Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 120



131 V 120

17. Auszug aus dem Urteil i.S. IV-Stelle Bern gegen V. und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern

    I 439/03 vom 22. April 2005

Regeste

    Art. 28 Abs. 2 IVG und Art. 18 Abs. 2 UVG (je in der bis 31. Dezember
2002 gültig gewesenen Fassung); Art. 28 Abs. 2 IVG und Art. 18 Abs. 2 UVG
(je in Verbindung mit Art. 16 ATSG): Koordination der Invaliditätsbemessung
durch verschiedene Sozialversicherungsträger.

    Hat ein Sozialversicherungsträger den Invaliditätsgrad im
ausserordentlichen Bemessungsverfahren in vertretbarer Weise rechtskräftig
festgelegt, kann ein anderer Versicherer davon nicht unter Berufung
auf ein im Verfahren nach BGE 128 V 29 ermitteltes anderes Ergebnis
abweichen. (Erw. 3)

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1  Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) hat am 25.
September 2001 zunächst einen Betätigungsvergleich vorgenommen. Dabei
hat sie die Anteile der vom Versicherten versehenen Funktionen an der
Gesamttätigkeit prozentual festgelegt und anschliessend die jeweilige
Behinderung in den einzelnen Funktionen bestimmt. Diese Werte addiert
ergaben bezogen auf die Gesamttätigkeit eine Minderleistung von 50 %. In
der Annahme, dass sich diese 50 %ige Minderleistung erwerblich im selben
Ausmass auswirkt, setzte sie darauf den Invaliditätsgrad auf ebenfalls
50 % fest.

    3.2  Die Beschwerde führende IV-Stelle stellt sich auf den Standpunkt,
die von der SUVA ermittelte Invalidität beruhe auf einem von den Parteien
getroffenen Vergleich; weiter habe es die SUVA unterlassen, die mittels
Betätigungsvergleich eruierte leidensbedingte Behinderung im Hinblick
auf ihre erwerbliche Auswirkung zu gewichten. Damit lägen triftige Gründe
im Sinne der Rechtsprechung in BGE 126 V 293 f. Erw. 2d vor, die es ihr
ermöglichten, von der Invaliditätsbemessung der SUVA abzuweichen.

    Den von der SUVA vorgenommenen Betätigungsvergleich hat die IV-Stelle
in ihrem 'Abklärungsbericht für In- bzw. Teilhaber Aktiengesellschaften'
vom 21. Februar 2002 lediglich insofern ergänzt, als sie die einzelnen
Funktionen des Versicherten etwas präziser und ausführlicher umschrieb. Die
für die einzelnen Positionen eingesetzten prozentualen Werte hingegen
hat sie unverändert von der SUVA übernommen. Im Unterschied zum
Unfallversicherer hat sie die so ermittelte 50 %ige Minderleistung
resp. die verbliebene Leistungsfähigkeit anschliessend indessen
im Sinne einer erwerblichen Gewichtung unter Zuhilfenahme der vom
Bundesamt für Statistik gestützt auf die für das Jahr 2000 vorgenommene
Lohnstrukturerhebung (LSE 2000) erstellten Lohntabellen wirtschaftlich
zu bewerten versucht. Damit hat sie sich, zumindest vom Ansatzpunkt her,
zwar an das in BGE 128 V 29 für einen konkreten Anwendungsfall dargestellte
Vorgehen beim ausserordentlichen Invaliditätsbemessungsverfahren gehalten
(BGE 128 V 32 ff. Erw. 4). Eine genauere Kontrolle der im Einzelnen aus
der LSE 2000 abgelesenen Werte und der gestützt darauf durchgeführten
Berechnungen kann an dieser Stelle allerdings unterbleiben, sofern - wie
vom kantonalen Gericht und mit ihm auch vom Beschwerdegegner angenommen -
die Voraussetzungen für ein Abweichen von der Invaliditätsbemessung der
SUVA gar nicht gegeben sind.

    3.3

    3.3.1  Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kann daraus,
dass die SUVA den Betätigungsvergleich vom 25. September 2001 zusammen
mit dem Versicherten vorgenommen hat und dieser mit der ermittelten
50 %igen Einschränkung einverstanden war, nicht auf eine Einigung im
Sinne eines (aussergerichtlichen) Vergleichs geschlossen werden. Die
SUVA hat vielmehr die Invaliditätsbemessung in Anwendung der von ihr
als massgebend befundenen gesetzlichen Regelung und unter Beachtung der
dazu ergangenen Rechtsprechung durchgeführt. Wenn der Versicherte mit dem
daraus resultierenden Ergebnis einverstanden war, heisst dies keineswegs,
dass die Bestimmung des Invaliditätsgrades im Sinne von BGE 126 V 292
Erw. 2b vergleichsweise zustande gekommen wäre. Dafür, dass die SUVA ohne
das Einverständnis des Versicherten an dem ihrer Ansicht nach korrekt
ermittelten Invaliditätsgrad nicht festgehalten hätte, liegen jedenfalls
keine Anhaltspunkte vor.

    3.3.2  Der Beschwerdeführerin kann aber auch insoweit nicht
gefolgt werden, als sie geltend macht, die SUVA habe nicht die
richtige Invaliditätsbemessungsmethode gewählt, indem sie statt des
ausserordentlichen Verfahrens die lediglich bei Nichterwerbstätigen
in Betracht fallende spezifische Methode angewendet habe. Es trifft
zwar zu, dass von einer erwerblichen Gewichtung der anlässlich des
Betätigungsvergleichs vom 25. September 2001 ermittelten 50 %igen
Minderleistung in den Akten der SUVA nirgends die Rede ist. Es darf aber
davon ausgegangen werden, dass sich die SUVA der Notwendigkeit einer
solchen Gewichtung bewusst war und bei deren Vornahme zur Erkenntnis
gelangt ist, dass die leidensbedingte Beeinträchtigung und deren
erwerbliche Auswirkungen in ihrem Ausmass ungefähr deckungsgleich sind,
was im Rahmen der Ermittlung eines Invaliditätsgrades im ausserordentlichen
Bemessungsverfahren durchaus möglich ist. Dass die Invaliditätsbemessung
der SUVA einen gravierenden Mangel aufweisen würde, kann daher nicht
gesagt werden, zumal von einer detaillierten Prüfung der bereits in
Rechtskraft erwachsenen Rentenverfügung der Unfallversicherung erst
im invalidenversicherungsrechtlichen Rechtsmittelverfahren ohnehin
abzusehen ist. Kommt hinzu, dass auch der zuständige Sachbearbeiter der
Invalidenversicherung die heute streitige Invaliditätsbemessung erst auf
Insistieren der IV-Stelle vorgenommen hat, nachdem er am 17. Dezember 2001
noch zum Schluss gelangt ist, dass in diesem Fall eine Rentenanpassung
analog an die Invaliditätsbemessung der SUVA vorzunehmen sei, da diese
zahlreiche Untersuchungen, insbesondere in der Klinik E. durchgeführt
und einen aussagekräftigen Betätigungsvergleich durch ihren Inspektor
(Bericht vom 25. September 2001) veranlasst habe, worauf im Sinne eines
so genannten Prozentvergleichs für Erwerbstätige abgestellt werden könne;
weiter gehende Abklärungen würden sich erübrigen. Die IV-Stelle kann
im Übrigen keine hinreichend triftigen Argumente im Sinne von BGE
126 V 294 Erw. 2d anführen, weshalb es ihr versagt bleibt, von der
Invaliditätsbemessung der SUVA abzuweichen.

    3.3.3  Die Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
zur Koordination der Invaliditätsbemessung in der Invaliden- und in
der Unfallversicherung verfolgt das Ziel, unterschiedliche Festlegungen
des Invaliditätsgrades durch verschiedene Sozialversicherungsträger zu
vermeiden, was der Rechtssicherheit dient und damit sowohl im Interesse der
Versicherer als auch der betroffenen Bürger liegt. Um dies zu erreichen,
muss das Abweichen von bereits rechtskräftigen Invaliditätsbemessungen
anderer Versicherer die Ausnahme bleiben. Die Voraussetzungen dazu
sind daher einer strengen Prüfung zu unterziehen und dürfen nur mit der
gebotenen Zurückhaltung bejaht werden. Fällt - wie vorliegend - im Rahmen
der Invaliditätsbemessung der Beizug von Tabellenlöhnen wie jenen der
LSE in Betracht, hat der jeweils zuständige Sozialversicherer bei der
Auswahl der im konkreten Anwendungsfall in Frage kommenden Tabellenwerte
zahlreiche Einzelentscheide zu fällen, bei welchen er jeweils über einen
grossen Ermessensspielraum verfügt. Es liegt deshalb auf der Hand, dass
die von verschiedenen Versicherern gewonnenen Endresultate nicht immer
und zwangsläufig identisch ausfallen, sondern im Rahmen einer gewissen
Bandbreite divergieren können; dies insbesondere, wenn, wie vorliegend,
die Gesamttätigkeit in zahlreiche einzelne Funktionen, für welche
verschiedene hypothetische Lohnansätze in Frage kommen, aufzuteilen
ist. Solche Ergebnisse stellen denn auch nicht in dem Sinne exakte,
gesicherte Werte dar, dass sie von vornherein jeglicher Kritik entzogen und
einer Bemängelung nicht zugänglich wären. Es geht daher nicht an, einen vom
einen Sozialversicherungsträger im ausserordentlichen Bemessungsverfahren
in vertretbarer Weise ermittelten Invaliditätsgrad durch den von einem
andern Versicherer nach dem in BGE 128 V 29 dargelegten, an sich präziseren
und genaueren Vorgehen festgestellten zu ersetzen.

    Um dieser Konsequenz zu entgehen, hätte die IV-Stelle vorliegend
die Verfügung der SUVA vom 4. Februar 2002 anfechten können, womit eine
genauere gerichtliche Prüfung der Rentenverfügung des Unfallversicherers
möglich geworden wäre. Davon hat sie aber abgesehen, obschon sie - wie in
der der Vorinstanz eingereichten Beschwerdeschrift ausführlich dargelegt -
dazu hinreichend Gelegenheit gehabt hätte.