Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 II 65



131 II 65

5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Schweizerische Bundesbahnen SBB AG sowie Eidgenössische
Schätzungskommission, Kreis 10 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

    1E.11/2004 vom 1. Dezember 2004

Regeste

    Art. 41 Abs. 1 und 2 EntG; Verwirkung nachträglicher
Entschädigungsforderungen; Voraussetzungen.

    Enteignungsrechtliche Entschädigungsforderungen unterliegen nicht
der Verwirkung, wenn auf diese Folge nicht aufmerksam gemacht worden ist
(E. 1.1) oder wenn die enteigneten Rechte offenkundig und daher auch
ohne Anmeldung zu schätzen sind (E. 1.2). Die Verwirkung ist nicht von
Amtes wegen zu berücksichtigen, wenn der Enteigner auf eine entsprechende
Einrede ausdrücklich verzichtet oder eine solche treuwidrig wäre (E. 1.3).

    Gibt der Enteigner im Zusammenhang mit dem Ausbau seines Werkes dem
Gesuch eines Hauseigentümers um Aufnahme eines Rissprotokolls statt und
zeigt dieses eine Zunahme der Rissbildung auf, so darf der Gesuchsteller
darauf vertrauen, dass der Enteigner mit ihm in Entschädigungsverhandlungen
trete (E. 2). Es kann vom Gesuchsteller nicht verlangt werden, dass er
den Kausalzusammenhang zwischen den Gebäudeschäden und den Bauarbeiten
des Enteigners nachweise (E. 3).

Sachverhalt

    Vor Inangriffnahme der Bauarbeiten für den Eisenbahntunnel der
Doppelspur-Strecke Zürich HB-Thalwil liessen die Schweizerischen
Bundesbahnen SBB AG an verschiedenen Gebäuden Rissaufnahmen erstellen,
so auch am Mehrfamilienhaus Z.-Strasse in Thalwil. Am 27. Mai 1998 nahm
das beauftragte Büro eine Zwischenaufnahme und - nach Abschluss der
Bauarbeiten - am 1. Oktober 2002 eine Endaufnahme vor. Das abschliessende
Rissprotokoll wurde der Grundeigentümerin offenbar am 15. November 2002
zugestellt. Diese versuchte hierauf nach eigener Darstellung mehrmals,
mit den Verantwortlichen der SBB telefonisch in Kontakt zu treten. An
der schliesslich am 6. Juni 2003 durchgeführten Besprechung offerierte
die Projektleitung der Grundeigentümerin eine Entschädigung in Höhe von
Fr. 3'000.-. Die Grundeigentümerin schlug dieses Angebot aus. In der
Folge wurde von den SBB bzw. von deren Haftpflichtversicherung darauf
hingewiesen, dass nach den vorgenommenen Erschütterungsmessungen in Nähe
der fraglichen Liegenschaft die Richtwerte nie überschritten worden und
daher tunnelbaubedingte Schäden unwahrscheinlich seien. Andererseits
werde nicht bestritten, dass eine Zunahme von Rissbildungen festgestellt
worden sei. Das Angebot der SBB zu einer Kostenbeteiligung werde deshalb
erneuert, wobei die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen den Schäden
und den Bauarbeiten der SBB offen bleiben könne. Die Grundeigentümerin
lehnte die vorgeschlagene Regelung erneut ab.

    Nachdem auch weitere Verhandlungen ergebnislos verlaufen waren,
gelangte die Grundeigentümerin mit Schreiben vom 27. Februar 2004 an
den Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 10,
und verlangte, dass die SBB verpflichtet würden, 40 % der Kosten für die
Gebäude-Renovation in Höhe von Fr. 52'000.- zu übernehmen.

    Nach Durchführung einer Augenscheins- und Schätzungsverhandlung
entschied die Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 10, am 28. Mai
2004, die Forderung der Enteigneten infolge Verwirkung nicht zuzulassen.

    Die Schätzungskommission erwog im Wesentlichen, dass die Einhaltung
der in Art. 41 des Enteignungsgesetzes festgelegten sechsmonatigen
Verwirkungsfrist von Amtes wegen zu prüfen sei. Da die Enteignete
spätestens mit der Mitteilung des Rissprotokolls am 15. November 2002
von der behaupteten Schädigung Kenntnis erhalten habe, hätte sie ihr
Entschädigungsbegehren dem Präsidenten der Schätzungskommission oder
einer anderen Behörde bis 15. Mai 2003 zustellen müssen. Die Enteignete
sei aber nicht in der Lage gewesen, genauere Angaben darüber zu machen,
wann sie mit ihrer Forderung erstmals an die Enteignerin gelangt
sei. Beim Präsidenten der Schätzungskommission sei ein Gesuch erst am
2. März 2004 eingegangen. Die Forderung der Enteigneten gelte daher
als verwirkt. Selbst wenn aber die Forderungseingabe zugelassen werden
müsste, wäre sie abzuweisen, da ein Zusammenhang zwischen den geltend
gemachten Gebäudeschäden und den Bauarbeiten nicht nachweisbar sei. Diese
Beweislosigkeit wirke sich zum Nachteil der Gesuchstellerin aus. Gemäss den
Regeln über die Verteilung der materiellen Beweislast müsse der Entscheid
zu Ungunsten jener Partei ausfallen, die aus dem unbewiesen gebliebenen
Sachverhalt Rechte ableiten wolle.

    Gegen dieses Urteil der Eidgenössischen Schätzungskommission hat
die Grundeigentümerin Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben und um eine
angemessene Entschädigung für die Gebäudeschäden ersucht. Das Bundesgericht
heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.  Im angefochtenen Entscheid hat die Eidgenössische
Schätzungskommission von Amtes wegen festgestellt, dass die von der
Enteigneten angemeldete Entschädigungsforderung aufgrund von Art. 41
des Bundesgesetzes über die Enteignung vom 20. Juni 1930 (EntG; SR 711)
verwirkt sei.

    Gemäss Art. 41 Abs. 1 lit. b EntG können Entschädigungsforderungen nach
Ablauf der Eingabefrist unter anderem dann noch geltend gemacht werden,
wenn sich eine nicht vorherzusehende Schädigung erst beim Bau oder nach
Erstellung des Werkes oder als Folge seines Gebrauchs einstellt. Solche
nachträglichen Entschädigungsforderungen gelten nach Art. 41 Abs. 2
lit. b EntG grundsätzlich als verwirkt, falls sie nicht binnen sechs
Monaten beim Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission oder
bei einer anderen Behörde angemeldet werden (vgl. Art. 21 Abs. 2 VwVG;
BGE 113 Ib 34 E. 3). Die Verwirkung tritt jedoch nicht in jedem Falle
ein und ist nach bundesgerichtlicher Praxis auch nicht ausnahmslos von
Amtes wegen zu beachten:

    1.1  In formeller Hinsicht wird für die Verwirkung eines
Entschädigungsanspruchs vorausgesetzt, dass die Verwirkungsfolge den
Enteigneten angedroht worden ist. Die Entschädigungsberechtigten sind daher
durch öffentliche Bekanntmachung und/oder persönliche Anzeige, soweit sie
Anspruch auf eine solche haben (Art. 31 Abs. 1 EntG), ausdrücklich auf die
Bestimmung von Art. 41 EntG aufmerksam zu machen (vgl. Art. 30 Abs. 1 lit.
c, Art. 31 ff. EntG). Hat in der fraglichen Gemeinde keine öffentliche
Planauflage mit entsprechender Bekanntmachung stattgefunden oder ist
dem Enteigneten keine persönliche Anzeige zugegangen, so unterliegen die
nachträglichen Entschädigungsansprüche nicht der Verwirkung gemäss Art. 41
Abs. 2 EntG, sondern der Verjährung (vgl. BGE 105 Ib 6; 116 Ib 11 E. 2b/ee
S. 19; 120 Ib 76 E. 5a S. 87 f.; s.a. BGE 130 II 394 E. 11 S. 414).

    1.2  Gemäss Art. 38 EntG sind die enteigneten Rechte, soweit
sie sich aus der Grunderwerbstabelle ergeben oder offenkundig sind,
von der Schätzungskommission auch ohne Anmeldung zu schätzen. Diese
Regelung gilt ebenfalls in den durch das Bundesgesetz vom 18. Juni
1999 über die Koordination und Vereinfachung von Entscheidverfahren
revidierten spezialrechtlichen Plangenehmigungsverfahren, die mit einem
Enteignungsverfahren verbunden sind (so ausdrücklich in Art. 39 Abs. 2 des
Bundesgesetzes vom 8. März 1960 über die Nationalstrassen in der Fassung
vom 18. Juni 1999). Der Enteigner kann daher hinsichtlich der Rechte, die
ihm bekannt sein müssen, keinen Vorteil aus der Säumnis eines Enteigneten
ziehen (vgl. BGE 116 Ib 386 E. 3d/bb S. 394).

    1.3  Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist beim Entscheid über
die Verwirkung öffentlichrechtlicher Ansprüche zwar von den allgemeinen
(privatrechtlichen) Prinzipien auszugehen, gleichzeitig aber in Betracht
zu ziehen, welches der Zweck der vom Gesetzgeber auf dem fraglichen
Rechtsgebiet getroffenen Verwirkungsregelung sei (BGE 116 Ib 386
E. 3c/bb S. 393 in fine). Da der Zweck der in Art. 41 EntG vorgesehenen
Verwirkung in erster Linie darin liegt, den Enteigner vor nachträglichen
Entschädigungsforderungen zu schützen, welche er nicht erwarten musste
und die sich in unvorhergesehener Weise auf die Kosten seines Werks
auswirken könnten, braucht jedenfalls die Verwirkung dann nicht von Amtes
wegen berücksichtigt zu werden, wenn der Enteigner selbst von ihr absehen
will. In diesem Sinne hat das Bundesgericht die Frage der Rechtzeitigkeit
der Forderungsanmeldung offen gelassen, nachdem der Enteigner ausdrücklich
darauf verzichtet hatte, sich auf die Verwirkung zu berufen (Urteil i.S. S.
vom 29. März 1990). Weiter ist stets betont worden, dass die Verwirkung
nicht von Amtes wegen beachtet werden dürfe, wenn die entsprechende
Einrede als rechtsmissbräuchlich bzw. unvereinbar mit dem Gebot von Treu
und Glauben erschiene. Dies gilt vor allem dann, wenn der Enteignete
durch das Verhalten des Enteigners von einer rechtzeitigen Anmeldung
seiner Begehren abgehalten wird, so etwa, wenn der Enteignete aufgrund
von Verhandlungen mit dem Enteigner zur Annahme berechtigt ist, dieser
trete auf seine Ansprüche ein (BGE 106 Ib 235 E. 2b S 235 mit Hinweisen;
111 Ib 280 E. 3a S. 284; 113 Ib 34 E. 3 S. 38; 116 Ib 386 E. 3c/bb S. 393).

Erwägung 2

    2.  Für den vorliegenden Fall ergibt sich aus diesen Grundsätzen
Folgendes:

    2.1  Den eingereichten Akten lässt sich entnehmen, dass in der
Gemeinde Thalwil für das Tunnelbauprojekt eine öffentliche Planauflage
stattgefunden hat. Es darf davon ausgegangen werden, dass die Planauflage
mit den nötigen Bekanntmachungen und Hinweisen auf die Rechtsfolgen im
Sinne von Art. 30 Abs. 1 lit. c EntG verbunden war. Die Bestimmungen von
Art. 41 EntG sind daher grundsätzlich anwendbar.

    2.2  Aus den Akten ergibt sich ebenfalls, dass seinerzeit
nicht vorgesehen war, ein Rissprotokoll für die hier umstrittene
Liegenschaft zu erstellen. Der damalige Eigentümer und Rechtsvorgänger
der Beschwerdeführerin hat jedoch die SBB um eine solche Rissaufnahme
ersucht. Er wies darauf hin, dass die Zufahrt zur Baustelle für den im
Tagbau zu erstellenden Tunnel u.a. über die Z.-Strasse führen werde und
mit beträchtlichem Werkverkehr sowie umfangreichen Materialtransporten
zu rechnen sei; zudem würden in der Nähe seiner Liegenschaft schwere
Baumaschinen eingesetzt, die Vibrationen erzeugten. Die SBB haben
dem Gesuch des Grundeigentümers stattgegeben und die verlangten
Beweissicherungsmassnahmen treffen lassen. Es fragt sich, ob mit der
Anordnung dieser vorsorglichen Beweiserhebung nicht bereits eine Situation
geschaffen wurde, in welcher der Grundeigentümer von einer Fortsetzung der
Verhandlungen mit der Enteignerin ausgehen durfte. Jedenfalls aber hat die
Beschwerdeführerin nach Zustellung des abschliessenden Rissprotokolls, das
eine Zunahme der Risse zeigt, ohne weiteres erwarten dürfen, dass die SBB
zur Festlegung oder Bestreitung der Entschädigungspflicht mit ihr Kontakt
aufnehmen würden. Dass die Beschwerdeführerin erst etwas unternommen hat,
nachdem sie längere Zeit ohne Nachricht von der Enteignerin geblieben war,
kann ihr daher nicht als Säumnis vorgeworfen werden. Im Übrigen hat die
Enteignerin vor der Schätzungskommission die Verwirkung nie angerufen und
- wie in einer Aktennotiz festgehalten ist - gegenüber dem Präsidenten
sogar erklärt, es wäre wohl stossend, diese Einrede nachträglich zu
erheben. Ob darin ein ausdrücklicher Verzicht auf die Verwirkungseinrede
erblickt werden könnte, kann offen bleiben, da die Beschwerdeführerin wie
dargelegt darauf vertrauen durfte, die Enteignerin trete auf die durch
das Rissprotokoll belegten Entschädigungsansprüche ein. Der angefochtene
Entscheid, mit dem die Verwirkung der Entschädigungsforderung festgestellt
worden ist, ist daher aufzuheben.

Erwägung 3

    3.  Die Schätzungskommission hat das Entschädigungsbegehren
der Beschwerdeführerin nicht nur für verwirkt, sondern auch für
unbegründet erklärt, weil die Enteignete den Kausalzusammenhang
zwischen den Bauarbeiten der SBB und den zusätzlichen Rissen an
ihrem Haus nicht nachgewiesen bzw. nicht dargelegt habe, wie dieser
Zusammenhang nachzuweisen sei. Auch in dieser Hinsicht vermag der
angefochtene Entscheid nicht zu überzeugen. Es kann von einem Laien
nicht verlangt werden, den - schwierigen - Beweis dafür zu erbringen,
dass die Rissbildung an einem Gebäude auf die Bauarbeiten oder den
Werkverkehr des Enteigners zurückzuführen sei. Ebenso wenig kann vom
Enteigneten erwartet werden, dass er einen Experten mit Abklärungen
betraue, sind doch in den Schätzungskommissionen selbst die nötigen
Fachleute vertreten oder können solche zusätzlich beigezogen werden
(vgl. Art. 40 und Art. 49 der Verordnung vom 24. April 1972 für die
eidgenössischen Schätzungskommissionen [SR 711.1]; BGE 109 Ib 26 E. 3
S. 35 f.). Die Fachrichter der Schätzungskommission haben hier denn
auch festgestellt, dass aufgrund der von der Enteignerin vorgelegten
Erschütterungsmessungen nicht geschlossen werden könne, die Risse seien
zwingend auf andere Ursachen als die Bauarbeiten zurückzuführen. Im
Übrigen ist von Seiten der Enteignerin erwogen worden, gewisse Schäden am
Gebäude wären wohl ohnehin entstanden, könnten aber möglicherweise infolge
der Erschütterungseinwirkungen früher eingetreten sein. Die Enteignerin
schliesst somit eine raschere Alterung der Fassaden selbst nicht aus, für
welche sie grundsätzlich einzustehen hat (vgl. sinngemäss Urteil 1E.14/1994
vom 31. Dezember 1996, E. 7). Die Sache ist demnach zu zusätzlicher
Beweiserhebung an die Schätzungskommission zurückzuweisen. Könnte
übrigens der Kausalzusammenhang zwischen Bauarbeiten und Gebäudeschäden
weder nachgewiesen noch völlig ausgeschlossen werden, fiele auch die
Möglichkeit in Betracht, der Enteigneten einen nach Billigkeitsüberlegungen
festzusetzenden Beitrag zur Schadensbehebung zuzusprechen.