Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 I 366



131 I 366

36. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S.
Schweizerische Volkspartei des Kantons Solothurn gegen Kamber und Bühler
sowie Kantonsrat Solothurn (Staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.113/2005 vom 3. Mai 2005

Regeste

    Berücksichtigung der politischen Richtungen bei der Besetzung
öffentlicher Ämter, Begriff der verfassungsmässigen Rechte; Art. 60 KV/SO,
Art. 189 Abs. 1 lit. a BV, Art. 84 Abs. 1 lit. a OG.

    Die Bestimmung von Art. 60 KV/SO, wonach bei der Besetzung
öffentlicher Ämter u.a. die politischen Richtungen zu berücksichtigen
sind, ist programmatischer Natur und räumt den politischen Parteien kein
verfassungsmässiges Recht auf Minderheitsschutz ein (E. 2).

Sachverhalt

    Auf Ausschreibung der Stelle eines Oberrichters bzw. einer
Oberrichterin hin hörte die Justizkommission des Kantonsrates des
Kantons Solothurn drei Kandidaten an und unterbreitete dem Kantonsrat
mit den Kandidaten Rechtsanwalt Dr. Roland Bühler (SVP) und Rechtsanwalt
lic. iur. Marcel Kamber (FDP) einen Zweiervorschlag. Anlässlich der Sitzung
des Kantonsrates vom 26. Januar 2005 äusserten sich die Fraktionssprecher
zu den beiden Kandidaten. In geheimer Wahl wählte der Kantonsrat Marcel
Kamber im ersten Wahlgang zum neuen Oberrichter.

    Gegen diesen Wahlbeschluss hat die Schweizerische Volkspartei des
Kantons Solothurn (SVP/SO) beim Bundesgericht mit dem Antrag um Aufhebung
staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie erachtet sich aufgrund von
Art. 60 der Kantonsverfassung zur Beschwerde legitimiert und rügt wegen
der Nichtberücksichtigung des SVP-Kandidaten eine Verletzung des Anspruchs
auf angemessene Vertretung im Obergericht.

    Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen, ob die Voraussetzungen
für das Eintreten auf eine staatsrechtliche Beschwerde gegeben sind
(vgl. BGE 129 I 173 E. 1 S. 174). Im vorliegenden Fall ist unter diesem
Gesichtswinkel insbesondere zu prüfen, ob sich die Beschwerdeführerin
auf ein verfassungsmässiges Recht gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. a OG berufen
kann und daher im Sinne von Art. 88 OG zur Beschwerde legitimiert ist.

    2.1  Die Beschwerdeführerin ficht den Wahlbeschluss des Kantonsrates
mit staatsrechtlicher Beschwerde gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. a OG an. Damit
sieht sie zu Recht von einer Stimmrechtsbeschwerde nach Art. 85 lit. a OG
ab, welche lediglich bei Volkswahlen in Betracht fällt und im Fall von
so genannten indirekten Wahlen durch ein Parlament nicht in Frage kommt
(vgl. hierzu ZBl 92/1991 S. 260 E. 1; BGE 112 Ia 174 E. 2 S. 176, mit
zahlreichen Hinweisen).

    2.2  Nach Art. 189 Abs. 1 lit. a BV beurteilt das Bundesgericht
Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte. Im gleichen Sinne
lässt Art. 84 Abs. 1 lit. a OG gegen Erlasse oder Verfügungen (Entscheide)
die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger
Rechte zu. Weder Bundesverfassung noch Organisationsgesetz umschreiben
im Einzelnen, was unter verfassungsmässigen Rechten zu verstehen ist.

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, dem die Konkretisierung
dieses Begriffes obliegt (vgl. Botschaft zur neuen Bundesverfassung,
BBl 1997 I 1, S. 425), gelten als verfassungsmässige Rechte
Verfassungsbestimmungen, die dem Bürger einen Schutzbereich gegen
staatliche Eingriffe sichern wollen oder welche, obwohl vorwiegend
im öffentlichen Interesse erlassen, daneben auch noch individuelle
Interessen schützen (ZBl 92/1991 S. 260 E. 2, mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 121 I 267 E. 3a S. 269). Bei der Bestimmung des Vorliegens von
verfassungsmässigen Rechten stellt das Bundesgericht insbesondere auf das
Rechtsschutzbedürfnis und die Justiziabilität ab (vgl. ZBl 92/1991 S. 260
E. 2). Nach der Doktrin gelten als verfassungsmässige Rechte justiziable
Rechtsansprüche, die nicht ausschliesslich öffentliche Interessen,
sondern auch Interessen und Schutzbedürfnisse des Einzelnen betreffen und
deren Gewicht so gross ist, dass sie nach dem Willen des demokratischen
Verfassungsgebers verfassungsrechtlichen Schutzes bedürfen (WALTER KÄLIN,
Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl. 1994, S. 67; in
gleichem Sinne Botschaft zur neuen Bundesverfassung, aaO, S. 425; ULRICH
HÄFELIN/WALTER HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 6. Aufl. 2005,
Rz. 1966; CHRISTINA KISS/HEINRICH KOLLER, St. Galler BV-Kommentar,
Zürich 2002, Rz. 7 ff. zu Art. 189 BV). Zu den verfassungsmässigen
Rechten in diesem Sinne gehören solche gemäss Bundesverfassungsrecht,
Europäischer Menschenrechtskonvention und andern Menschenrechtspakten wie
auch die durch die Kantonsverfassungen gewährleisteten Rechte (vgl. BGE
123 I 25 E. 1 S. 27; 121 I 267 E. 3 S. 269; KISS/KOLLER, aaO, Rz. 8 f.;
HÄFELIN/HALLER, aaO, Rz. 1967 ff.).

    2.3  Im Einzelnen ist nunmehr zu prüfen, ob die von der
Beschwerdeführerin angerufene Bestimmung von Art. 60 der Kantonsverfassung
des Kantons Solothurn vom 8. Juni 1986 (KV/SO) ein verfassungsmässiges
Recht im genannten Sinne einräumt. Diese Bestimmung hat folgenden Wortlaut:

      Art. 60 - Ämterbesetzung Öffentliche Ämter sind durch die am

      besten geeigneten Personen zu besetzen. Nach Möglichkeit sind die

      verschiedenen Bevölkerungskreise, namentlich die Regionen und die

      politischen Richtungen, angemessen zu berücksichtigen.

    Der Gehalt dieser Verfassungsbestimmung ist nach den üblichen
Auslegungsregeln zu bestimmen (vgl. BGE 112 Ia 208 E. 2a S. 212) und zudem
mit § 96 der Staatsverfassung des Kantons Luzern (StV/LU) und der dazu
ergangenen Rechtsprechung (ZBl 92/1991 S. 260, ZBl 95/1994 S. 366; Urteil
1P.427/1999 vom 9. Februar 2000), auf welche sich die Beschwerdeführerin
beruft, in Beziehung zu setzen.

    2.4  Die Bestimmung von Art. 60 KV/SO ist vorerst organisatorischer
Natur. Sie ist im allgemeinen Abschnitt über die kantonalen Behörden
enthalten und gilt unabhängig von der Art der Bestellung (direkte Volkswahl
im Majorz- oder Proporzverfahren sowie Besetzung durch eine Behörde oder
einen Wahlkörper) für sämtliche öffentlichen Ämter. Sie hält einleitend
fest, dass öffentliche Ämter durch die am besten geeigneten Personen zu
besetzen sind. Darüber hinaus bestimmt sie, dass nach Möglichkeit die
verschiedenen Bevölkerungskreise angemessen zu berücksichtigen sind und
nennt hierfür namentlich die Regionen und politischen Richtungen. Damit
verfolgt Art. 60 KV/SO das Ziel, über die Geeignetheit der Amtspersonen
hinaus hinsichtlich der regionalen und politischen Vertretung nach
Möglichkeit einen gewissen Ausgleich zwischen den verschiedenen
Bevölkerungskreisen zu schaffen. Sie mag insoweit dazu dienen, gewisse
Auswirkungen von Wahlverfahren zu mildern, mögliche Einseitigkeiten von
Majorzwahlverfahren auszugleichen und weite Bevölkerungskreise an der
Amtsausübung teilnehmen zu lassen (vgl. ZBl 92/1991 S. 260 E. 4a mit
Hinweisen auf BGE 52 I 14 S. 16 f. und ZACCARIA GIACOMETTI, Staatsrecht
der Kantone, Zürich 1941, S. 366 ff.). In dieser allgemeinen Form weist
Art. 60 KV/SO vor allem programmatischen Charakter auf.

    Der programmatische Charakter von Art. 60 KV/SO wird durch die Wendung
"nach Möglichkeit" weiter unterstrichen. Dieser Umstand schliesst für
sich allein genommen die Justiziabilität nicht aus und spricht insoweit
nicht gegen die Annahme eines verfassungsmässigen Rechts. Ein solches
kann auch anerkannt werden, wenn formale und eindeutige Kriterien der
Anwendung fehlen und dem Entscheidträger ein weiter Ermessensspielraum
eingeräumt wird. In diesem Sinne hat das Bundesgericht der Bestimmung von
§ 96 StV/LU, welche bei der Behördenbestellung eine angemessene Rücksicht
auf die Vertretung der politischen Parteien fordert, den Charakter eines
verfassungsmässigen Rechtes nicht abgesprochen (vgl. ZBl 92/1991 S. 260;
ZBl 95/1994 S. 366; Urteil 1P.427/1999 vom 9. Februar 2000; vgl. auch
den in ZBl 95/1994 S. 366 E. 1b/bb erwähnten Entscheid vom 15. Juni 1992
i.S. Groupe Vivre demain).

    Die fragliche Bestimmung der Solothurner Kantonsverfassung nimmt
nach ihrem Wortlaut in erster Linie auf Bevölkerungskreise Bezug. Der
Begriff der Bevölkerungskreise ist offen, könnte unterschiedlichste
(organisierte oder nicht organisierte) Gruppierungen oder Bewegungen
umfassen und sich derart auch auf Frauen und Männer, Konfessionen und
vieles mehr beziehen. Der in der Verfassung verwendete Begriff erhält
auch durch die namentlich erwähnten Regionen und politischen Richtungen
keine präzisere Konturen. Zum einen sind die Regionen nicht zwingend
mit Amtsbezirken gleichzusetzen, zum andern können mit den politischen
Richtungen nicht nur politische Parteien, sondern auch andere Bewegungen
unterschiedlichster Weltanschauungen gemeint sein. Insoweit fehlt der
Bestimmung von Art. 60 KV/SO die hinreichende inhaltliche Bestimmtheit und
Bestimmbarkeit und geht ihr die Justiziabilität ab. Es ist denn auch nicht
denkbar, dass einer Region als solcher oder nicht näher umschriebenen
politischen Richtungen bestimmte Vertretungsrechte zugestanden würden
sowie von wem und in welcher Weise solche geltend gemacht werden könnten.

    An dieser Beurteilung der mangelnden Justiziabilität von Art. 60
KV/SO vermag auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu § 96 StV/LU
nichts zu ändern. Anders als die Solothurner Verfassung bezieht sich §
96 StV/LU auf bestimmt umschriebene Behörden und erwähnt ausdrücklich die
politischen Parteien; hinsichtlich der Erwähnung der politischen Parteien
ist die luzernische Verfassungsbestimmung auch anlässlich von Revisionen
nicht geändert worden (vgl. ZBl 95/1994 S. 366 E. 1b/bb). Demgegenüber
sind bei der Ämterbesetzung nach Art. 60 KV/SO lediglich die politischen
Richtungen zu berücksichtigen. Dieser Ausdruck ist vergleichsweise
wesentlich unbestimmter als derjenige der politischen Parteien gemäss
§ 96 StV/LU sowie derjenige der verschiedenen Parteirichtungen gemäss
Art. 11 der alten Kantonsverfassung vom 23. Oktober 1887 (aKV/SO). Nach
dieser Bestimmung sollten bei der Wahl sämtlicher staatlicher Behörden
die verschiedenen Parteirichtungen möglichst berücksichtigt werden. Im
Vergleich dazu ist mit dem neuen Art. 60 KV/SO in vermehrtem Masse
eine offene Formulierung gewählt worden. Sie spricht nicht nur die
politischen Richtungen, sondern darüber hinaus neu auch die verschiedenen
Bevölkerungskreise und die Regionen an. Damit kommt ihr ausschliesslich
ein programmatischer Gehalt zu. Sowohl der Vergleich mit der Luzerner
Staatsverfassung als auch derjenige mit der alten Solothurner Verfassung
sprechen demnach gegen die Annahme eines verfassungsmässigen Rechtes.

    An dieser Beurteilung vermag auch der Entscheid des Regierungsrates vom
27. Januar 1998 (publ. in: Grundsätzliche Entscheide des Regierungsrates
des Kantons Solothurn, 1998 Nr. 5) nichts Wesentliches zu ändern. Der
Regierungsrat wandte in diesem Entscheid Art. 60 KV/SO zwar auf die Wahl
einer kommunalen Umweltkommission an und hob sie auf, weil der stärksten
Fraktion kein Kommissionsmandat zugesprochen worden war. Er hielt fest,
dass die Verfassungsbestimmung zwingend die Berücksichtigung einer
starken Minderheit erfordere, und er bezog sich ohne weitere Ausführungen
auf seine frühere Praxis zu Art. 11 aKV/SO. Dabei setzte er sich mit
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht auseinander, welche ohne
abschliessende Beurteilung Zweifel an einem eigentlichen Rechtsanspruch
zum Ausdruck brachte (BGE 112 Ia 174 E. 3d S. 179). Insbesondere ging er
aber nicht auf die neue Formulierung in Art. 60 KV/SO ein, welche, wie
aufgezeigt, gegenüber der alten Verfassungsbestimmung wesentlich offener
gehalten ist, und legte nicht dar, dass auch nach neuem Verfassungstext ein
eigentlicher Rechtsanspruch bestehe. Damit kann dem Regierungsratsentscheid
vom 27. Januar 1998 im Hinblick auf die Beurteilung durch das Bundesgericht
und die Anforderungen von Art. 88 OG keine entscheidende Bedeutung
beigemessen werden.

    2.5  Vor diesem Hintergrund kommt der Bestimmung von Art. 60 KV/SO die
Bedeutung einer Programmvorschrift zu und kann ihr in Anbetracht ihrer
Unbestimmtheit und ihres Mangels an Justiziabilität nicht der Charakter
eines verfassungsmässigen Rechtes zugesprochen werden. Kann sich die
Beschwerdeführerin demnach auf kein verfassungsmässiges Recht im Sinne
von Art. 84 Abs. 1 lit. a OG berufen, fehlt ihr insoweit nach Art. 88 OG
die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde.

    2.6  Soweit sich die Beschwerdeführerin darüber hinaus sinngemäss
auf das Willkürverbot nach Art. 9 BV beruft, ist festzuhalten, dass das
allgemeine Willkürverbot für sich allein keine geschützte Rechtsstellung
nach Art. 88 OG verschafft (vgl. BGE 126 I 81; 121 I 267; 112 Ia E. 2d
S. 178). Auch unter diesem Gesichtswinkel kann auf die Beschwerde nicht
eingetreten werden.