Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 III 505



131 III 505

65. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y.
(Berufung)

    5C.269/2004 vom 16. Juni 2005

Regeste

    Störung des Grundeigentümers einer Strassenparzelle durch Laubfall
überragender Äste; übermässige Immission (Art. 679 und 684 ZGB); Kapprecht
(Art. 687 Abs. 1 ZGB); Eigentumsfreiheitsklage (Art. 641 Abs. 2 ZGB).

    Die Verschmutzung einer Strassenparzelle durch Laubfall überragender
Äste der sich auf der Nachbarparzelle befindenden Bäume stellt
grundsätzlich keine übermässige Immission dar (E. 4.2).

    Zur Beseitigung der Störung stehen dem Eigentümer der Strassenparzelle
das Kapprecht sowie die Eigentumsfreiheitsklage als gleichwertige
Rechtsbehelfe zur Verfügung. Die beim Kapprecht vorausgesetzte erhebliche
Schädigung ist auch bei der Eigentumsfreiheitsklage zu berücksichtigen
(E. 5).

Sachverhalt

    X. ist Eigentümerin der Strassenparzelle Nr. 1, Grundbuch A. in B. Y.
gehören die Liegenschaften Nrn. 2 und 3, beide Grundbuch A. in B. Sie
liegen links und rechts der Strassenparzelle Nr. 1 und werden durch
diese erschlossen. Auf den Grundstücken von Y. befinden sich insgesamt
sechs Bäume; zwei auf Grundstück Nr. 3 (Serbische Fichte und Hängebuche)
und vier auf Grundstück Nr. 2 (Japanische Zierkirsche, Serbische Fichte,
Japanischer Fächerahorn und Hängebuche).

    X. klagte beim Kantonsgericht Nidwalden gegen Y. Im Rahmen des
erstinstanzlichen Verfahrens vertrat sie die Ansicht, ihr stehe ein
Beseitigungsanspruch aus Bundesrecht zu, da der Blattabfall der Bäume im
Herbst zu einem gefährlichen Zustand auf der Strassenparzelle führe. In
einem Eventualbegehren beantragte sie, der Beklagte sei zu verpflichten,
die die Strassenparzelle überragenden Äste der Bäume zu beseitigen. Das
Kantonsgericht wies die Klage ab.

    Gegen dieses Urteil reichte die Klägerin beim Obergericht des Kantons
Nidwalden Appellation ein. Nachdem das Obergericht einen Augenschein
durchgeführt hatte, wies es die Appellation ab und bestätigte das
erstinstanzliche Urteil. Es kam zum Schluss, der Klägerin stehe ein
Beseitigungsanspruch gestützt auf Art. 679 i.V.m. Art. 684 ZGB nicht zu,
da der behauptete Laubabfall keine übermässige Immission im Sinne des
Gesetzes darstelle. Aber auch der Eigentumsfreiheitsklage nach Art. 641
Abs. 2 ZGB sei kein Erfolg beschieden.

    Das Bundesgericht weist die Berufung der Klägerin ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.

    4.2  Nach den für das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen
Feststellungen des Obergerichts anlässlich des Augenscheins (Art. 63
Abs. 2 OG) leben die Parteien in B., einem abgelegenen Ortsteil von
A., welcher nur über eine enge und für nicht Ortsansässige nur unter
bestimmten Umständen befahrbare Strasse erreichbar ist. Nahezu auf dem
gesamten Streckenstück zwischen A. und B. befindet sich immer wieder
Laub auf der Strasse. Das Quartier, in welchem die Parteien wohnen,
gilt als Villenquartier ohne Durchgangsverkehr. Strassenbenutzer sind
im Wesentlichen die Bewohner des Quartiers. Praktisch um jedes Haus in
der Nachbarschaft der Klägerin stehen Bäume, zum Teil dicht, so dass
sie Waldcharakter vermitteln. Die Bäume machen einen wesentlichen Teil
des Quartiercharakters aus. Hervorgehoben wird schliesslich, dass der
Laubfall im Herbst kaum mehr als einen Monat dauert.

    Erfahrungsgemäss kann Laubfall namentlich in Verbindung mit Nässe
und kalter Witterung Strassen glitschig machen und insoweit zu einer
gewissen Beeinträchtigung führen, die aber normalerweise nicht als
übermässig im Sinne des Art. 684 ZGB zu gelten hat. Angesichts der
örtlichen Gegebenheiten ist Laubfall auf dem fraglichen Strassenabschnitt
nichts Aussergewöhnliches. Dass bei Laubfall, insbesondere in Verbindung
mit Schnee, Eis und Regen besondere Vorsicht am Platz ist, entspricht
allgemeiner Erfahrung und kann vorausgesetzt werden. Die in Frage
stehende Beeinträchtigung dauert kaum mehr als einen Monat, und man
ist ihr, anders als bei Rauch, schlechten Dünsten oder Schattenwurf,
nicht einfach ausgeliefert, sondern kann sich dagegen wappnen, indem
man vorsichtig fährt und die Geschwindigkeit den Strassenverhältnissen
anpasst. Indem das Obergericht die Übermässigkeit der Einwirkung verneint
hat, hat es Art. 684 ZGB nicht verletzt.

Erwägung 5

    5.  Die Klägerin stützt ihren Beseitigungsanspruch auch auf
Art. 641 Abs. 2 ZGB, da jedenfalls die beiden Hängebuchen mit ihrem
mächtigen Astwerk die Grenze ihrer Liegenschaft überragten und damit ihr
Eigentum verletzten; eine Schädigung sei nicht erforderlich. Dem halten
Vorinstanz und Beklagter unter Hinweis auf das Kapprecht entgegen, dass
der (nachbarrechtliche) Anspruch auf Beseitigung von überragenden Ästen
eine Schädigung des Eigentums voraussetze, die vorliegend zu verneinen sei.

    5.1  Art. 641 Abs. 2 ZGB berechtigt den Eigentümer unter anderem
dazu, jede ungerechtfertigte Einwirkung in sein Eigentum abzuwehren. Dem
Eigentümer des Nachbargrundstückes steht namentlich ein Anspruch auf
Beseitigung des Störungszustandes zu, sofern unmittelbar (direkt) in die
Substanz seines Grundstücks eingegriffen wird (BGE 107 II 134 E. 3 S. 136
ff.; 111 II 24 E. 2b S. 26; STEINAUER, Les droits réels, Bd. 2, 3. Aufl.
2002, Rz. 1896; MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 89, 103 und 109 zu Art.
641 ZGB). Dabei gilt die blosse Tatsache eines objektiv rechtswidrigen
Eingriffs, z.B. durch Hinüberragen eines Gebäudes über die Grenze,
als ungerechtfertigte Einwirkung, ohne dass eine Schädigung der Sache
erforderlich wäre (MEIER-HAYOZ, aaO, N. 104 zu Art. 641 ZGB sowie N. 40
zu Art. 687/688 ZGB).

    5.2  Demgegenüber setzt das Kapprecht voraus, dass die überragenden
Äste oder eindringenden Wurzeln das Eigentum des Nachbarn schädigen (Art
687 Abs. 1 ZGB). Wiewohl überragende Äste und eindringende Wurzeln von
Bäumen unmittelbare Einwirkungen auf das Nachbargrundstück bedeuten, sollen
sie nachbarlichen Abwehransprüchen nicht allein schon deshalb zum Opfer
fallen, weil sie in den nachbarschaftlichen Herrschaftsbereich hineinragen,
wenn dadurch keine erhebliche, übermässige Schädigung des Eigentums bewirkt
wird (MEIER-HAYOZ, aaO, N. 24 zu Art. 687/ 688 ZGB; REY, Basler Kommentar,
N. 8 zu Art. 687/688 ZGB; derselbe, Die Grundlagen des Sachenrechts und
das Eigentum, 2. Aufl. 2000, Rz. 1185). Das Erfordernis einer erheblichen
Schädigung zur Ausübung des Kapprechts bezweckt den Schutz der Bäume
vor unverhältnismässiger oder gar zweckloser Beschädigung (MEIER-HAYOZ,
aaO, N. 22 zu Art. 687/688 ZGB; ROOS, Pflanzen im Nachbarrecht, Zürich
2002, S. 69 und 94). Was die Übermässigkeit der (nicht zu tolerierenden)
Einwirkungen anbelangt, wird in der Literatur zu Recht die Analogie zu
Art. 684 ZGB und den diesbezüglich massgebenden Kriterien zur Beurteilung
der Übermässigkeit hervorgehoben (statt vieler: STEINAUER, aaO, Rz. 1833).

    Im vorliegenden Fall gelangt allerdings Art. 687 ZGB insoweit nicht
zur Anwendung, als die Klägerin weder beanspruchte, vom Selbsthilferecht
Gebrauch zu machen, noch ihre Klage auf diese Bestimmung stützte
(welche Möglichkeit in der Literatur vereinzelt bejaht wird [ROOS, aaO,
S. 93]). Vielmehr beruft sie sich auf Art. 641 Abs. 2 ZGB.

    5.3  Im älteren Schrifttum war noch die Auffassung vertreten worden,
die von der Spezialnorm (Art. 687 Abs. 1 ZGB) vorgesehene Selbsthilfe
schliesse Gerichtshilfe und namentlich die actio negatoria (Art. 641
Abs. 2 ZGB) als allgemeine Norm aus (LEEMANN, Berner Kommentar, N. 12
zu Art. 687/688 ZGB; GISIGER, Kapprecht und Anries, Diss. Zürich 1922,
S. 36 f.). Bei einer solchen Rechtslage stellte sich die Frage, ob
die Beseitigung überragender Äste und eindringender Wurzeln auch ohne
Nachweis einer Schädigung möglich sei, gar nicht. Heute stehen Doktrin und
(kantonale) Praxis auf dem Standpunkt, dass die Anrufung des Richters
sowie die Selbsthilfe grundsätzlich als gleichwertige Rechtsbehelfe
nebeneinander zur Verfügung stehen (statt vieler: MEYER-HAYOZ, aaO, N. 40
zu Art. 687/688 ZGB; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, Zürcher Kommentar,
N. 11 zu Art. 687/688 ZGB). Damit ist allerdings das Verhältnis der
beiden Normen noch nicht restlos geklärt, sondern es stellt sich die
im vorliegenden Verfahren aufgeworfene Frage, ob die beim Kapprecht
(Art. 687 Abs. 1 ZGB) vorausgesetzte Schädigung des Eigentums bei der
actio negatoria ebenfalls zu berücksichtigen ist.

    5.4  Zu dieser Frage musste sich das Bundesgericht bislang nicht
äussern. In der Lehre ist sie umstritten. Den Materialien lässt sich
hierzu nichts entnehmen. MEIER-HAYOZ vertritt die Auffassung, dass der
Nachbar, selbst wenn er durch in seinen Herrschaftsbereich übergreifende
Pflanzen nicht geschädigt werde, diese dennoch nicht dulden müsse, sondern
mit der actio negatoria deren Beseitigung verlangen könne (aaO, N. 26 und
40 zu Art. 687/ 688 ZGB). Er begründet dies mit dem Hinweis darauf, dass
das Eindringen von Ästen und Wurzeln in einen fremden Herrschaftsbereich
einen unmittelbaren und daher an sich schon ungerechtfertigten Eingriff
bedeute, der von der actio negatoria erfasst werde, welche vom in Art. 687
ZGB geregelten Rechtsbehelf unabhängig sei. Im gleichen Sinne äussern
sich REY (aaO, N. 12 zu Art. 687/ 688 ZGB), WALDIS (Das Nachbarrecht,
4. Aufl. 1953, S. 125 Fn. 21) und SOMMER (Nachbarrecht, 1995, S. 79);
nicht klar: PIOTET (Le droit privé vaudois de la propriété foncière,
Lausanne 1991, S. 110).

    Andere Autoren, wenn auch teilweise mit nuancierter Begründung,
vertreten die (gegenteilige) Auffassung, dass der gestützt auf die actio
negatoria (Art. 641 Abs. 2 ZGB) erhobene Anspruch auf Beseitigung von Ästen
und Wurzeln ebenfalls von einer Schädigung des Eigentums, wie sie für
die Ausübung des Kapprechts Voraussetzung ist, abhängig sei (ROOS, aaO,
S. 94; LINDENMANN, Bäume und Sträucher im Nachbarrecht, 1988, S. 74 f.;
im Ergebnis ebenso LEEMANN (aaO, N. 12 zu Art. 687/688 ZGB) und GISIGER,
(aaO, S. 36 f.; allerdings infolge Ausschlusses der actio negatoria).
Diese Auffassung überzeugt.

    5.5  Was unter ungerechtfertigter Einwirkung auf das Eigentum zu
verstehen ist, ergibt sich nicht unmittelbar aus Art. 641 Abs. 2 ZGB,
sondern bestimmt sich bei benachbarten Grundstücken vor allem nach den
Regeln des Nachbarrechts, namentlich nach Art. 679 und Art. 684 ZGB
(vgl. MEIER/HAYOZ, aaO, N. 100 zu Art. 641 ZGB; REY, aaO, N. 63 zu
Art. 641 ZGB). Diese Überlegung legt nahe, die actio negatoria, richtet
sie sich gegen überragende Äste und eindringende Wurzeln, im Lichte
von Art. 687 ZGB auszulegen, d.h. die in der Regelung des Kapprechts
enthaltene Wertung und damit das Erfordernis der Eigentumsschädigung
(E. 5.2) zu berücksichtigen. Anders entscheiden hiesse, Art. 687 Abs. 1
ZGB seines Inhaltes zu entleeren und damit auch den gesetzgeberischen
Wertungsentscheid zu Gunsten der Pflanzen zu unterlaufen. Dies bedeutet
nun, dass der Nachbar, ungeachtet dessen, ob er vom Selbsthilferecht
(Art. 687 Abs. 1 ZGB) oder von der actio negatoria (Art. 641 Abs. 2 ZGB)
Gebrauch macht, ungerechtfertigte Einwirkungen, die keine erhebliche
Schädigung des Eigentums nach sich ziehen, zu dulden hat.

    5.6  Aufgrund der verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (E. 4.2)
scheitert der auf Art. 641 Abs. 2 ZGB gestützte Beseitigungsanspruch -
analog dem auf Art. 679 i.V.m Art. 684 ZGB gestützten - am Umstand, dass
die durch den Laubfall verursachte Beeinträchtigung nicht als übermässig
bzw. nicht als eigentumsschädlich zu gelten hat (E. 4.2). Damit ist aber
auch eine von der Klägerin sinngemäss gerügte Verletzung von Art. 687
ZGB selbstredend zu verneinen.