Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 III 553



131 III 553

71. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y.
(Berufung)

    5C.63/2005 vom 1. Juni 2005

Regeste

    Anhörung der Kinder (Art. 144 Abs. 2 ZGB).

    Im Sinn einer Richtlinie ist die Kinderanhörung grundsätzlich ab dem
vollendeten sechsten Altersjahr möglich (E. 1).

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.  Die Klägerin beanstandet die unterbliebene Anhörung der Kinder
und macht eine Verletzung von Art. 144 Abs. 2 ZGB sowie von Art. 12 der
UNO-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989 (KRK; SR 0.107) geltend.

    1.1  Art. 144 Abs. 2 ZGB bestimmt, dass bei Anordnungen über Kinder
diese in geeigneter Weise durch das Gericht oder durch eine beauftragte
Drittperson persönlich anzuhören sind, soweit nicht ihr Alter oder andere
wichtige Gründe dagegen sprechen. Diese Norm findet auf alle gerichtlichen
Verfahren Anwendung, in denen Kinderbelange zu regeln sind. Sie gilt
demnach nicht nur im Scheidungs-, sondern auch im Eheschutzverfahren
sowie namentlich für die vorsorglichen Massnahmen im Sinn von Art. 137 ZGB
(siehe BGE 126 III 497) und im Abänderungsverfahren nach Art. 134 ZGB.

    Die Anhörung ist Ausfluss der Persönlichkeit des Kindes und somit
ein höchstpersönliches Recht (dazu insb. SCHÜTT, Die Anhörung des Kindes
im Scheidungsverfahren, Diss. Zürich 2002, S. 50 ff.). Sobald das Kind
urteilsfähig ist, nimmt es seinen Anspruch selbst wahr; ab diesem
Stadium erhält der Gehörsanspruch die Komponente eines persönlichen
Mitwirkungsrechts, welches das Kind insbesondere berechtigt, (auch im
Verfahren seiner Eltern) die Anhörung zu verlangen, soweit es betroffen ist
(SCHÜTT, aaO, S. 51 und 81 ff.; LEVANTE, Die Wahrung der Kindesinteressen
im Scheidungsverfahren - die Vertretung des Kindes im Besonderen, Diss. St.
Gallen 2000, S. 42; RUMO-JUNGO, Die Anhörung des Kindes [im Folgenden:
Anhörung], in: AJP 1999 S. 1579 und 1589; BODENMANN/RUMO-JUNGO, Die
Anhörung von Kindern, in: FamPra.ch 2003 S. 24). Daneben dient die Anhörung
unabhängig vom Alter des Kindes der (von Amtes wegen vorzunehmenden, vgl.
Art. 145 ZGB) Ermittlung des Sachverhalts (REUSSER, Die Stellung des Kindes
im neuen Scheidungsrecht, in: Vom alten zum neuen Scheidungsrecht, Bern
1999, N. 4.75; FREIBURGHAUS, Auswirkungen der Scheidungsrechtsrevision
auf die Kinderbelange und die vormundschaftlichen Organe [im Folgenden:
Auswirkungen], in: ZVW 1999 S. 141; SCHWEIGHAUSER, in: Praxiskommentar
Scheidungsrecht, Basel 2000, N. 7 zu Art. 144 ZGB; SCHÜTT, aaO, S. 52 f.),
weshalb die Eltern die Anhörung des Kindes aufgrund ihrer Parteistellung
als Beweismittel anrufen können (SCHÜTT, aaO, S. 51 f. und 99; vgl. auch
RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1579 und 1589; Bodenmann/ RUMO-JUNGO, aaO,
S. 24). In dieser Hinsicht geht Art. 144 ZGB über Art. 12 KRK hinaus,
der ein Meinungsäusserungsrecht in allen das Kind belangenden Verfahren
gewährt, soweit dieses fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden,
was nach der Lehre mit der Urteilsfähigkeit im Sinn von Art. 16 ZGB
gleichzusetzen ist (BRÄM, Die Anhörung des Kindes im neuen Scheidungsrecht,
in: AJP 1999 S. 1570; vgl. auch BIRCHLER, Die Anhörung des Kindes, in:
ZVW 2000 S. 239; SCHÜTT, aaO, S. 29 ff. und 68; vgl. schliesslich BGE
120 Ia 369 E. 1 S. 371).

    Der im Rahmen des revidierten Scheidungsrechts am 1. Januar 2000
in Kraft getretene Art. 144 Abs. 2 ZGB stellt im Sinn der vorstehenden
Ausführungen klar, dass Kinder grundsätzlich anzuhören sind, soweit nicht
einer der beiden Ausnahmetatbestände - Alter oder andere wichtige Gründe -
gegeben ist (vgl. namentlich: LEVANTE, aaO, S. 43; RUMO-JUNGO, Anhörung,
S. 1581). Insofern ist der vom Obergericht für seinen ablehnenden
Entscheid angerufene BGE 122 III 401 obsolet; dieser Entscheid erging zum
alten Scheidungsrecht, wo die Kinderanhörung gesetzlich nicht vorgesehen
war, aber Zuteilungswünsche älterer Kinder aufgrund der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung in die Entscheidfindung miteinzubeziehen waren.

    1.2  Das Gesetz selbst legt nicht fest, bis zu welchem Alter von
einer Anhörung abzusehen sei; auch der Botschaft zum neuen Scheidungsrecht
lässt sich keine konkrete Alterslimite entnehmen.

    1.2.1  Auch das Bundesgericht hat bislang kein Schwellenalter für
die Anhörung von Kindern festgelegt. In seiner bisherigen Rechtsprechung
hat es lediglich festgehalten, die Anhörung eines normal entwickelten
9½-jährigen Kindes sei nicht willkürlich (Urteil 5P.204/2002 vom 6. August
2002, E. 3.4), während es den Verzicht auf die Anhörung von zehn- und
zwölfjährigen Kindern entgegen dem ausdrücklichen Begehren und ohne Angabe
von Gründen als willkürlich erachtet hat (Urteil 5P.112/2001 vom 27. August
2001, E. 4). Hingegen hat das Bundesgericht entschieden, es sei nicht
willkürlich, wenn das Gericht davon absehe, ein sieben- bzw. fünfjähriges
Kind, das bereits im Rahmen einer psychologischen Begutachtung befragt
worden und im Übrigen durch die chronische Auseinandersetzung zwischen
den Eltern stark belastet war, erneut anzuhören (Urteil 5P.322/2003 vom
18. Dezember 2003, E. 3.2). Sodann hat es den Verzicht auf die Anhörung
eines knapp sechsjährigen Kindes geschützt, weil dieses bis anhin nie
Kontakt zum Vater gehabt hatte und sich deshalb keine eigene Meinung
bilden konnte (BGE 124 III 90); bei diesem Fall gilt es im Übrigen zu
beachten, dass einzig eine Verletzung von Art. 12 KRK zu prüfen war,
der im Gegensatz zu Art. 144 Abs. 2 ZGB die Urteilsfähigkeit des Kindes
voraussetzt (vgl. Ziff. 1.1).

    In der gelebten kantonalen Rechtspraxis scheint ein grosser
Teil der Gerichte bis zum elften bzw. zwölften Altersjahr von einer
Anhörung abzusehen, wenn die Zuteilung der Kinder unstrittig ist
und keine Anhaltspunkte bestehen, dass durch die gewählte Lösung das
Kindeswohl gefährdet wird (vgl. BIRCHLER, aaO, S. 240; SCHÜTT, aaO,
S. 71; STAUBLI, Anhörung und Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen in
allen sie betreffenden Verfahren, insbesondere im Scheidungsverfahren,
in: Kinderrechte - Kinderschutz, Basel 2002, S. 98; SUTER, L'audition de
l'enfant en procédure matrimoniale, in: Revue jurassienne de jurisprudence
[RJJ] 2002 S. 33).

    In der Literatur gehen die Meinungen zur Frage, bis zu welchem Alter
in jedem Fall von einer Anhörung abzusehen sei, auseinander. Auf die
deutsche Praxis verweisend, nach der Kinder teilweise ab dem zweiten
und jedenfalls ab dem dritten Lebensjahr angehört werden, plädieren
einige Autoren für eine Anhörung ab diesem Alter (BREITSCHMID, Kind und
Scheidung der Elternehe, in: Das neue Scheidungsrecht, Zürich 1999,
S. 123 f.; vgl. auch JACCOTTET TISSOT, L'audition de l'enfant, in:
FamPra.ch 2000 S. 83) oder jedenfalls ab einem solchen von fünf bis
sechs Jahren (BODENMANN/ RUMO-JUNGO, aaO, S. 26; RUMO-JUNGO, Anhörung,
S. 1582; derselbe, Das Kind und die Scheidung seiner Eltern: ausgewählte
Fragen, in: Kindeswohl, Zürich 2003, S. 156; ZIMMERMANN, Le témoignage
d'enfants dans le contexte juridique: la question de la suggestibilité,
in: Revue valaisanne de jurisprudence (RVJ) 2002 S. 126; vgl. auch
SUTTER/FREIBURGHAUS, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999,
N. 35 zu Art. 144 ZGB). Der wohl überwiegende Teil der Lehre plädiert
für eine Anhörung nicht vor sechs bzw. sieben Jahren (FREIBURGHAUS,
Auswirkungen, S. 142; derselbe, Der Einfluss des Übereinkommens auf die
schweizerische Rechtsordnung, in: Die Rechte des Kindes, 2001, S. 195;
HAUSHEER, Die wesentlichen Neuerungen des neuen Scheidungsrechts, in:
ZBJV 135/1997 S. 29; auf Letzteren verweisend: REUSSER, aaO, N. 4.79;
LEVANTE, aaO, S. 43 f.).

    1.2.2  Das Gesetz spricht von einer "Anhörung", was semantisch eine
verbale Äusserung des Kindes voraussetzt; die blosse "Anschauung" oder
Beobachtung des Kindes wird diesem Erfordernis nicht gerecht. Folglich
setzt die Anhörung ein entsprechendes Alter des Kindes voraus und insofern
ist sie von der kinderpsychiatrischen Begutachtung abzugrenzen, bei der die
Beobachtung des Kindes eine von mehreren Erkenntnisquellen darstellen kann
und für deren Anordnung kein bestimmtes Mindestalter vorausgesetzt ist.

    Auf der anderen Seite ist das Schwellenalter für die Anhörung
aber auch zu unterscheiden von der kinderpsychologischen Erkenntnis,
dass formallogische Denkoperationen erst ab ungefähr elf bis dreizehn
Jahren möglich sind und auch die sprachliche Differenzierungs- und
Abstraktionsfähigkeit erst ab ungefähr diesem Alter entwickelt ist
(vgl. FELDER/NUFER, Die Anhörung des Kindes aus kinderpsychologischer
Sicht [im Folgenden: Anhörung], in: Vom alten zum neuen Scheidungsrecht,
Bern 1999, N. 4.131; dieselben, Richtlinien für die Anhörung des Kindes
aus kinderpsychologischer/kinderpsychiatrischer Sicht gemäss Art. 12 der
UNO-Konvention über die Rechte des Kindes [im Folgenden: Richtlinien],
in: SJZ 95/1999 S. 318; NUFER, Die Kommunikationssituation bei der
Anhörung von Kindern, in: SJZ 95/1999 S. 317, sowie in: ZVW 1999 S.
209). Die Anhörung setzt nicht voraus, dass das Kind im Sinn von Art. 16
ZGB urteilsfähig ist. Bei kleineren Kindern ist auch nicht nach konkreten
Zuteilungswünschen zu fragen, können sich diese doch hierüber noch gar
nicht losgelöst von zufälligen gegenwärtigen Einflussfaktoren äussern
und in diesem Sinn eine stabile Absichtserklärung abgeben (vgl. ARNTZEN,
Elterliche Sorge und Umgang mit Kindern, München 1994, S. 12 und 65;
FELDER/NUFER, Richtlinien, S. 318; dieselben, Anhörung, N. 4.131). Die
Aussagen jüngerer Kinder haben deshalb für die Zuteilungsfrage nur einen
beschränkten Beweiswert (HAUSHEER, aaO, S. 29; REUSSER, aaO, N. 4.79). Bei
ihnen geht es in erster Linie darum, dass sich das urteilende Gericht ein
persönliches Bild machen kann und über ein zusätzliches Element bei der
Sachverhaltsfeststellung und Entscheidfindung verfügt (vgl. BRÄM, aaO, S.
1569; SchweigHAUSER, aaO, N. 7 zu Art. 144 ZGB; FELDER/ NUFER, Anhörung,
N. 4.128).

    1.2.3  Aus den genannten Gründen geht das Bundesgericht im Sinn
einer Richtlinie davon aus, dass die Kinderanhörung grundsätzlich ab dem
vollendeten sechsten Altersjahr möglich ist. Indes ist nicht von vornherein
ausgeschlossen, dass sich je nach den konkreten Umständen auch die Anhörung
eines etwas jüngeren Kindes aufdrängen könnte, etwa wenn von mehreren
Geschwistern das jüngste kurz vor dem genannten Schwellenalter steht.

    1.2.4  Vorliegend hatte die Klägerin die Einvernahme der sieben-
und neunjährigen Mädchen beantragt. Weil die Anhörung als Pflichtrecht
ausgestaltet ist (vgl. RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1579), wäre das Obergericht
folglich - unter Vorbehalt anderer wichtiger Gründe (dazu Ziff. 1.3)
- in Anwendung von Art. 144 Abs. 2 ZGB zur Anhörung der beiden Kinder
verpflichtet gewesen. Mit seiner Begründung, die Kinder seien zu einer
Stellungnahme noch gar nicht in der Lage und ihren Aussagen könnte ohnehin
kein bedeutendes Gewicht beigemessen werden, verkennt das Obergericht
die grundsätzliche Bedeutung und den persönlichkeitsrechtlichen Aspekt
der Kinderanhörung. Nichts anderes ergibt sich aus dem vom Obergericht
aufgeführten BGE 127 III 295, wurde doch in jenem Fall von der (erneuten)
Einvernahme eines neunjährigen Kindes, das seinen Vater kaum je gesehen
hatte, im Wesentlichen deshalb abgesehen, weil es bereits im Rahmen eines
umfassenden Gutachtens durch einen Kinderpsychiater befragt worden war.

    1.3  Nebst dem Kindesalter kann auch aus anderen wichtigen Gründen,
die das Gesetz wiederum nicht näher spezifiziert, von der Anhörung
abgesehen werden.

    1.3.1  Die Botschaft nennt beispielhaft die Ablehnung der Anhörung
durch das Kind als wichtigen Grund (BBl 1996 I 144), wobei sicherzustellen
wäre, dass das Kind dabei nicht durch einen Elternteil beeinflusst ist. Die
Literatur nennt als weitere wichtige Gründe den begründeten Verdacht auf
Repressalien gegenüber dem Kind, dessen dauernder Aufenthalt im Ausland,
die Beeinträchtigung von dessen Gesundheit durch die Anhörung sowie die
besondere Dringlichkeit der Anordnungen (vgl. namentlich: REUSSER, aaO,
N. 4.85; ZIMMERMANN, aaO, S. 126; BALTZER-BADER, Die Anhörung des Kindes -
praktisches Vorgehen, in: AJP 1999 S. 1576). Schliesslich würde es keinen
Sinn machen, ein Kind anzuhören, das geistig behindert oder in seiner
Entwicklung in einer Weise retardiert ist, dass seinen Ausführungen kein
Aussagewert beigemessen werden könnte. Hingegen würde es nicht angehen,
auf die Anhörung mit dem (nicht weiter belegten) Vorwand zu verzichten,
man wolle dem Kind die Belastung ersparen (BRÄM, aaO, S. 1571; RUMO-JUNGO,
Anhörung, S. 1582).

    1.3.2  Das Obergericht hat bei seinem ablehnenden Entscheid unter
anderem auf die Briefchen der Kinder - nach dem einen möchten sie gerne
bei der Mutter wohnen, nach dem andern freuen sie sich, beim Vater zu
leben - und die Zeugenaussage der Leiterin des Kinderhorts verwiesen,
wonach der betreffende Entscheid für die Mädchen ein Problem sei, weil sie
keinem der Elternteile wehtun möchten. Das Gericht hat daraus gefolgert,
dass die Kinder in einem Loyalitätskonflikt stünden und die Anhörung für
sie eine Belastung darstellen würde.

    1.3.3  Im Normalfall sind Kinder beiden Elternteilen gleichermassen
zugeneigt und sie wünschen sich in Trennungssituationen deren
Wiedervereinigung (ARNTZEN, aaO, S. 1 f.). Deshalb steht fast jedes
Scheidungskind in einem latenten oder offenen Loyalitätskonflikt,
der sich mehr oder weniger belastend auswirkt. Insofern könnte die
Kinderanhörung mit dem blossen Verweis auf die - letztlich bei jedem
familienrechtlichen Verfahren auf die eine oder andere Weise bestehende -
Belastungssituation systematisch unterlaufen werden. Nicht zu übersehen
ist in diesem Zusammenhang schliesslich die Tatsache, dass in aller Regel
nicht die (einmalige) Anhörung, sondern die (gegebenenfalls chronisch
konfliktbeladene) Familiensituation die eigentliche Belastung für das Kind
darstellt. Deshalb darf von einer beantragten Anhörung nur dann abgesehen
werden, wenn - nebst anderen möglichen Gründen (dazu Ziff. 1.3.1) - eine
eigentliche Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Gesundheit
des Kindes zu befürchten ist. Aus dem für das Bundesgericht verbindlich
festgestellten Sachverhalt (Art. 63 Abs. 2 OG) gehen keine Anzeichen für
eine Belastung hervor, die über das hinausginge, was jedem Verfahren,
in welchem Kinderbelange zu regeln sind, inhärent ist.

    1.4  Aus dem Gesagten ergibt sich, dass das Obergericht mit der
Verweigerung der von der Klägerin beantragten Kindesanhörung Art. 144
Abs. 2 ZGB verletzt hat.