Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 I 442



Urteilskopf

131 I 442

  45. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S.
Studer und Mitb. gegen Gemeinderat der Stadt Bern, Regierungsstatthalterin
von Bern sowie Regierungsrat des Kantons Bern (Staatsrechtliche Beschwerde)
  1P.316/2005 vom 7. September 2005

Regeste

  Art. 34 Abs. 2 BV; Nachzählung des Ergebnisses der Gemeinderatswahl.

  Massgebliche Vorschriften zur Auszählung der Wahlzettel; Feststellung von
aussergewöhnlichen Regelwidrigkeiten (E. 2).

  Ermittlung und Nachzählung von Wahl- und Abstimmungsergebnissen im Lichte
von Art. 34 Abs. 2 BV (E. 3.1-3.7).

  In Anbetracht der festgestellten Unregelmässigkeiten bei der Auszählung
und des sehr knappen Wahlausgangs Anspruch auf Nachzählung bejaht (E. 3.8).

Sachverhalt

  Am 28. November 2004 fand in der Stadt Bern die im Proporzverfahren
durchgeführte Wahl des Gemeinderates (Exekutive) für die Amtsdauer 2005-2008
statt. Gemäss Protokoll der Stadtkanzlei erzielte die RotGrünMitte-Liste
aufgrund der Gesamtzahl der Listenstimmen drei Gemeinderatssitze. Auf dieser
Liste belegte Regula Rytz mit 20'606 Stimmen den dritten Rang; sie hatte 19
Stimmen mehr erhalten als Alec von Graffenried mit 20'587 Stimmen auf dem
vierten Rang. Demnach war Regula Rytz in den Gemeinderat gewählt, während
Alec von Graffenried ausschied.

  Der Gemeinderat nahm am 1. Dezember 2004 vom Bericht der Stadtkanzlei über
die Gemeinderatswahl Kenntnis und wies gleichzeitig das Begehren der Grünen
Freien Liste (GFL) um Nachzählung ab. Demnach galt Regula Rytz als in den
Gemeinderat gewählt.

  Bruno Studer und Mitbeteiligte sowie ein weiterer Stimmbürger führten in
der Folge bei der Regierungsstatthalterin von Bern Wahlbeschwerde bzw.
Gemeindebeschwerde und verlangten eine Nachzählung der Wahlzettel und eine
Auswertung einzelner Kategorien von Wahlzetteln. Die Regierungsstatthalterin
entzog der Beschwerde die aufschiebende Wirkung, führte eine Untersuchung
durch und wies die Beschwerden am 10. Januar 2005 ab. Sie hielt fest, dass
das Vorliegen einer geringen Stimmendifferenz für sich allein keinen
Anspruch auf Nachzählung einräume und keine Hinweise auf Unregelmässigkeiten
vorlägen.

  Die unterlegenen Stimmbürger fochten diesen Entscheid beim Regierungsrat
des Kantons Bern an und machten geltend, in Anbetracht notorischer
Zählfehler bestehe bei knappem Wahlausgang aufgrund von Art. 34 Abs. 2 BV
ein Anspruch auf Nachzählung. Nach Entzug der aufschiebenden Wirkung wies
der Regierungsrat die Beschwerden am 20. April 2005 ab. Er hielt fest, dass
ein knappes

Resultat für sich allein genommen keinen Anspruch auf eine Nachzählung
begründe. Gewisse - ausdrücklich festgehaltene und als schwerwiegend
bezeichnete - Mängel des Auszählungsverfahrens hätten sich auf das
Wahlresultat und insbesondere auf den Stimmenunterschied zwischen Regula
Rytz und Alec von Graffenried nicht ausgewirkt.

  Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates haben Bruno Studer und
Mitbeteiligte beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 34 BV erhoben. Sie machen im Wesentlichen geltend,
angesichts des knappen Wahlresultats und konkreter Anhaltspunkte für
fehlerhafte bzw. gesetzwidrige Auszählung einen Anspruch auf Nachzählung zu
haben.

  Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Der Regierungsrat hat im angefochtenen Entscheid in verschiedener
Hinsicht Unregelmässigkeiten im Zusammenhang mit der Auszählung der
Wahlzettel festgehalten. Er kam indessen zum Schluss, dass diese durch eine
Nachzählung nicht behoben werden könnten, und fügte an, dass sie sich auf
das umstrittene Wahlresultat nicht ausgewirkt hätten. Zusammenfassend hielt
er fest, dass für die Stadt Bern im Sinne einer Anpassung der Praxis an die
Rechtsgrundlagen Handlungsbedarf bestehe.

  2.1  Gemäss der in der Stadt Bern gehandhabten Praxis sind anlässlich der
Gemeinderatswahl die unveränderten Wahlzettel aus der brieflichen
Stimmabgabe nicht mit amtlicher Kennzeichnung (durch Stempelung oder
Stanzung) versehen worden. Demgegenüber sind die veränderten Wahlzettel aus
der brieflichen Stimmabgabe gestanzt worden.

  Die briefliche Stimmabgabe wird nach Art. 8 des städtischen Reglements
über die politischen Rechte (RPR; SSSB 141.1) unter den gleichen
Voraussetzungen und im gleichen Verfahren gestattet wie für kantonale
Abstimmungen und Wahlen. Art. 28 Abs. 3 der Verordnung des Regierungsrates
des Kantons Bern über die politischen Rechte (VPR/BE; BSG 141.112) schreibt
vor, dass die in den Antwortcouverts enthaltenen Wahlzettel abgestempelt und
in die Urne gelegt werden. In Art. 28 Abs. 5 VPR/BE wird vorgesehen, dass
der Regierungsstatthalter Gemeinden mit über 5'000 Stimmberechtigten
ermächtigen kann, an Stelle der Stempelung ein gleichwertiges

maschinelles Verfahren der amtlichen Kennzeichnung zu verwenden; dazu gehört
insbesondere die Stanzung. Schliesslich hält Art. 43 Abs. 1 lit. b RPR fest,
dass Wahlzettel ungültig sind, wenn sie nicht abgestempelt oder gestanzt
sind.

  2.2  Der Regierungsrat hielt in diesem Zusammenhang vorerst fest, dass das
Fehlen einer Stempelung oder Stanzung auf den unveränderten Wahlzetteln aus
brieflicher Stimmabgabe sehr aussergewöhnlich sei und gegen eine
grundlegende Bestimmung des städtischen Reglements über die politischen
Rechte verstosse. Diese Regelwidrigkeit lasse sich indessen durch die von
den Beschwerdeführern geforderte Nachzählung nicht beseitigen. Entscheidend
im vorliegenden Fall sei vielmehr, dass sich die Regelwidrigkeit nicht auf
das Wahlergebnis von Regula Rytz und Alec von Graffenried bzw. auf die sie
trennende Stimmendifferenz ausgewirkt habe. Denn beide hatten auf derselben
RotGrünMitte-Liste kandidiert, sodass die gleiche - wenn auch regelwidrige -
Behandlung der unveränderten Listen zu keiner Verfälschung des
Wahlergebnisses geführt habe.

  Weiter legte der Regierungsrat dar, dass die unterschiedliche Behandlung
der veränderten Wahlzettel einerseits, welche gestanzt wurden, und der
unveränderten Wahlzettel andererseits, welche nicht gestanzt wurden, sich
auf das Wahlergebnis ebenfalls nicht ausgewirkt habe. Bei der Verarbeitung
der brieflichen Stimmabgabe werden die Wahlzettel nach unveränderten,
veränderten, leeren und ungültigen sortiert. Insbesondere werden die
veränderten und die unveränderten Wahlzettel getrennt voneinander gezählt
bzw. gewogen. Demnach vermöge die Stanzung bzw. Nichtstanzung keine
Gewichtsveränderung und demnach keine Verfälschung des Wahlergebnisses zu
bewirken.

  Festgehalten wurde ferner, dass es an der nach Art. 28 Abs. 5 VPR/ BE
erforderlichen Bewilligung fehle, anstelle einer Stempelung der brieflich
abgegebenen Wahlzettel eine Stanzung vorzunehmen. Auch insofern vermöge eine
Nachzählung den Mangel nicht zu beheben. Entscheidend sei gesamthaft
betrachtet, dass mit der Stanzung eines Kreuzes das Erfordernis einer
amtlichen Kennzeichnung klar erfüllt sei. Auch in dieser Hinsicht sei ein
Einfluss auf das Wahlergebnis nicht ersichtlich.

  Schliesslich legte der Regierungsrat unter Hinweis auf die Anleitung für
die Ausmittlung der Gemeinderats- und Stadtratswahlen

und die getroffenen Abklärungen im Einzelnen dar, dass das Verfahren der
Auszählung der brieflich eingereichten Wahlzettel Gewähr für eine korrekte
Ermittlung des Wahlergebnisses biete. Die unveränderten Wahlzettel werden
nach Listen sortiert und die Bündel nochmals daraufhin kontrolliert, dass
sich nur unveränderte Listen darin befinden. Diese Bündel werden zwei Mal
gewogen und schliesslich listenweise verpackt, etikettiert, mit den Angaben
über Wahl, Zählkreis, Liste und brieflicher Stimmabgabe versehen und
anschliessend plombiert. Gesamthaft wird demnach die Ermittlung der
brieflich eingelegten Wahlzettel zentralisiert und unter doppelter Kontrolle
jedes Ausmittlungsschrittes durchgeführt.

  2.3  Die Beschwerdeführer stellen diese Ausführungen nicht grundsätzlich
in Frage. Insbesondere machen sie nicht geltend, dass sich das Fehlen einer
amtlichen Kennzeichnung der brieflich eingelegten unveränderten Wahlzettel
auf das Wahlergebnis hätte auswirken können. Ebenso wenig wird ausgeführt,
die fehlende Bewilligung für die Stanzung der Wahlzettel (anstelle der
Stempelung) hätte einen Einfluss auf das Resultat haben können. Schliesslich
bringen sie auch nicht vor, dass das Auszählverfahren, wie es in den
verschiedenen Bestimmungen allgemein geordnet und in der Anleitung für die
Ausmittlung der Gemeinderats- und Stadtratswahlen im Speziellen umschrieben
ist, im Grundsatz nicht hinreichend Gewähr für eine korrekte Ermittlung der
Wahlresultate zu bieten vermöge.

Erwägung 3

  3.  Die Beschwerdeführer machen zur Hauptsache geltend, in Anbetracht des
knappen Wahlresultats (von 19 Stimmen Unterschied zwischen Regula Rytz und
Alec von Graffenried bei rund 20'000 Kandidatenstimmen) sowie tatsächlicher
Unregelmässigkeiten und stets möglicher Fehler bei der Ermittlung des
Wahlresultats hätten sie aufgrund von Art. 34 BV einen Anspruch auf
Überprüfung des Resultats und Nachzählung der Wahlzettel. Der Regierungsrat
hat einen solchen Anspruch in Übereinstimmung mit dem Gemeinderat im
vorliegenden Fall verneint.

  3.1  Art. 34 Abs. 1 BV gewährleistet die politischen Rechte (auf Bundes-
sowie Kantons- und Gemeindeebene) in abstrakter Weise und ordnet die
wesentlichen Grundsätze der demokratischen Partizipation im Allgemeinen. Der
konkrete Gehalt der politischen Rechte mit ihren mannigfaltigen Teilgehalten
ergibt sich indessen in erster Linie aus dem spezifischen Organisationsrecht
des Bundes

bzw. der Kantone. Die Kantone ordnen gemäss Art. 39 Abs. 1 BV die
politischen Rechte für sich und die Gemeinden nach Massgabe von Art. 51 Abs.
1 BV in ihren Verfassungen und gesetzlichen Bestimmungen; im Rahmen der
kantonalen Gesetzgebung kommt den Gemeinden eine entsprechende
Regelungskompetenz zu (vgl. GEROLD STEINMANN, Die Gewährleistung der
politischen Rechte durch die neue Bundesverfassung [Artikel 34 BV], in: ZBJV
139/ 2003 S. 485). Darüber hinaus schützt Art. 34 Abs. 2 BV in
Übereinstimmung mit der bereits unter der alten Bundesverfassung anerkannten
Stimm- und Wahlfreiheit (vgl. BGE 121 I 138 E. 3 S. 141) die freie
Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe. Sie bedeutet, dass kein
Abstimmungs- oder Wahlergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen
der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Dazu
gehört u.a., dass Wahl- und Abstimmungsergebnisse sorgfältig und
ordnungsgemäss ermittelt werden (BGE 98 Ia 73 E. 4 S. 85; 104 Ia 428 E. 3a
S. 431; 121 I 138 E. 3 S. 142, mit Hinweisen), gegen Wahl- und
Abstimmungsergebnisse vorgebrachte Rügen - mit der allfälligen Folge einer
Nachzählung oder Aufhebung des Urnengangs - im Rahmen des einschlägigen
Verfahrensrechts geprüft werden (BGE 114 Ia 42) und ordnungsgemäss zustande
gekommene Wahl- oder Abstimmungsergebnisse tatsächlich anerkannt werden (BGE
112 Ia 208 E. 1b S. 211).

  3.2  Es ist in erster Linie eine Frage des kantonalen Rechts, unter
welchen Voraussetzungen Nachzählungen von Wahl- und Abstimmungsergebnissen
anzuordnen sind und ob der einzelne Stimmberechtigte eine Nachzählung
erwirken kann (vgl. BGE 98 Ia 73 E. 4 S. 84; 114 Ia 42). Im vorliegenden
Fall hat der Regierungsrat (wie vorher bereits die Regierungstatthalterin)
die Vorbringen der Beschwerdeführer hinsichtlich der Unregelmässigkeiten der
Ermittlung des Wahlresultats tatsächlich und eingehend geprüft, indessen
einen Anspruch der Beschwerdeführer auf Nachzählung aufgrund des
anzuwendenden städtischen Reglements über die politischen Rechte verneint.
Dieses enthält folgende Bestimmung:

    Art. 25 - Nachzählung

    Bestehen Zweifel an der Richtigkeit der ermittelten Resultate, so kann
    der Gemeinderat eine Nachzählung veranlassen.

  Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann die zuständige Behörde
auch ohne entsprechende gesetzliche Bestimmung von

Amtes wegen eine Nachkontrolle eines Wahl- oder Abstimmungsergebnisses
anordnen, falls es nach der gegebenen Sachlage als für die zuverlässige
Ermittlung geboten erscheint (BGE 101 Ia 238 E. 4a S. 245; 104 Ia 428 E. 3c
S. 432; ZBl 78/1977 S. 451, E. 2b, mit Hinweisen). Im Einzelnen mag es dem
Gebot politischer Klugheit entsprechen, bei gegebener Sachlage eine
Nachzählung vorzunehmen (BGE 98 Ia 73 E. 4 S. 85; vgl. ZBl 78/1977 S. 451
[Billigung des Ergebnisses einer Nachzählung]). Eine solche von Amtes wegen
angeordnete Nachzählung kann sich umso mehr rechtfertigen, wenn der Aufwand
verhältnismässig ist und sich dadurch keine wesentlichen Verzögerungen
ergeben (vgl. Urteil 1P.363/1994 vom 15. Dezember 1994, E. 3d). In diesem
Sinne hielt der Regierungsrat fest, dass der Gemeinderat in Ausübung von
Art. 25 RPR grundsätzlich von Amtes wegen eine Nachzählung anordnen könne,
dass Art. 25 RPR den Stimmberechtigten jedoch keinen Anspruch auf
Nachzählung einräume.

  Die Beschwerdeführer ziehen diese Auslegung des Reglements über die
politischen Rechte nicht in Zweifel und werfen dem Regierungsrat nicht vor,
gestützt auf Art. 25 RPR zu Unrecht einen Anspruch auf Nachzählung verneint
zu haben. Sie beziehen sich auch sonst wie nicht auf kantonales Recht (vgl.
Art. 44 VPR/BE). Einen entsprechenden Anspruch auf Nachzählung leiten sie
vielmehr direkt aus Art. 34 BV ab.

  3.3  Vorerst gilt es festzuhalten, dass im demokratischen
Entscheidfindungsprozess auch knappe Wahl- und Abstimmungsergebnisse
tatsächlich anzuerkennen sind und nicht wegen kleiner Stimmenunterschiede in
Frage gestellt werden sollen (vgl. BGE 112 Ia 208 E. 1b S. 211; 104 Ia 428
E. 3b S. 431 f.; ZBl 65/1964 S. 22). Grundlage hierfür ist indessen, dass
Wahl- und Abstimmungsergebnisse ordnungsgemäss zustande kommen und Wahl- und
Abstimmungszettel korrekt und regelkonform ausgezählt werden.

  Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung besteht - unter der
Voraussetzung einer zweckmässigen kantonalen Ordnung, welche Gewähr für eine
sorgfältige Ermittlung der Wahl- und Abstimmungsergebnisse bietet - eine
sich aus dem Bundesverfassungsrecht ergebende Verpflichtung zur Nachzählung
bloss in jenen knapp ausgegangenen Fällen, in denen der Bürger auf konkrete
Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Auszählung oder für ein gesetzwidriges
Verhalten der zuständigen Organe hinzuweisen vermag. Der

blosse Umstand eines knappen Wahl- oder Abstimmungsergebnisses begründet für
sich allein genommen keine Pflicht zur Nachzählung (BGE 98 Ia 73 E. 4 S. 85;
vgl. auch BGE 114 Ia 42 E. 4c S. 46). An dieser Rechtsprechung hat das
Bundesgericht seither festgehalten. In einem neuesten Entscheid wurde ein
Anspruch auf Nachzählung bei Vorliegen eines knappen Wahlresultats mangels
konkreter Hinweise auf fehlerhafte Auszählung oder gesetzwidriges Verhalten
unter Hinweis auf das Verfahren der Ermittlung der Ergebnisse verneint
(1P.369/2004 vom 13. Juni 2005).

  Schliesslich geht auch ein Entscheid des Bundesgerichts aus dem Jahre 1994
von diesen Grundlagen aus (1P.363/1994 vom 15. Dezember 1994). Er betraf das
äusserst knappe Wahlresultat im Wahlkreis La Sarraz (VD) zu einer
waadtländischen Grossratswahl, in der eine Partei in einer Proporzwahl einen
Sitz lediglich um zwei Stimmen verpasste. Die gegen die Verweigerung einer
Nachzählung erhobene staatsrechtliche Beschwerde wurde indes nicht allein
wegen des sehr knappen Wahlausgangs gutgeheissen. Entscheidend war vielmehr,
dass gegenüber den Rekurrenten an die nach kantonalem Recht erforderliche
Glaubhaftmachung von Unregelmässigkeiten - in Anbetracht des Umstandes, dass
das Resultat sehr knapp war und ein isolierter Auszählfehler von bereits
zwei Wahlzetteln oder die Gültigkeitsbeurteilung von zwei Wahlzetteln
ausschlaggebend sein konnte - allzu strenge Anforderungen gestellt worden
waren.

  Von der Nachzählung im eigentlichen Sinne ist schliesslich die
Wiederholung von Abstimmungen anlässlich von Landsgemeinden und
Gemeindeversammlungen zu unterscheiden (vgl. BGE 100 Ia 362; 104 Ia 428).
Dabei geht es nicht um die Nachprüfung eines an sich feststehenden
Abstimmungsergebnisses, sondern vielmehr um eine Wiederholung einer
Abstimmung, die angesichts unterschiedlichen Abstimmungsverhaltens anders
ausfallen kann. Von der Frage der Nachzählung ist ferner die Aufhebung von
Urnengängen bei festgestellten Unregelmässigkeiten zu trennen. Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung werden Wahl- und Abstimmungsergebnisse
lediglich aufgehoben, wenn die gerügten Unregelmässigkeiten erheblich sind
und das Ergebnis beeinflusst haben könnten (vgl. BGE 129 I 185 E. 8 S. 204;
121 I 1 E. 5b S. 12; ZBl 102/2001 S. 188, E. 4).

  3.4  Der Regierungsrat wies im angefochtenen Entscheid darauf hin, dass
die Rechtsprechung in andern Kantonen - vorbehältlich

spezifischer Rechtsgrundlagen - nach wie vor davon ausgehe, dass der blosse
Umstand knapper Ergebnisse keinen Anspruch auf Nachzählung einräumt (vgl.
auch die Hinweise bei BERNHARD MAAG, Urnenwahl von Behörden im Majorzsystem,
Diss. Zürich 2004, S. 67 Anm. 155). Diese Praxis verfolgt, soweit
ersichtlich, auch der Nationalrat bei Nationalratswahlen (vgl. AB 1975 N
1538-1540 betreffend den Kanton Aargau). Gleich verhalte es sich mit den
rechtlichen Grundlagen in andern Kantonen. Dem kann angefügt werden, dass
zwar eine Reihe von Kantonen eine Nachzählung bei knappem Ausgang
vorschreibt (vgl. etwa § 75 Abs. 3 des Gesetzes über die politischen Rechte
des Kantons Zürich; Art. 45 der Vollziehungsverordnung des Kantons Obwalden
zum Gesetz über die Ausübung der politischen Rechte; Art. 39 Abs. 4 des
Urnenabstimmungsgesetzes des Kantons St. Gallen); umgekehrt kennen andere
Kantone Bestimmungen, wonach lediglich nachzuzählen ist, wenn stichhaltige
Gründe und Zweifel am Ergebnis dies erfordern (vgl. Art. 44 Abs. 2 VPR/BE; §
79 des Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen des Kantons Basel-Stadt; § 14
des Gesetzes über die politischen Rechte des Kantons Basel-Landschaft; § 34
der Verordnung über die Wahl des Grossen Rates des Kantons Schaffhausen);
nach Art. 11 der eidgenössischen Verordnung über die politischen Rechte
(VPR; SR 161.11) zählt das kantonale Wahlbüro bei Nationalratswahlen
entweder selber nach oder ordnet eine Nachzählung durch das Gemeindewahlbüro
an, wenn Verdacht besteht, dass ein Gemeindeergebnis unrichtig ist.

  3.5  Die neuere Doktrin verlangt im Sinne der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung eine Nachzählung beim Vorliegen von Anzeichen von
Unregelmässigkeiten und knappen Ergebnissen und folgert aus dem genannten
Entscheid aus dem Jahre 1994, dass bei sehr knappen Ergebnissen auch ohne
konkrete Anzeichen von Unregelmässigkeiten nachzuzählen ist (vgl. RENÉ
RHINOW, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, Basel 2003, Rz.
1896; YVO HANGARTNER/ANDREAS KLEY, Die demokratischen Rechte in Bund und
Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000, Rz. 2561; JÖRG
P. MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl. 1999, S. 369; ETIENNE
GRISEL, Initiative et référendum populaires, 3. Aufl. 2004, Rz. 292; PIERRE
TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern 2004, §
52 Rz. 69; PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, L'expression fidèle et sûre de la volonté
du corps électoral, in: Thürer/Aubert/Müller [Hrsg.], Verfassungsrecht der

Schweiz, Zürich 2001, § 21 Rz. 39). Diese Autoren setzen sich zwar mit der
besondern prozessualen Situation des genannten Entscheides nicht näher
auseinander. Sie bringen aber im Hinblick auf die erforderliche
Glaubwürdigkeit von Wahl- und Abstimmungsresultaten zum Ausdruck, dass
Nachzählungen bei sehr knappen Ergebnissen angezeigt seien.

  In diesem Sinne äussern sich mit ausführlicherer Begründung insbesondere
STEPHAN WIDMER und BERNHARD MAAG. Ersterer hält dafür, das für jede
Demokratie unabdingbare Vertrauen in die Richtigkeit der Ergebnisermittlung
und die praktisch nicht vermeidbaren Auszählungsfehler sprächen bei knappen
Ergebnissen auch ohne konkrete Anzeichen von Unregelmässigkeiten für einen
Anspruch auf Nachzählung (STEPHAN WIDMER, Wahl- und Abstimmungsfreiheit,
Diss. Zürich 1989, S. 172 ff.). Letzterer geht davon aus, dass Wahl- und
Abstimmungsresultate keine arithmetisch exakte Grösse darstellten. Bei sehr
knappen Differenzen dürften nur sehr geringe Anforderungen an die
Glaubhaftmachung von Unregelmässigkeiten gestellt werden und könnten
einzelne Auszählfehler vermutet werden. Dies führe zur Bejahung eines
individuellen Anspruchs auf Nachzählung einzig wegen der Knappheit des
Resultats. Im Sinne eines Richtwertes nimmt er dies an, wenn der Abstand der
fraglichen Stimmenzahlen weniger als 1 o/oo beträgt (MAAG, a.a.O., S. 65
ff.).

  3.6  Es darf angenommen werden, dass bei der Ermittlung von Wahl- und
Abstimmungsergebnissen, seien sie knapp oder nicht, immer wieder Fehler
unterlaufen. Sie können darauf zurückgeführt werden, dass tatsächlich falsch
gezählt wird, dass Wahl- und Abstimmungszettel hinsichtlich Gültigkeit oder
Ungültigkeit falsch zugeordnet werden (vgl. ZBl 104/2003 S. 584) oder dass
einzelne, etwa nicht eindeutig klar geschriebene Namen bei Wahlen
unterschiedlich behandelt werden. Die Unsicherheiten mögen bei Abstimmungen
mit klarer Ja- bzw. Nein-Antwort kleiner sein als bei Proporzwahlen mit
Listen und der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens (vgl. BGE 98 Ia
73 E. 4 S. 86; Urteil 1P.363/ 1994 vom 15. Dezember 1994, E. 3d). So zeigt
sich denn auch, dass Nachzählungen kaum je zu demselben Resultat führen
(vgl. BGE 101 Ia 238; ZBl 78/1977 S. 451; zur Abstimmung über die neue
Verfassung des Kantons Graubünden die Hinweise bei MAAG, a.a.O., S. 65 Anm.
144). Solche Ungenauigkeiten werden in gewissem Ausmass in Kauf genommen,
sind bei Landsgemeinden und

Gemeindeversammlungen nicht zu vermeiden (vgl. BGE 121 I 138 E. 3 S. 142 mit
Hinweisen) und sollen durch strikte (und einfache) Regeln (vgl. BGE 105 Ia
237 E. 3b S.240) sowie durch die Beteiligung von politischen Kräften bei der
Auszählung (vgl. WIDMER, a.a.O., S. 168; JÖRG P. MÜLLER, a.a.O., S. 369 mit
Verweis auf Art. 25 UNO-Pakt II) beschränkt werden. Eine gewisse
Unsicherheit der Auszählung ist somit dem demokratischen Wahl- und
Abstimmungsverfahren inhärent und in gewissen Grenzen hinzunehmen. Eine
Grenze der Akzeptanz von Auszählungsunsicherheiten ist indessen erreicht,
wenn Unregelmässigkeiten festgestellt werden oder hierfür ernsthafte
Anzeichen bestehen und das Wahl- oder Abstimmungsergebnis sehr knapp
ausgefallen ist. Diesfalls kann nicht nur ein einzelnes Wahl- oder
Abstimmungsergebnis fragwürdig erscheinen, sondern besteht die Gefahr, dass
die Glaubwürdigkeit des demokratischen Entscheidungsverfahrens als solches
leidet. Es kann dem einzelnen Stimmberechtigten in seiner Organfunktion bei
solchen Gegebenheiten nicht verwehrt werden, eine Nachzählung zu verlangen.
Dies trifft jedenfalls zu, wenn bei knappem Wahl- oder Abstimmungsergebnis
zusätzlich Anzeichen für Unregelmässigkeiten bestehen oder solche gar
nachgewiesen sind.

  3.7  Vor diesem Hintergrund kommt der kantonal- bzw. kommunalrechtlichen
Ordnung des Wahl- und Abstimmungswesens und insbesondere des
Auszählverfahrens entscheidende Bedeutung zu (vgl. BGE 98 Ia 73 E. 4 S. 85).
In dieser Hinsicht führte der Regierungsrat aus, dass die in der Stadt Bern
geübte Handhabung grundsätzlich Gewähr für eine korrekte und zuverlässige
Ermittlung von Wahl- und Abstimmungsresultaten biete. Er legte dies zwar in
erster Linie hinsichtlich der brieflich eingelegten Wahlzettel dar, hielt
indessen darüber hinaus allgemein fest, dass aufgrund der rechtlichen
Vorgaben sowie der genannten Anleitung für die Ausmittlung der Gemeinderats-
und Stadtratswahlen ein durchdachtes System mit mehrfachen Kontrollen
bestehe. Die Beschwerdeführer stellen dies mit ihrer Beschwerde nicht in
Frage und machen insbesondere nicht geltend, dass das Ermittlungsverfahren
systemimmanente Gefahren oder Schwächen aufweise oder sonst wie keine Gewähr
für eine korrekte Resultateermittlung biete. Doch weisen sie in allgemeiner
Weise darauf hin, dass Auszählungsfehler anerkanntermassen tatsächlich immer
vorkommen könnten und das Wahlresultat im vorliegenden Fall daher
möglicherweise nicht der tatsächlichen Stimmabgabe entspreche.

  Der kantonalen Ordnung des Wahl- und Abstimmungswesens und des
Auszählverfahrens ist ferner die kantonale Regelung und Handhabung des
Beschwerdeweges zuzuordnen. Der vorliegende Fall zeigt, dass die
Beschwerdeführer ihre Rügen vor zwei Instanzen mit voller Rechtskontrolle
vorbringen konnten. Sowohl die Regierungsstatthalterin als auch der
Regierungsrat haben das in der Stadt Bern gehandhabte Auszählverfahren
tatsächlich sehr eingehend geprüft und verschiedene Unregelmässigkeiten klar
aufgedeckt (vgl. demgegenüber die Verhältnisse von BGE 114 Ia 42). Insoweit
kann festgehalten werden, dass die Beschwerdeführer in den Genuss einer
sorgfältigen Prüfung kamen. Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass
der Regierungsrat, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch in erster Linie
das Verfahren der Auszählung der brieflich eingelegten Wahlzettel
untersuchte.

  3.8  Bei dieser Sachlage kommt der Glaubhaftmachung von konkreten
Anhaltspunkten für Unregelmässigkeiten bzw. der Feststellung von
tatsächlichen Unrechtmässigkeiten im Auszählungsverfahren entscheidende
Bedeutung zu. Wie dargelegt, können verschiedenste Umstände zu Zählfehlern
führen. Solche nachzuweisen kann dem einzelnen Stimmberechtigten zwar schwer
fallen oder sich mangels Einblicks in die Grundlagen gar als unmöglich
erweisen (vgl. Urteil 1P.363/1994 vom 15. Dezember 1994, E. 3d). Im
vorliegenden Fall haben sich nicht nur Anzeichen für Unregelmässigkeiten
gezeigt, sondern sind vom Regierungsrat Unrechtmässigkeiten tatsächlich
aufgezeigt sowie als sehr aussergewöhnlich und gegen grundlegende
Bestimmungen des Reglements über die politischen Rechte verstossend
bezeichnet worden. Damit ist die Glaubwürdigkeit in das festgestellte
Wahlergebnis in schwerwiegender Weise erschüttert. Daran vermag der Umstand
nichts zu ändern, dass sich die festgestellten Unregelmässigkeiten nach dem
angefochtenen Entscheid nicht konkret ausgewirkt haben sollen. Wesentlich
ist, dass ein verordnungs- und reglementswidriges Auszählverfahren
angewendet worden ist. Ein solches Vorgehen erhöht im Allgemeinen die Gefahr
von Auszählungsfehlern. Bei dieser Sachlage kann das für die direkte
Demokratie unabdingbare Vertrauen in die Richtigkeit der Ergebnisermittlung
der Wahl ohne Nachzählung des knappen Resultats nicht gewahrt werden. Der
Anspruch auf Nachzählung geht hier dem Interesse am Festhalten eines einmal
ausgezählten und veröffentlichten Wahlergebnisses vor.

  In Anbetracht der konkreten Gegebenheiten mit den vom Regierungsrat als
gravierend bezeichneten Unregelmässigkeiten im Auszählungsverfahren
einerseits und dem äusserst knappen Ausgang zwischen den beiden Kandidaten
andererseits können die Beschwerdeführer gestützt auf Art. 34 Abs. 2 BV eine
Nachzählung beanspruchen. Daher erweist sich die vorliegende Beschwerde als
begründet.