Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 IV 154



Urteilskopf

131 IV 154

  22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Y.
(Nichtigkeitsbeschwerde)
  6S.415/2004 vom 23. Juni 2005

Regeste

  Üble Nachrede (Art. 173 StGB); Berufspflicht (Art. 32 StGB); Pflicht zur
sorgfältigen und gewissenhaften Ausübung des Anwaltsberufs (Art. 12 lit. a
BGFA).

  Ehrverletzende Äusserungen von Anwälten im Prozess sind durch die
Darlegungspflicht und die Berufspflicht gerechtfertigt, sofern sie
sachbezogen sind, nicht über das Notwendige hinausgehen, nicht unnötig
verletzend sind, nicht wider besseres Wissen erfolgen und blosse Vermutungen
als solche bezeichnen (E. 1.3). Die Äusserung eines Anwalts im Plädoyer in
einem Prozess betreffend Kindeszuteilung, wonach die von der Gegenpartei
angewandten Mittel "nicht legal" seien, war im konkreten Fall gerechtfertigt
(E. 1.4).

Sachverhalt ab Seite 154

  Mit Urteil des Bezirksgerichts Liestal vom 7. September 2000 wurde die Ehe
zwischen Y. und Z. geschieden und die elterliche Sorge über die gemeinsame
Tochter der letzteren zugeteilt. Y. erklärte die Appellation und beantragte,
die Tochter sei ihm zuzuteilen.

Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft bestätigte am 14. Januar 2002
in Abweisung der Appellation den erstinstanzlichen Entscheid.

  An der Obergerichtsverhandlung vom 14. Januar 2002 äusserte Rechtsanwalt
Dr. X. als Vertreter von Frau Z. in seinem Plädoyer laut
Verhandlungsprotokoll über Y. unter anderem Folgendes:

   - "Er fabriziert Beweismittel."

   - "Er hat eine Verfügung der Steuerverwaltung vorgelegt, die gefälscht
      und verfälscht war."

   - "Er ist immer noch im Kampf und seine Mittel sind nicht schön oder
      nicht legal."

  Diese drei Äusserungen sind in einer Passage des Plädoyers enthalten, die
gemäss dem Protokoll der Gerichtsverhandlung wie folgt lautet:

   "Betreffend der Liste über angebliches Besuchsrecht vom Juni. Klientin
    hat gesagt, sie habe die Liste nicht gesehen. Ich habe sie auch nicht
    bei den Akten. Ich lege alles dort ab. Das ist auf Seite des Appellanten
    immer wieder so gewesen. Er fabriziert Beweismittel. Dass er das tut,
    wurde offenbart. Die angebliche Liste trägt das Datum, an welchem
    RÖ-Verhandlung stattgefunden hat. Er hat eine Verfügung der
    Steuerverwaltung vorgelegt, die gefälscht und verfälscht war. 12
    Beilagen hat er entfernt und ersetzt durch eigene Berechnungen über
    Nach- und Strafsteuern, die er selbst gemacht hat. An diesem Tag hat er
    angeblich Zeit gehabt, Besuchstage auf einer Liste zusammenzustellen.
    Dies ist zumindest nicht sehr plausibel. Es ist festzustellen, dass
    meine Klientin weitergegangen ist. Die Scheidung ist für sie erledigt.
    Er ist immer noch im Kampf und seine Mittel sind nicht schön oder nicht
    legal. Das wäre meine grosse Befürchtung bei der Zuteilung der Tochter
    an ihn. Verweis auf eingereichte Dokumente. Er sucht ständig nach neuen
    Möglichkeiten, Strafanzeigen zu stellen oder Verfahren einzuleiten...".

  Wegen der drei zitierten Äusserungen reichte Y. am 11. April 2002 gegen
Rechtsanwalt X. Privatstrafklage wegen übler Nachrede und Verleumdung ein.
Die Klage wegen Verleumdung zog er in der Folge zurück.

  Das Strafgerichtspräsidium des Kantons Basel-Landschaft sprach X. am 6.
Mai 2003 vom Vorwurf der üblen Nachrede (Art. 173 StGB) frei. Die
Äusserungen erfüllten zwar objektiv und subjektiv den Tatbestand, doch seien
sie gemäss Art. 32 StGB gerechtfertigt.

  Das Kantonsgericht Basel-Landschaft sprach X. am 27. April 2004 in
teilweiser Gutheissung der von Y. eingereichten Appellation der

üblen Nachrede schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von 800 Franken.
Aus den Erwägungen geht hervor, dass X. lediglich wegen einer der mehreren
inkriminierten Äusserungen verurteilt worden ist, nämlich wegen der
Äusserung "... seine Mittel sind nicht schön oder nicht legal". Hingegen
hielt das Kantonsgericht dafür, dass die Äusserung betreffend das
Fabrizieren von Beweismitteln gemäss Art. 32 StGB gerechtfertigt und dass
hinsichtlich der Äusserung betreffend das Fälschen beziehungsweise
Verfälschen einer Verfügung der Steuerverwaltung der Gutglaubensbeweis
erbracht worden sei.

  X. ficht das Urteil des Kantonsgerichts mit staatsrechtlicher Beschwerde
und mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde an. Mit beiden Rechtsmitteln
beantragt er dessen Aufhebung.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.  Nichtigkeitsbeschwerde

  1.1  Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist einzig die im Plädoyer des
Beschwerdeführers enthaltene Äusserung über den Beschwerdegegner: "... seine
Mittel sind nicht schön oder nicht legal".

  Wer jemanden bei einem andern eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer
Tatsachen, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen, beschuldigt oder
verdächtigt, wird, auf Antrag, wegen übler Nachrede mit Gefängnis bis zu
sechs Monaten oder mit Busse bestraft (Art. 173 Ziff. 1 StGB). Beweist der
Beschuldigte, dass die von ihm vorgebrachte oder weiterverbreitete Äusserung
der Wahrheit entspricht, oder dass er ernsthafte Gründe hatte, sie in guten
Treuen für wahr zu halten, so ist er nicht strafbar (Art. 173 Ziff. 2 StGB).
Gemäss Art. 32 StGB ist die Tat, die das Gesetz oder eine Amts- oder
Berufspflicht gebietet, oder die das Gesetz für erlaubt oder straflos
erklärt, kein Verbrechen oder Vergehen.

  Der Beschwerdeführer macht geltend, die inkriminierte Äusserung sei nicht
ehrverletzend. Sofern sie tatbestandsmässig sein sollte, sei sie durch den
allgemeinen Rechtfertigungsgrund von Art. 32 StGB gerechtfertigt. Jedenfalls
dürfe er deshalb nicht bestraft werden, weil er den Wahrheits- oder
zumindest den Gutglaubensbeweis, zu dem er zuzulassen sei, erbringen könne.
Er legt dar, aus welchen Gründen er die inkriminierte Äusserung getan hat.
Er sei verpflichtet gewesen, im Prozess alle Umstände aufzuzeigen, die für
die Obhutszuteilung der Tochter relevant gewesen seien. Dazu

gehöre auch das Umfeld der beiden Elternteile und sei es von Bedeutung, wie
diese mit der neuen Situation und mit dem Loyalitätskonflikt der Tochter
umgingen.

  1.2  Die inkriminierte Äusserung ist, soweit sie den Vorwurf des Einsatzes
von nicht legalen Mitteln enthält, ehrverletzend. Sie berührt den Ruf, ein
ehrbarer Mensch zu sein, d.h. sich so zu benehmen, wie nach allgemeiner
Anschauung ein charakterlich anständiger Mensch sich zu verhalten pflegt.
Wer zur Erreichung gewisser Ziele im Rahmen eines - selbst heftig geführten
- Verfahrens betreffend Kindeszuteilung (angeblich) nicht legale Mittel
einsetzt, verhält sich nicht wie ein charakterlich anständiger Mensch. Die
inkriminierte Äusserung ist ehrverletzend, auch wenn sie nicht den Vorwurf
eines strafbaren Verhaltens enthält. Dass sie zum einen pauschal und zum
andern als Erwiderung auf vorangegangene Äusserungen des Gegenanwalts im
Rahmen eines äusserst strittigen Prozesses betreffend Kindeszuteilung
gefallen ist, berührt ihre Tatbestandsmässigkeit nicht.

  1.3
  1.3.1  Die Rechtfertigungsgründe des Allgemeinen Teils des
Strafgesetzbuches, unter anderem der Rechtfertigungsgrund der Berufspflicht
gemäss Art. 32 StGB, haben Vorrang vor dem Entlastungsbeweis im Sinne von
Art. 173 Ziff. 2 StGB, der nur zum Zuge kommt, wenn die Straflosigkeit sich
nicht bereits aus einem Rechtfertigungsgrund ergibt (BGE 116 IV 211 E. 4a;
123 IV 97 E. 2c/ aa mit Hinweisen). Ehrverletzende Äusserungen von Parteien
und ihren Anwälten im Prozess sind aufgrund der aus der Verfassung und aus
gesetzlichen Bestimmungen sich ergebenden Darlegungsrechte und -pflichten
beziehungsweise durch die Berufspflicht gemäss Art. 32 StGB gerechtfertigt,
sofern sie sachbezogen sind, nicht über das Notwendige hinausgehen, nicht
wider besseres Wissen erfolgen und blosse Vermutungen als solche bezeichnen
(BGE 118 IV 153 E. 4b, 248 E. 2c).

  1.3.2  Diese Rechtsprechung zur Anwendung von Art. 32 StGB bei Äusserungen
von Anwälten im Prozess stimmt im Kern mit Lehre und Praxis zur Berufsregel
überein, wonach die Anwältinnen und Anwälte zur sorgfältigen und
gewissenhaften Ausübung ihres Berufes verpflichtet sind (siehe nun Art. 12
lit. a des Bundesgesetzes vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der
Anwältinnen und Anwälte [Anwaltsgesetz, BGFA; SR 935.61], in Kraft

seit 1. Juni 2002). Diese Pflicht gilt nicht nur im Verhältnis zum Klienten,
sondern auch im Verhältnis zu den staatlichen Behörden und zur Gegenpartei
(vgl. BGE 130 II 270 E. 3.2 mit Hinweisen). Der Anwalt ist allerdings in
erster Linie Verfechter von Parteiinteressen und als solcher einseitig für
seinen Mandanten tätig (BGE 106 Ia 100 E. 6b S. 105; WALTER FELLMANN, in:
Fellmann/Zindel, Kommentar zum Anwaltsgesetz, Zürich 2005, N. 31 zu Art. 12
BGFA). Er soll aber auch im Kontakt mit der Gegenpartei sachlich bleiben und
auf persönliche Beleidigungen, Verunglimpfungen oder beschimpfende
Äusserungen verzichten. Der Anwalt darf zwar energisch auftreten und sich
scharf ausdrücken, nicht aber die Gegenpartei unnötig verletzen, das heisst
keine Äusserungen tun, die für den Prozess sachlich bedeutungslos sind und
nur die Gegenpartei demütigen oder schikanieren sollen (zum Ganzen WALTER
FELLMANN, a.a.O., N. 49 f. zu Art. 12 BGFA mit Hinweis auf einen Entscheid
der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte des Kantons Zug).

  1.4
  1.4.1  Die inkriminierte Äusserung nimmt im Gesamtzusammenhang ersichtlich
Bezug auf die strittige Frage der Kindeszuteilung: "... Er (der
Beschwerdegegner) ist immer noch im Kampf, und seine Mittel sind nicht schön
oder nicht legal. Das wäre meine grosse Befürchtung bei der Zuteilung der
Tochter an ihn ...". Die inkriminierte Äusserung ist damit sachbezogen.

  1.4.2  In einem Prozess um die Kindeszuteilung ist es notwendig, auf
Umstände hinzuweisen, die für die Kindeszuteilung irgendwie relevant sind.
Zu diesen Umständen können auch etwa Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der
bisherigen Ausübung des Besuchsrechts sowie das Verhalten der einen Partei
gegenüber dem neuen Lebenspartner der andern Partei gehören.

  Im vorliegenden Fall ist allerdings, auch im Gesamtzusammenhang, unklar,
welche Mittel des Beschwerdegegners nach der Meinung des Beschwerdeführers
"nicht legal" seien. Es ist unklar, ob der Beschwerdeführer mit der
inkriminierten Äusserung die - nach der Auffassung der Vorinstanz nicht
strafbaren - Vorwürfe betreffend das Fabrizieren von Beweismitteln oder das
Verfälschen einer Verfügung der Steuerverwaltung gleichsam pauschal
zusammenfassend wiedergeben oder ob er damit, wie er in der
Nichtigkeitsbeschwerde geltend macht, insbesondere auf die rechtskräftige

Verurteilung des Beschwerdegegners (durch Entscheid vom 11. September 2001)
wegen Ehrverletzung zum Nachteil des neuen Lebenspartners seiner Klientin
(begangen im September 1999) hinweisen oder ob er auf irgendwelche andere
Verhaltensweisen des Beschwerdegegners anspielen wollte. Die inkriminierte
Äusserung ist daher nach der insofern zutreffenden Auffassung der Vorinstanz
pauschal. Daraus folgt aber entgegen ihrer Ansicht nicht, dass sie nicht
mehr durch die berufliche Pflicht des Beschwerdeführers zur Wahrung der
Parteiinteressen seiner Klientin gerechtfertigt sei.

  Der Beschwerdeführer hat den Beschwerdegegner nicht durch eine unnötig
verletzende Äusserung verunglimpft. Er hat ihm nicht beispielsweise
"kriminelle Machenschaften" oder "Gangstermethoden" vorgeworfen, sondern,
vergleichsweise zurückhaltend, davon gesprochen, dass die Mittel des
Beschwerdegegners "nicht schön oder nicht legal" seien. Der Beschwerdeführer
hat auch nicht etwa wider besseres Wissen eine schlicht unwahre Behauptung
aufgestellt. Er hätte unter den gegebenen Umständen ungestraft äussern
dürfen, dass sich der Beschwerdegegner nicht legaler Mittel bedient habe,
indem er Beweismittel fabriziert, eine Verfügung der Steuerverwaltung
verfälscht und den neuen Lebenspartner seiner Klientin gemäss
rechtskräftiger Verurteilung in der Ehre verletzt habe. Dass der
Beschwerdeführer sich im inkriminierten Satz nicht ausdrücklich in diesem
Sinne präzise äusserte, sondern bloss pauschal von nicht legalen Mitteln
sprach, woraus sich Interpretationsschwierigkeiten ergeben, läuft im
Ergebnis lediglich auf eine gewisse Übertreibung beziehungsweise Zuspitzung
hinaus, die strafrechtlich nicht ausschlaggebend sein kann. Der
Beschwerdeführer hat sich bloss in einem einzigen Satz seines Plädoyers in
einem zwischen den Parteien heftig geführten Prozess um die Kindeszuteilung
gegenüber der mit den Akten vertrauten Gerichtsinstanz unpräzise geäussert.
Von einem Anwalt kann indessen nicht verlangt werden, dass er jeden
einzelnen Satz seines Plädoyers daraufhin überprüft, wie er von der
Gegenpartei oder von einem aussenstehenden Dritten interpretiert werden
könnte. Wollte man solches fordern und damit den Anwalt wegen unpräziser
oder zugespitzter Äusserungen dem Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung
etwa wegen Ehrverletzung aussetzen, würde die verfassungsrechtlich
geschützte Aufgabe des Anwalts, die Parteiinteressen seines Klienten
umfassend und dezidiert zu wahren, unnötig erschwert.

  1.5  Die inkriminierte Äusserung ist demnach durch die Berufspflicht des
Beschwerdeführers im Sinne von Art. 32 StGB gerechtfertigt.

  Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist daher gutzuheissen und das
Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 27. April 2004 aufzuheben.