Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 III 409



131 III 409

52. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Obergericht
des Kantons Zürich (Berufung)

    5C.71/2005 vom 26. April 2005

Regeste

    Art. 314 Ziff. 1 und Art. 314a Abs. 1 ZGB; Verfahren der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung bei Unmündigen; Begutachtung und
Anhörung des Kindes.

    Eine Begutachtung des Kindes durch Sachverständige ist anzuordnen,
wenn voraussichtlich eine anstaltspsychiatrische Betreuung notwendig sein
wird (E. 4.3).

    Das Kind ist im Verfahren der gerichtlichen Beurteilung persönlich
anzuhören. Ausnahmsweise darf die Anhörung im Rechtsmittelverfahren
nachgeholt werden und durch eine Delegation des Gerichts erfolgen (E. 4.4).

Sachverhalt

    X., Jahrgang 1972, ist die Mutter von A., geboren 1993. Ab Oktober 1997
lebte A. in verschiedenen Kinderheimen. Im April 2002 wurde sie nach Hause
zu ihrer Mutter entlassen. Die zuständige Vormundschaftsbehörde ersetzte
die bisherige Vormundschaft durch eine Beistandschaft. Auf Antrag der
Beiständin hob sie die Obhut von X. über ihre Tochter A. am 25. April 2004
auf und wies A. auf unbestimmte Zeit in das Kinderheim N. ein. Das Gesuch
von X. um gerichtliche Beurteilung und Aufhebung der Kindesschutzmassnahmen
wies der Einzelrichter ab. Die dagegen eingelegte Berufung vor Obergericht
des Kantons Zürich blieb erfolglos. Das Bundesgericht weist die Berufung
von X. ab, soweit darauf eingetreten werden kann.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.

    4.3  Gemäss Art. 397e Ziff. 5 ZGB darf bei psychisch Kranken nur
unter Beizug von Sachverständigen entschieden werden. Die Vorschrift
gilt im Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung bei Unmündigen
nicht unmittelbar, sondern "sinngemäss" (Art. 314a Abs. 1 ZGB). Nach
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung müssen nur Kinder, die schwer
geschädigt sind, vor der Entscheidung über die geeignete Unterbringung
unter psychiatrische Beobachtung gestellt werden. Wo es um erzieherische
Schwierigkeiten eines Kindes geht, die milieu- und entwicklungsbedingt
sind, kann der Verzicht auf den Beizug von Sachverständigen hingegen nicht
a priori beanstandet werden (Urteil C.41/1986 vom 7. Mai 1986, E. 3, mit
Hinweis auf DI BISCEGLIA, Die Kindesschutzmassnahmen nach Art. 307, 308 und
310 ZGB und ihre einschränkende Wirkung auf die elterliche Gewalt, Diss.
Basel 1979, S. 70; seither, z.B. Urteil 5C.159/1999 vom 6. September
1999, E. 2 Abs. 3: Verzicht auf Begutachtung bei psychosomatischen
Problemen als Folge einer stressreichen Gesamtsituation). Nach der
Lehre darf der Begriff des psychisch Kranken im Sinne von Art. 397e
Ziff. 5 ZGB nicht auf Geisteskranke oder Geistesschwache beschränkt
bleiben und soll bei Kindern weit gefasst werden. Gleichwohl ist eine
kinderärztliche oder kinderpsychiatrische Begutachtung nur dann anzuordnen,
wenn auf Grund der bisherigen Abklärungen die Vermutung besteht, eine
anstaltspsychiatrische Betreuung sei notwendig (ausführlich: MARKUS
LUSTENBERGER, Die fürsorgerische Freiheitsentziehung bei Unmündigen unter
elterlicher Gewalt, Diss. Freiburg i.Ue. 1986, S. 128 ff.; gl.M. STEFAN
MÜLLER, Die persönliche Fürsorge für unmündige Bevormundete, Diss. Freiburg
i.Ue. 1995, S. 326; vgl. DESCHENAUX/STEINAUER, Personnes physiques et
tutelle, 4. Aufl., Bern 2001, S. 444 N. 1187 mit Hinweisen).

    Entgegen der Darstellung der Berufungsklägerin hat das Obergericht
das Kind nicht als psychisch krank bezeichnet. Die Rede ist vielmehr
von Verhaltensauffälligkeiten, die näher umschrieben werden. Im
angefochtenen Beschluss wird der ärztliche Bericht des KJPD, in
dem nach Angaben der Berufungsklägerin eine psychische Störung mit
ICD-10-Klassifikation diagnostiziert worden sein soll, lediglich
wiedergegeben, ohne dass sich das Obergericht zur Qualifikation der
festgestellten Verhaltensauffälligkeiten abschliessend geäussert hätte. Es
mag zwar zutreffen, dass dissoziale Verhaltensweisen, Delinquenz und
eingeschränkte Selbstkontrolle zum Krankheitsbild der (psychischen)
Störungen des Sozialverhaltens gehören. Es ist hier jedoch offenkundig
zu keinem Zeitpunkt in Betracht gezogen worden, die fürsorgerische
Freiheitsentziehung vorab zum Zwecke einer psychiatrischen Betreuung
anzuordnen oder in einer psychiatrischen Anstalt zu vollziehen. Im
Kinderheim steht Therapie auch nicht im Vordergrund, kann aber bei
Bedarf in der näheren Umgebung organisiert werden. Im Heim soll in
familienähnlichem Rahmen insbesondere Konstanz in Erziehung und Struktur
des Alltagslebens verschafft werden.

    In Anbetracht der gezeigten Rechts- und Sachlage verletzt es
kein Bundesrecht, dass die Begutachtung des Kindes wie auch der
Berufungsklägerin als unnötig angesehen worden ist. Auf unüberprüfbarer
Beweiswürdigung beruht der zusätzliche Schluss des Obergerichts, es sei
nicht anzunehmen, dass ein Gutachten weitergehende, hier massgebliche
Erkenntnisse bringen könnte, als bereits auf Grund der Berichte der mit
der Sache befassten Betreuungs- und Fachpersonen feststünden.

    4.4  Während eine Delegation des Obergerichts das Kind im Heim in N.
persönlich angehört hat, ist der Einzelrichter davon ausgegangen,
eine Befragung durch das Gericht wäre dem Kindeswohl abträglich
und unverhältnismässig, sei doch das Kind auf Grund der bereits
länger dauernden Abklärungen immer wieder mündlich befragt worden,
zuletzt durch die Polizei zum Vorwurf der sexuellen Übergriffe. Unter
Hinweis auf Art. 397f Abs. 3 ZGB erblickt die Berufungsklägerin eine
Bundesrechtsverletzung darin, dass ihre Tochter vor erster Instanz
überhaupt nicht und vor Obergericht nur durch eine Delegation mündlich
angehört worden sei.

    4.4.1  Gemäss Art. 397f Abs. 3 ZGB muss das Gericht erster Instanz
die von der fürsorgerischen Freiheitsentziehung betroffene Person mündlich
einvernehmen. Nach der Rechtsprechung hat die Anhörung durch das gesamte
erkennende Kollegialgericht zu erfolgen (BGE 115 II 129 Nr. 24). Nur
ganz ausnahmsweise kann von einer Anhörung durch das Gesamtgericht dann
abgesehen werden, wenn sich der Betroffene weigert, der Vorladung zur
Verhandlung Folge zu leisten, oder wenn die Anhörung durch das gesamte
Gericht wegen der Krankheit oder anderen persönlichkeitsbedingten Gründen
auf Seiten des Betroffenen nicht geboten wäre (Urteil 5C.19/1990 vom
22. März 1990, E. 2, zit. in: SPIRIG, Zürcher Kommentar, 1995, N. 101
zu Art. 397f ZGB). Ob die mündliche Anhörung im Rechtsmittelverfahren
nachgeholt und dadurch ein Verfahrensmangel vor erster Instanz geheilt
werden kann, ist strittig (bejahend: GEISER, Basler Kommentar, 2002,
N. 24 zu Art. 397f ZGB; einschränkend: ALEXANDER IMHOF, Der formelle
Rechtsschutz, insbesondere die gerichtliche Beurteilung, bei der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss. Freiburg i.Ue. 1999, S. 205
f.; vgl. auch Urteil 5C.164/1995 vom 9. November 1995, E. 2c).

    4.4.2  Die gezeigten Grundsätze können nicht unbesehen auf die Anhörung
von Kindern bei Anordnung von Kindesschutzmassnahmen angewendet werden.

    Einerseits sind die Bestimmungen des Erwachsenenschutzes im Verfahren
der fürsorgerischen Freiheitsentziehung gegenüber Kindern nur "sinngemäss"
(Art. 314a Abs. 1 ZGB) anwendbar. Als Grundsatz muss zwar gelten,
dass jedes von einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung betroffene Kind
durch das Gericht mündlich anzuhören ist. Persönlichkeitsbezogene Gründe
fallen jedoch stärker ins Gewicht und können in weiterreichendem Umfang
Ausnahmen von der Anhörung rechtfertigen. Das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement, das die Regelung im Sinne des heutigen Art. 314a
ZGB auf Antrag erst der nationalrätlichen Kommission ausgearbeitet hat,
erwähnt als Beispiel für eine Ausnahme von der Anhörungspflicht, dass
es keinen Sinn habe, wenn das Gericht, das auf Begehren der Eltern
die Anstaltsversorgung überprüfe, ein dreijähriges Kind einvernehme
(zit. nach LUSTENBERGER, aaO, S. 24). Ganz allgemein muss gelten,
dass Art und Form der Anhörung der konkreten Situation des von der
Freiheitsentziehung betroffenen Kindes anzupassen sind und dass auf eine
mündliche Befragung des Kindes ausnahmsweise verzichtet werden darf,
wenn dadurch das Kindeswohl beeinträchtigt würde (vgl. LUSTENBERGER, aaO,
S. 147 ff. mit Hinweisen).

    Entscheidend ist andererseits, dass sich die Pflicht zur Anhörung des
Kindes nur indirekt aus den Vorschriften über das gerichtliche Verfahren
bei fürsorgerischer Freiheitsentziehung ergibt. Unmittelbar gilt Art. 314
Ziff. 1 ZGB, der für sämtliche Kindesschutzmassnahmen vorschreibt, dass
vor deren Erlass das Kind in geeigneter Weise durch die vormundschaftliche
Behörde oder durch eine beauftragte Drittperson persönlich anzuhören ist,
soweit nicht sein Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen. Diese
Bestimmung ist mit der ZGB-Revision von 1998/2000 neu geschaffen worden,
entspricht einer dringenden Empfehlung der Arbeitsgruppe Kindsmisshandlung
und verwirklicht die Vorgaben des Übereinkommens vom 20. November 1989
über die Rechte des Kindes (KRK; SR 0.107). Die gesetzliche Regelung ist
flexibel ausgestaltet und gewährleistet damit, dass die Anhörung stets
in kindgerechter Form erfolgen kann (Botschaft, BBl 1996 I 1, S. 143
ff. Ziff. 234.101 und S. 165 Ziff. 244.43). Mit der Anhörung darf eine
Delegation des Gerichts oder eine Drittperson betraut werden, soweit es
das Kindeswohl gebietet, und eine - z.B. aus Gründen der Dringlichkeit -
vorerst unterbliebene Anhörung kann in einem späteren Zeitpunkt nachgeholt
werden (vgl. dazu BREITSCHMID, Basler Kommentar, 2002, N. 3 und N. 6
f. zu Art. 314/ 314a ZGB; MEIER/STETTLER, Droit civil VI/2: Les effets
de la filiation [art. 270 à 327 CC], 2. Aufl., Freiburg 2002, N. 87-92
S. 44 ff., je mit Hinweisen).

    4.4.3  Vorab im Lichte der neu geregelten Anhörung des Kindes, die
einen in allen Verfahren zu beachtenden Minimalstandard gewährleisten
will, erscheint es bedenklich, dass der Einzelrichter die Anhörung -
auch in Form der Beauftragung einer Drittperson - unterlassen hat. Dem
Gehörsanspruch des Kindes hat jedoch das Obergericht genügt, indem eine
Befragung im Kinderheim und damit in zwischenzeitlich gewohnter Umgebung
durch eine Delegation erfolgt ist. Ein Verfahrensmangel liegt nicht vor.