6.

    6.1  Nach dem in Erw. 3.1 Gesagten ist für die Festsetzung des
Anwaltshonorars im Sozialversicherungsverfahren neu der bundesrechtliche
EVG-Tarif anwendbar. Demnach ist BGE 125 V 408 ff., wonach das
Armenrechtshonorar im Verwaltungsverfahren der IV nach kantonalem
Recht zu bestimmen war, mit dem ATSG (Art. 37 Abs. 4 in Verbindung
mit Art. 55 Abs. 1) überholt. Dies führt zu der noch in BGE 125 V 410
als unverständlich bezeichneten Konsequenz, dass bei der Bemessung des
Honorars im Sozialversicherungsverfahren Bundesrecht und im anschliessenden
kantonalen Gerichtsverfahren kantonales Recht gilt (Art. 61 ATSG).

    6.2  In SVR 2003 IV Nr. 32 S. 97 hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht Art. 2 Abs. 1 EVG-Tarif, der für das Verfahren
vor der Eidgenössischen Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland
wohnenden Personen ebenfalls gilt, ausgelegt und dargelegt, welche
Kriterien bei dessen Anwendung gelten. Diese Grundsätze sind für das
Sozialversicherungsverfahren analog massgebend.

    Danach ist die Höhe der Entschädigung nicht im Hinblick auf
das früher aus Art. 4 Abs. 1 aBV abgeleitete, nunmehr in Art. 9 BV
verankerte Willkürverbot zu überprüfen (vgl. BGE 125 V 408 Erw. 3a),
sondern daraufhin, ob bei der bundesrechtlich geregelten Festsetzung der
Höhe der Entschädigung die einschlägigen Vorschriften verletzt wurden
oder ob die Verwaltung das ihr durch die Kostenverordnung und den Tarif
eingeräumte Ermessen rechtsfehlerhaft, d.h. ermessensüberschreitend
oder -missbräuchlich ausgeübt und insofern eine Bundesrechtsverletzung
im Sinne von Art. 104 lit. a OG begangen hat (BGE 120 V 220 Erw. 4a;
SVR 2003 IV Nr. 32 S. 98 f. Erw. 5.2).

    Unter diesem Gesichtswinkel fragt es sich, ob das Kriterium des
regionalen Stundenansatzes, das im neu anwendbaren EVG-Tarif nicht
enthalten ist, berücksichtigt werden darf. Art. 2 Abs. 1 Ingress Satz 1
EVG-Tarif nennt die unterschiedliche kantonale Kostenstruktur bei Anwälten
bzw. die kantonale Anwaltsgebührenregelung nicht als Bemessungsfaktor
für die Höhe der Entschädigung. Ein solcher Faktor lässt sich auch nicht
den im EVG-Tarif genannten Kriterien (Wichtigkeit und Schwierigkeit der
Streitsache, Umfang der Arbeitsleistung und Zeitaufwand des Anwalts)
entnehmen. Auch unter dem Aspekt der mit dem ATSG angestrebten
Vereinfachung des Sozialversicherungsverfahrens geht ein landesweit
einheitlicher Stundenansatz in Ordnung. Unterschiedliche kantonale
Anwaltskostenstrukturen können demnach nicht mehr berücksichtigt
werden. Daraus folgt, dass ein gesamtschweizerischer Stundenansatz
grundsätzlich nicht rechtswidrig ist.

    Ein einheitlicher Stundenansatz wäre allerdings insofern unkorrekt,
als mit einem solchen der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Streitsache
sowie dem Umfang der Arbeitsleistung nicht Rechnung getragen werden
könnte. Rz 2058 KSRP sieht jedoch bei besonderen Umständen ein Abweichen
vom für Juristen bestimmten Stundenansatz vor. Den IV-Stellen steht
innerhalb der Bandbreite des EVG-Tarifs von Fr. 500.- bis Fr. 7500.-
ein Ermessensspielraum offen. Rz 2058 KSRP ist somit nicht zu beanstanden.

Erwägung 7

    7.  Zu prüfen bleibt die vom BSV auf Fr. 160.- fixierte Höhe des
Stundenansatzes.

    Nach der alten Ordnung, wonach das Armenrechtshonorar im
Verwaltungsverfahren der Invalidenversicherung nach kantonalem Recht zu
bestimmen war (BGE 125 V 408 ff.; Erw. 6.1 hievor), hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht das durchschnittliche Anwaltshonorar im Rahmen der
Willkürprüfung innerhalb einer Bandbreite von Fr. 160.- bis Fr. 320.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) festgesetzt (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 5 Erw.
3a; Urteil L. vom 22. September 2004 [I 322/04], Erw. 4.2).

    Unter diesem Aspekt ist der vom BSV auf dem tiefsten Niveau gewählte
Ansatz von generell Fr. 160.- nicht richtig. Er führt dazu, dass bei
gegebener Stundenzahl die Entschädigung unangemessen tief ausfällt oder
dass im Hinblick auf ein angemessenes Honorar eine höhere Stundenzahl
als gerechtfertigt berücksichtigt wird.

    Auch wenn die Vorinstanz bei der Bestimmung des Stundenhonorars die
kantonalzürcherische Kostenregelung beizog (Erw. 5.1 hievor) und sich
damit nicht auf die nunmehr korrekten Bemessungskriterien stützte, erweist
sich im Ergebnis der von ihr zugesprochene Stundenansatz von Fr. 200.-
(zuzüglich Mehrwertsteuer) nicht als rechtsfehlerhafte Ermessensbetätigung
und damit nicht als bundesrechtswidrig.