Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 I 36



131 I 36

6. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X.
gegen Amtsstatthalteramt Luzern-Stadt, Staatsanwaltschaft sowie Obergericht
des Kantons Luzern (Staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.553/2004 vom 2. November 2004

Regeste

    Art. 31 Abs. 3 BV; Art. 5 Ziff. 3 EMRK; unverzügliche Vorführung vor
den haftanordnenden Richter.

    Anforderungen an einen haftanordnenden Richter im Sinne von Art. 31
Abs. 3 BV unter Berücksichtigung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK (für den Fall
des luzernischen Amtsstatthalters). Im vorliegenden Fall wurde der
grundrechtliche Anspruch des Inhaftierten auf unverzügliche Vorführung
vor eine unabhängige Gerichtsperson verletzt (E. 2).

Sachverhalt

    X. reiste am 20. Juni 1998 ohne Pass und Visum in die Schweiz ein.
Gleichentags stellte er in Genf ein Asylgesuch. Mit Entscheid vom
21. Januar 2000 trat das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) auf das Asylgesuch
nicht ein und forderte X. auf, sofort auszureisen. Mit Entscheid vom
23. Mai 2000 bestätigte die Schweizerische Asylrekurskommission den
Entscheid des BFF. Da X. der Wegweisungsanordnung (trotz angedrohter
strafrechtlicher Konsequenzen) keine Folge leistete und seine Mitwirkung
bei der Identitätsabklärung verweigerte, wurde er am 3. Januar 2003 vom
Amt für Migration des Kantons Luzern erstmals wegen illegaler Einreise und
illegalem Aufenthalt verzeigt. In der Folge wurde X. mehrmals einschlägig
bestraft. Am 23. Juni 2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Luzern-Stadt
letztmals rechtskräftig (wegen Widerhandlung gegen Art. 23 Abs. 1 al. 4
ANAG [SR 142.20], begangen zwischen 4. Januar und 27. Oktober 2003) zu
einer bedingten Gefängnisstrafe von einem Monat. Gleichzeitig widerrief
es den in einer früheren Strafverfügung gewährten bedingten Strafvollzug
für eine dreimonatige Gefängnisstrafe.

    Am 17. August 2004 wurde X. beim Luzerner Bahnhof polizeilich
kontrolliert und verhaftet. Mit Verfügung des Amtsstatthalteramtes
Luzern-Stadt (Amtsstatthalter Y.) vom 18. August 2004 wurde X. wegen
erneuter Widerhandlung gegen das ANAG in Untersuchungshaft versetzt. Auf
Rekurs des Inhaftierten hin bestätigte das Obergericht, II. Kammer,
des Kantons Luzern mit Entscheid vom 31. August 2004 die Haftanordnung.

    Mit Strafverfügung vom 13. September 2004 fällte das Amtsstatthalteramt
Luzern (Amtsstatthalter Y.) eine Gefängnisstrafe von drei Monaten
(unbedingt) gegen X. wegen Widerhandlung gegen Art. 23 Abs. 1 al. 4
ANAG aus. Der im Urteil des Amtsgerichtes Luzern-Stadt vom 23. Juni 2004
gewährte bedingte Strafvollzug wurde widerrufen. Da der Angeschuldigte
die Strafverfügung vom 13. September 2004 nicht annahm, überwies das
Amtsstatthalteramt Luzern- Stadt (Amtsstatthalter Y.) die Strafsache am
15./20. September 2004 an das Amtsgericht Luzern-Stadt.

    Gegen den Haftrekursentscheid des Obergerichtes vom 31. August 2004
gelangte X. mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Er
rügt unter anderem eine Verletzung der persönlichen Freiheit bzw. seines
Anspruches auf unverzügliche Vorführung vor einen unabhängigen Haftrichter
(Art. 31 Abs. 3 BV).

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Der Beschwerdeführer macht geltend, bei der Anordnung der
Untersuchungshaft sei sein grundrechtlicher Anspruch auf unverzügliche
Vorführung vor eine unabhängige Richterin oder einen Richter verletzt
worden. Der gleiche Amtsstatthalter, der die Haft gegen ihn angeordnet
habe, habe in der nämlichen Strafsache gegen den Beschwerdeführer
ermittelt, am 13. September 2004 eine Strafverfügung erlassen und (nach
unterbliebener Annahme der Strafverfügung durch den Angeschuldigten) die
Überweisung an das Strafgericht vorgenommen. Der Amtsstatthalter erfülle
daher die Anforderungen an einen unabhängigen Haftrichter im Sinne von
Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK nicht.

    2.1  Im angefochtenen Entscheid wird erwogen, der luzernische
Amtsstatthalter erfülle "als Haftrichter die Anforderungen an Art. 5
Ziff. 3 EMRK". Er vertrete nicht die Anklage vor Gericht und sei "deshalb
auch nicht Partei". Ausserdem werde er "vom Volk gewählt". Die Aufsicht
der Staatsanwaltschaft erstrecke sich "nicht auf die Haftkompetenzen des
Amtsstatthalters". Dementsprechend sehe das Luzerner Strafprozessrecht
"die Kompetenz des Amtsstatthalters zum Erlass des Haftbefehls und der
Haftverfügung ausdrücklich vor".

    2.2  Die Aufgaben und Zuständigkeiten des Amtsstatthalters und der
Staatsanwaltschaft sind im luzernischen Strafprozessrecht wie folgt
geregelt: Der Amtsstatthalter leitet die Strafuntersuchung und schliesst
diese ab (§§ 60 ff., namentlich §§ 60 Abs. 1, 63 Abs. 1 und 124 StPO/LU;
vgl. auch §§ 10, 34 Abs. 1, 49 Abs. 3, 58, 59 Abs. 1, 81 Abs. 2, 86 Abs. 1,
89bis Abs. 3, 89quater und 103 ff. StPO/LU). Die Staatsanwaltschaft "übt
die unmittelbare Aufsicht über die Amtsstatthalter aus"; sie "überwacht
die Strafuntersuchungen, insbesondere ihre richtige und beförderliche
Erledigung" (§ 153 Abs. 1 StPO/LU). Der Staatsanwalt "kann Bericht
über den Stand der Untersuchungen einverlangen, Weisungen erteilen
und den Untersuchungshandlungen beiwohnen" (§ 153 Abs. 2 StPO/ LU); er
"prüft die Geschäftsführung des Amtsstatthalters, trifft die nötigen
Anordnungen und erstattet der Kriminal- und Anklagekommission Bericht"
(§ 154 Abs. 2 StPO/LU). Der Staatsanwalt prüft alle eingestellten und von
der Hand gewiesenen Untersuchungen sowie die mit Strafverfügung erledigten
Untersuchungen, die sein Visum benötigen (§ 155 Abs. 1 StPO/LU).

    Bestehen nach Durchführung der Strafuntersuchung hinreichende
Anhaltspunkte für eine strafbare Handlung, überweist der
Amtsstatthalter den Fall dem zuständigen Gericht (§ 126 StPO/LU). Das
Überweisungserkanntnis enthält unter anderem den inkriminierten Sachverhalt
mit Hinweis auf die Belegstellen und die anwendbaren Gesetzesbestimmungen
(§ 127 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/LU). Ist das Amtsgericht oder das Obergericht
zuständig, stellt der Amtsstatthalter einen schriftlichen Antrag über
Schuld, Strafe und Massnahmen (§ 129 StPO/LU). Der Amtsstatthalter
schliesst die Untersuchung mit einer Strafverfügung ab, wenn diese auf
höchstens drei Monate Freiheitsentzug lautet (§ 131 Abs. 1 StPO/LU). Auch
die Strafverfügung enthält den inkriminierten Sachverhalt sowie den
Schuldbefund und eine Begründung, von der in einfachen Fällen abgesehen
werden kann (§ 132 Ziff. 2 StPO/LU).

    Lautet die Strafverfügung auf eine Freiheitsstrafe allein oder in
Verbindung mit einer anderen Strafe oder Massnahme, kann der Angeschuldigte
innert 20 Tagen die Strafverfügung durch schriftliche Erklärung annehmen
(§ 133 Abs. 1 StPO/LU). Nimmt der Angeschuldigte die Strafverfügung nicht
an, wird die Untersuchung ergänzt oder die Sache dem zuständigen Gericht
überwiesen (§ 133ter Abs. 1 StPO/LU).

    Eine "Abschrift der Anklage" wird dem Angeschuldigten und seinem
Verteidiger vor der Gerichtsverhandlung zugestellt (§ 162 Abs. 2 StPO/LU).
Zu Beginn der Gerichtsverhandlung eröffnet der Präsident nochmals "die
Anträge des Amtsstatthalters oder des Staatsanwalts, wenn eine Partei
dies verlangt" (§ 173 Abs. 1 StPO/ LU "Eröffnung der Anklage"). Bei
kriminalgerichtlicher Zuständigkeit erhebt der Staatsanwalt die Anklage (§
158 Abs. 1 StPO/ LU). Ist das Amtsgericht oder das Obergericht zuständig,
stellt der Amtsstatthalter den schriftlichen Antrag über Schuld, Strafe und
Massnahmen (§ 129 StPO/LU). Erfolgt eine Anklage durch den Staatsanwalt
darf diese "nicht durch den gleichen Staatsanwalt erhoben werden, der
zuvor bereits einen Haftbefehl gegen den Angeschuldigten erlassen hat"
(§ 158 Abs. 2 StPO/LU).

    Das luzernische Strafprozessrecht sieht schliesslich vor, dass der
Amtsstatthalter auch über die Anordnung von Untersuchungshaft entscheidet
(§ 52 Abs. 2 sowie § 83bis Abs. 1 StPO/LU). Haftbefehle werden vom
Amtsstatthalter, vom Staatsanwalt oder von den zuständigen Strafgerichten
bzw. ihren Präsidenten erlassen (§ 81 Abs. 2 StPO/LU). Haftverfügungen des
Amtsstatthalters, des Staatsanwaltes und der unteren Gerichte können mit
Rekurs beim kantonalen Obergericht angefochten werden (§ 83bis Abs. 2 und §
83quater Abs. 3 StPO/LU). Im Gerichts- und Rechtsmittelverfahren ist die
Staatsanwaltschaft Partei des Strafverfahrens (§ 32 Abs. 2 StPO/ LU).

    2.3  Art. 5 Ziff. 3 EMRK verlangt, dass jede in strafprozessualer Haft
gehaltene Person unverzüglich einem Richter oder einem anderen, gesetzlich
zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt
werden muss ("doit être aussitôt traduite devant un juge ou un autre
magistrat habilité par la loi à exercer des fonctions judiciaires"/"shall
brought promptly before a judge or another officer authorised by law to
exercise judicial power"). Nach übereinstimmender Lehre und Rechtsprechung
muss es sich beim haftanordnenden Magistraten im Sinne von Art. 5 Ziff. 3
EMRK um eine unparteiische Instanz handeln, die von der Exekutive und den
Parteien unabhängig und bei der Ausübung ihres Amtes nicht weisungsgebunden
ist. Sie muss in einem justiziellen Verfahren entscheiden, den Inhaftierten
persönlich anhören, insbesondere die Angemessenheit der Haft prüfen und
nötigenfalls die Haftentlassung anordnen können (BGE 119 Ia 221 E. 7a S.
231; 118 Ia 95 E. 3b S. 98; Urteil des EGMR i.S. H.B. gegen Schweiz vom 5.
April 2001, VPB 65/2001 Nr. 120 S. 1292, Ziff. 55, je mit Hinweisen; vgl.
auch JOCHEN A. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, EMRK- Kommentar, 2. Aufl.,
Kehl u.a. 1996, N. 117 zu Art. 5 EMRK; ARTHUR HAEFLIGER/FRANK SCHÜRMANN,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl., Bern
1999, S. 112). Nach der bundesgerichtlichen Praxis ist Art. 5 Ziff. 3
EMRK namentlich verletzt, wenn die haftanordnende Amtsperson in gleicher
Sache auch noch für die Anklageerhebung zuständig ist (BGE 124 I 274 E. 3c
S. 279; 119 Ia 221 E. 7c S. 234; 118 Ia 95 E. 3c S. 98, E. 3d-e S. 99 f.;
117 Ia 199 E. 4b-c S. 201 f., je mit Hinweisen).

    Im Fall Schiesser hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR) erwogen, dass Zürcher Bezirksanwälte die Voraussetzungen
von Art. 5 Ziff. 3 EMRK grundsätzlich erfüllen könnten, sofern eine
personelle Trennung zwischen haftrichterlicher Funktion einerseits
und Untersuchungs- bzw. Anklagefunktion anderseits gewährleistet wird
(Urteil des EGMR i.S. Schiesser gegen Schweiz vom 4. Dezember 1980,
Serie A, Bd. 34, Ziff. 31 = EuGRZ 1980 S. 201). Im Fall Huber hat der
EGMR eine Verletzung der EMRK durch die Schweiz festgestellt, da der
gleiche Zürcher Bezirksanwalt sowohl für die Haftanordnung als auch für
die Anklageerhebung zuständig war (Urteil des EGMR i.S. Huber gegen
Schweiz vom 23. Oktober 1990, Serie A, Bd. 188, Ziff. 42 f. = EuGRZ
1990 S. 502). Entscheidend für die Beurteilung, ob der haftanordnende
Magistrat ausreichend unabhängig erscheint, ist nach der Praxis des EGMR
der objektive Anschein im Zeitpunkt der Haftanordnung. Der Eindruck der
Unvoreingenommenheit fällt grundsätzlich schon dahin, wenn aufgrund
der Prozessordnung die Möglichkeit besteht, dass der haftanordnende
Magistrat in der Folge Anklagefunktionen ausüben könnte (Urteile des
EGMR i.S. Brincat gegen Italien vom 26. November 1992, Serie A, Bd. 249 =
EuGRZ 1993 S. 389; i.S. H.B., aaO, Ziff. 55, 57, 62 f.; i.S. Huber, aaO,
Ziff. 40, je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 118 Ia 95 E. 3a S. 97; 117 Ia
199 E. 4b S. 201).

    Diese Praxis wurde vom EGMR (bezüglich des solothurnischen
Untersuchungsrichters) im Fall H.B. bestätigt und präzisiert. Nach
der Rechtsprechung des EGMR kann es nicht darauf ankommen, ob
der haftanordnende Untersuchungsrichter in der Folge tatsächlich
Anklagefunktionen ausübt, welche Gerichtsinstanz im Zeitpunkt der
allfälligen Anklageerhebung zuständig ist und wer dort tatsächlich die
Anklage vertritt. Falls im Zeitpunkt der Haftanordnung der spätere Erlass
einer Schluss- bzw. Überweisungsverfügung des Untersuchungsrichters
in Frage kommt, welche die faktische Bedeutung einer Anklageschrift
hat, darf dieser Untersuchungsrichter in der gleichen Sache nicht als
haftanordnender Magistrat tätig sein (Urteil H.B., aaO, Ziff. 58-63). Ob
der Untersuchungsrichter bei seiner Haftanordnung weisungsgebunden war
und ob er oder die Staatsanwaltschaft später allenfalls die Anklage
vor dem zuständigen Gericht erhebt, ist nach der Auffassung des EGMR
nicht massgeblich (Urteil H.B., aaO, Ziff. 62-63). Da eine entsprechende
Überweisungs- und Schlussverfügung des Untersuchungsrichters im Zeitpunkt
der Haftanordnung nicht ausgeschlossen werden konnte, erkannte der EGMR
im Fall H.B. auf eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK durch die Schweiz.

    2.4  Der Wortlaut des am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Art. 31
Abs. 3 BV geht über Art. 5 Ziff. 3 EMRK hinaus. Die neue Bundesverfassung
verlangt, dass der Inhaftierte "unverzüglich einer Richterin oder einem
Richter vorgeführt" werden muss (vgl. BGE 126 I 172 E. 3b S. 173). Damit
hat der Verfassungsgesetzgeber die Haftanordnung nach Art. 31 Abs. 3 BV
(und nicht bloss die Haftprüfung nach Art. 31 Abs. 4 BV) ausdrücklich
in die Hände des Haftrichters bzw. einer unabhängigen richterlichen
Behörde gelegt. Ein weisungsgebundener Untersuchungsrichter erfüllt diese
Voraussetzungen grundsätzlich nicht (vgl. ANDREAS KELLER, Untersuchungshaft
im Kanton St. Gallen - vom alten zum neuen Strafprozessgesetz, AJP 2000
S. 936 ff., 944; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz: im Rahmen
der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK, 3. Aufl., Bern
1999, S. 585; HANS VEST, in: Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender
[Hrsg.], Die Schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Zürich 2002,
N. 24 zu Art. 31 BV). In der Lehre wird denn auch ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass diejenigen Kantone - genannt wird unter anderen der
Kanton Luzern - bei denen noch Untersuchungsrichter als haftanordnende
Magistraten fungieren, ihre Praxis und Gesetzgebung entsprechend anzupassen
hätten (vgl. VEST, aaO, N. 24). Auch der Entwurf des Eidgenössischen
Justiz- und Polizeidepartementes von 2001 für eine schweizerische
Strafprozessordnung (VE/StPO) sieht als haftanordnende Behörde eine
richterliche Instanz (Zwangsmassnahmengericht) vor (vgl. Art. 235 Abs. 3
und Art. 237 f. VE/StPO).

    2.5  Der luzernische Amtsstatthalter erfüllt im Strafprozess
Untersuchungs- und teilweise auch Anklagefunktionen und hat grundsätzlich
den Weisungen der Staatsanwaltschaft bzw. der hierarchisch übergeordneten
Regierungs- und Verwaltungsinstanzen Folge zu leisten (vgl. dazu
ausführlich oben, E. 2.2). Es fragt sich, ob Art. 31 Abs. 3 BV in der Weise
ausgelegt werden könnte, dass (unter den Voraussetzungen der bisherigen
Praxis zu Art. 5 Ziff. 3 EMRK) nach wie vor auch Untersuchungsrichter
ausnahmsweise als haftanordnende Magistraten walten könnten. Die Frage
kann im vorliegenden Fall offen bleiben, da auch die Voraussetzungen
der dargelegten Rechtsprechung zu Art. 5 Ziff. 3 EMRK (personelle
Funktionenteilung) nicht erfüllt wären. Unbestrittenermassen hat hier der
gleiche Amtsstatthalter die Haft angeordnet, die Untersuchung geführt,
die Strafverfügung vom 13. September 2004 erlassen und die Strafsache
(nach unterbliebener Annahme der Strafverfügung durch den Angeschuldigten)
anschliessend an das Amtsgericht Luzern-Stadt überwiesen. Der Einwand,
dass eine allfällige persönliche Anklagevertretung vor Gericht und vor den
Rechtsmittelinstanzen jeweils grundsätzlich durch die Staatsanwaltschaft
als strafprozessuale Partei zu erfolgen hätte, vermag daran nichts
zu ändern. Dies umso weniger, als die Staatsanwaltschaft gerade in
kleineren Straffällen vor unterinstanzlichen Gerichten nur äusserst
selten persönlich die Anklage vertritt. Die Luzerner Staatsanwaltschaft
räumt selbst ausdrücklich ein, dass "der Staatsanwalt vor Amtsgericht
sehr selten persönlich auftritt oder schriftlich Stellung nimmt". Eine
separate Anklageschrift des Staatsanwaltes erfolgt grundsätzlich nur bei
kriminalgerichtlicher Zuständigkeit. In den anderen Fällen bildet das
Überweisungserkanntnis bzw. die Strafverfügung des Amtsstatthalters die
Anklageschrift (vgl. § 158 Abs. 1 i.V.m. §§ 129 und 173 Abs. 1 StPO/LU).

    Entscheidend ist hier, dass der die Haft anordnende Amtsstatthalter
angesichts seiner Untersuchung, der Ausfällung seiner Strafverfügung und
der anschliessenden Überweisung der Strafverfügung an das Strafgericht
in der gleichen Strafsache mit Untersuchungs- und Anklagefunktionen
betraut war. Die kantonalen Behörden bestreiten denn auch mit
Recht nicht, dass der überwiesenen motivierten Strafverfügung des
Amtsstatthalters die Funktion der Anklageschrift zukommt (welche
angesichts des Anklagegrundsatzes obligatorisch ist) bzw. dass aufgrund
der amtsgerichtlichen Zuständigkeit keine gesonderte Anklageschrift
seitens der Staatsanwaltschaft erfolgt. Ist das Amtsgericht zuständig,
stellt der Amtsstatthalter den "schriftlichen Antrag über Schuld, Strafe
und Massnahmen" (§ 129 StPO/LU; s. auch §§ 126, 127 Abs. 1 Ziff. 2, 131
Abs. 1, 132 Ziff. 2 und 133ter Abs. 1 StPO/LU). Das Verlesen der "Anträge
des Amtsstatthalters oder des Staatsanwaltes" durch den Gerichtspräsidenten
gilt gemäss § 173 Abs. 1 StPO/ LU als "Eröffnung der Anklage".

    Nach der dargelegten Praxis des EGMR wäre eine Haftanordnung bereits
EMRK-widrig, wenn in der Folge der Erlass einer Überweisungsverfügung mit
Anklagefunktion durch den haftanordnenden Magistraten möglich erscheint
(vgl. oben, E. 2.3). Dass ein haftanordnender Magistrat nicht zugleich
Anklagefunktionen ausüben kann, ergibt sich im Übrigen auch direkt aus
dem luzernischen Strafprozessrecht: Für den Fall, dass ein Staatsanwalt
strafprozessuale Haft angeordnet bzw. einen Strafbefehl erlassen hat,
bestimmt § 158 Abs. 2 StPO/LU ausdrücklich, dass "die Anklage nicht durch
den gleichen Staatsanwalt erhoben werden" darf. Analoges muss nach der
dargelegten Lehre und Praxis auch für den Amtsstatthalter gelten, soweit
er gerichtliche Überweisungen mit Anklagefunktion vornimmt.

    2.6  Schliesslich bleibt noch zu prüfen, ob allenfalls der
angefochtene Entscheid des Obergerichtes als ausreichende richterliche
Haftanordnung angesehen werden könnte. Art. 31 Abs. 3 BV verlangt,
dass eine in Untersuchungshaft versetzte Person "unverzüglich einer
Richterin oder einem Richter vorgeführt" werden muss. Namentlich ist es
zulässig, dass eine Polizei- oder Untersuchungsbehörde dem Haftrichter
einen Antrag auf Haftanordnung stellt, worauf der Haftrichter über den
Antrag befindet. Allerdings muss der die Haft anordnende Richter seinen
Entscheid "unverzüglich" im Sinne von Art. 31 Ziff. 3 BV fällen. Nach
herrschender Lehre und Praxis heisst das, grundsätzlich innert ca. 24
bis 48 Stunden (vgl. BGE 119 Ia 221 E. 7a S. 232, E. 7c S. 235 mit
Hinweisen; MARC FORSTER, Die Rechte der Inhaftierten - Neue Entwicklungen
in der Gesetzgebung und Rechtsprechung, in: Franz Riklin [Hrsg.], Von der
Verhaftung bis zum Vollzug - Grenzen der staatlichen Gewalt, Luzern 2004,
S. 53 ff., 61 f.; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, aaO, S. 110; VEST, aaO, N. 25;
vgl. auch Art. 232 Abs. 3 i.V.m. Art. 235 Abs. 3 VE/StPO). Im vorliegenden
Fall kann die Verfügung des Amtsstatthalters vom 18. August 2004 nicht
als blosser Haftantrag interpretiert werden, zumal das Obergericht die
Verfügung erst 13 Tage später, nämlich mit Entscheid vom 31. August
2004, bestätigt hat. Das Obergericht hat somit nicht als haftanordnende
Behörde entschieden, sondern als Haftprüfungsinstanz (im Sinne von Art. 31
Abs. 4 BV).

    2.7  Im vorliegenden Fall hat keine unverzügliche Vorführung des
Inhaftierten vor eine Richterin oder einen Richter stattgefunden. Die Rüge
der Verletzung von Art. 31 Abs. 3 BV erweist sich daher als begründet.
Insofern ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben. Die kantonalen Behörden haben im Haftanordnungsverfahren
(und im Rahmen der damit verbundenen Neuüberprüfung der Haft betreffend
Haftgründe und Haftdauer) dem Anspruch des Beschwerdeführers auf
unverzügliche Vorführung vor einen Haftrichter Rechnung zu tragen.