Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 III 243



131 III 243

32. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y. AG
(Berufung)

    4C.340/2004 vom 2. Dezember 2004

Regeste

    Vorrang des Bundesrechts; Pflicht zur Bezifferung des Rechtsbegehrens.

    Das Bundesrecht schreibt den Kantonen die Zulassung unbezifferter
Rechtsbegehren in "Ermessensfällen" nur vor, wenn dem Gericht bei der
Feststellung des erheblichen Sachverhalts ein Ermessen zukommt, nicht aber,
wenn das materielle Bundesrecht dem Gericht nur bezüglich der Rechtsfolge
Ermessen einräumt. Anwendung auf den Fall von Art. 336a Abs. 2 OR (E. 5).

Sachverhalt

    A.- X. (Kläger) arbeitete seit dem 1. Januar 1987 bei der Y. AG
(Beklagte). Nachdem er im Dezember 1996 einen Herzinfarkt erlitten hatte
und in der Folge nur noch teilweise bzw. gar nicht mehr arbeitsfähig war,
kündigte ihm die Beklagte am 23. April 2002 auf den 31. Juli 2002.

    B.- Mit Klage vom 11. Dezember 2002 beantragte der Kläger bei
der Gewerbekammer des Bezirksgerichts der Sense, die Beklagte sei
teilklageweise zu verurteilen, ihm einen gerichtlich zu bestimmenden,
Fr. 30'000.- nicht erreichenden Betrag zuzüglich Zins zu zahlen und ein
Arbeitszeugnis auszustellen. Mit Urteil vom 13. August 2003 wies die
Gewerbekammer die Klage ab und auferlegte die Parteikosten dem Kläger.

    Eine dagegen gerichtete kantonalrechtliche Berufung des Klägers
wies das Kantonsgericht Freiburg am 27. Juli 2004 ab, soweit sie sich
gegen die Parteikostenverlegung der Gewerbekammer richtete. Im Übrigen
trat das Gericht auf das Rechtsmittel nicht ein, weil der Kläger den
begehrten Betrag im Berufungsverfahren nicht ausreichend beziffert habe,
und bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid.

    C.- Der Kläger gelangt gegen dieses Urteil mit Berufung an das
Bundesgericht. Er beantragt in erster Linie, das angefochtene Urteil
sei aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, das von ihr gestellte
Rechtsbegehren zu beurteilen. Die Y. AG beantragt die Abweisung des
Rechtsmittels.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.  Der Kläger bringt schliesslich vor, die Bestimmung von
Art. 336a Abs. 2 OR stelle die Festsetzung der vorliegend unter anderem
eingeklagten Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung in das
Ermessen des Richters. In diesem Fall dürfe von Bundesrechts wegen nicht
verlangt werden, dass der Kläger seine Forderung im kantonalen Verfahren
genau beziffere. Damit würde die derogatorische Kraft des Bundesrechts
missachtet. Er verweist diesbezüglich auf BGE 116 II 215 E. 4a S. 219.

    5.1  Das Bundesgericht hatte in diesem Entscheid einen Verstoss
gegen Bundesrecht bejaht, weil die Vorinstanz von einem Kläger,
der seinen Mäklerlohn eingeklagt hatte, gestützt auf das kantonale
Prozessrecht ein genau beziffertes Rechtsbegehren verlangte, obgleich er
den Kaufpreis, auf dem sich der Lohn berechnete, nicht kannte und nicht
kennen konnte. Es ging dabei davon aus, dass eine Prozessvorschrift,
wonach die Rechtsbegehren der Parteien klar und deutlich zu formulieren
sind und hinreichend bestimmt lauten müssen, nicht zu beanstanden ist; den
Kantonen sei es im Grundsatz nicht verwehrt, in Forderungsstreitigkeiten
die genaue Bezifferung des geforderten Betrages zu verlangen (vgl. zu
den Gründen, die in der Literatur dafür angeführt werden, eine genaue
Bezifferung des Rechtsbegehrens zu verlangen: GULDENER, Zivilprozessrecht,
3. Aufl., Zürich 1979, S. 193; derselbe, Bundesprivatrecht und kantonales
Zivilprozessrecht, ZSR 80/1961 II S. 60; VOGEL/SPÜHLER, Zivilprozessrecht,
7. Aufl., Bern 2003, S. 188; VOGEL, Die Stufenklage und die dienende
Funktion des Zivilprozessrechts, recht 10/1992 S. 58 f.; kritisch zu den
von diesen Autoren vertretenen Gründen: PETER LOOSLI, Die unbezifferte
Forderungsklage, Diss. Zürich 1977, S. 74 ff.). Wie das Bundesgericht
weiter festhielt, gilt dieser Grundsatz indessen nicht ohne Ausnahmen. So
muss das kantonale Prozessrecht unbezifferte Rechtsbegehren zunächst dort
zulassen, wo das Bundesprivatrecht sie ausdrücklich vorsieht; überdies
dürfe ein genau beziffertes Begehren auch nicht verlangt werden, wenn das
Bundesrecht das Gericht auf sein Ermessen verweise, wie beispielsweise
in Art. 42 Abs. 2 OR. In den Fällen richterlichen Ermessens begrenze
das Bundesrecht insoweit allerdings lediglich die Anforderungen an die
materielle Substanziierung der Forderung, nehme dagegen den Kantonen nicht
auch die Möglichkeit, aus formellen Gründen eine rahmenmässige Bezifferung
der Klageforderung zu verlangen. Ferner führte das Gericht aus, dass es das
bundesprivatrechtliche Verwirklichungsverbot (recte: Verwirklichungsgebot)
nicht zulasse, eine Bezifferung der Klageforderung zu verlangen, wo der
Kläger nicht in der Lage sei, die Höhe seines Anspruchs genau anzugeben,
oder diese Angabe unzumutbar erscheine. Unzumutbar erscheine die genaue
Bezifferung, wenn erst das Beweisverfahren die Grundlage für die Berechnung
der Forderung abgebe. In entsprechenden Fällen sei dem Kläger zu gestatten,
die Präzisierung erst nach Abschluss des Beweisverfahrens vorzunehmen
(vgl. zum Ganzen BGE 116 II 215 E. 4a S. 219 mit zahlreichen Hinweisen;
VOGEL, aaO, recht 10/1992 S. 58 ff.).

    Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass das Bundesrecht den
Kantonen die Zulassung unbezifferter Rechtsbegehren in Ermessensfällen
nur vorschreibt, wenn dem Gericht bei der Feststellung des erheblichen
Sachverhalts ein Ermessen zukommt und sich die bezifferbare Forderung erst
aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt (vgl. für Art. 42 Abs. 2 OR:
BGE 122 III 219 E. 3b S. 222 mit Hinweisen). Das Urteil BGE 116 II 215
ff. wurde in der Lehre denn auch zutreffend in diesem Sinne verstanden
(vgl. VOGEL, aaO, recht 10/1992 S. 61). Nur dann drängt es sich auf, mit
der genauen Bezifferung der Forderung bis zum Ende des Beweisverfahrens
zuzuwarten. Demgegenüber kann das kantonale Prozessrecht eine genaue
Bezifferung ohne weiteres verlangen, wenn das materielle Recht dem
Gericht nicht bezüglich der Feststellung des erheblichen Sachverhalts ein
Ermessen einräumt, sondern bloss bezüglich der Rechtsfolge. Diesfalls
besteht kein besonderer Zusammenhang zwischen den durch das Ermessen
bedingten Unsicherheiten und dem ausstehenden Beweisergebnis (vgl. dazu
FRANK/ STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung,
3. Aufl., Zürich 1997, N. 2a zu § 264 ZPO und N. 29 zu § 61 ZPO, wo
es als bundesrechtlich zulässig bezeichnet wird, dass das kantonale
Prozessrecht den Kläger verpflichtet, die Bezifferung des Anspruchs
spätestens nach Durchführung des Beweisverfahrens nachzuholen; ebenso
GULDENER, Zivilprozessrecht, aaO, S. 193 Ziff. 2 und Fn. 8; derselbe,
ZSR, aaO, S. 59 f. sowie VOGEL/ SPÜHLER, aaO, S. 188 f.; zu weitgehend
dagegen LOOSLI, aaO, S. 62 ff., der die hier befürwortete Differenzierung
nach Fällen mit Rechtsfolgeermessen und solchen mit Tatbestandsermessen
ablehnt). Den Kantonen auch in solchen Fällen zu verbieten, ein beziffertes
Rechtsbegehren zu verlangen, lässt sich mit dem Gebot, dem materiellen
Bundesrecht zum Durchbruch zu verhelfen, nicht rechtfertigen.

    5.2  Art. 336a Abs. 2 OR räumt dem Gericht ein Rechtsfolgeermessen ein
(Art. 4 ZGB; BGE 123 III 391 E. 3c; vgl. dazu auch MEIER-HAYOZ, Berner
Kommentar, N. 28 ff. zu Art. 4 ZGB; DÜRR, Zürcher Kommentar, N. 53 ff.,
59 zu Art. 4 ZGB; REHBINDER, Berner Kommentar, N. 4 zu Art. 336a OG;
BRÜHWILER, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, 2. Aufl., Bern 1996, N. 2
zu Art. 336a OG; STREIFF/VON KAENEL, Arbeitsvertrag, 5. Aufl., Zürich 1992,
N. 3 zu Art. 336a OR; WYLER, Droit du travail, Bern 2002, S. 408 f.). Es
geht nicht um ein Ermessen bezüglich der Sachverhaltsfeststellung wie bei
Art. 42 Abs. 2 OR (vgl. dazu BGE 122 II 219 E. 3b S. 222). In der Literatur
wird allerdings teilweise auch für diesen Fall die Forderung aufgestellt,
vom Erfordernis der Bestimmtheit des Rechtsbegehrens abzusehen. Müsse der
Kläger das Rechtsbegehren genau beziffern, trage er wegen des richterlichen
Ermessens ein unzumutbares Prozessrisiko (STREIFF/VON KAENEL, aaO,
N. 6 zu Art. 336a OR; VISCHER, Der Arbeitsvertrag, in: Schweizerisches
Privatrecht, Bd. VII/1, III, S. 171 Fn. 69; vgl. dazu auch LOOSLI, aaO,
S. 17 mit Hinweisen sowie S. 78 ff.).

    Es lässt sich in der Tat nicht von der Hand weisen, dass der
Kläger das Risiko trägt, den richterlichen Ermessensentscheid falsch
eingeschätzt zu haben, und damit entweder Parteikosten tragen zu müssen,
weil er überklagt hat, oder weniger zu erhalten, als das Gericht
eigentlich angemessen findet, weil er zu wenig gefordert hat. Das
trifft aber auf alle Rechtsstreitigkeiten zu, bei denen dem Gericht
ein Rechtsfolgeermessen zusteht. Auch in Bereichen, in denen das Gesetz
dem Gericht kein Ermessen einräumt, die Rechtslage aber unklar ist, so
dass unterschiedliche Rechtsstandpunkte in guten Treuen vertreten werden
können, tragen die Parteien das Risiko bei einem in guten Treuen geführten
Prozess ganz oder teilweise zu unterliegen. Es handelt sich bei solchen
Unsicherheiten somit um ein übliches Prozessrisiko, das dem Erfordernis
einer genauen Bezifferung des Rechtsbegehrens nicht entgegen stehen kann,
soweit daran überhaupt festgehalten werden soll. Solchen Risiken kann ohne
weiteres bei der Kostenregelung Rechnung getragen werden. Diese erfolgt
bei teilweisem Obsiegen einer Partei regelmässig nicht mathematisch
genau im Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens. Vielmehr kann
sehr wohl der Umstand berücksichtigt werden, dass eine Partei bloss
dem Betrag nach unterlegen ist, jedoch im Grundsatz obsiegt hat
(vgl. dazu beispielsweise LEUCH/MARBACH/KELLERHALS/STERCHI, Kommentar
zur Zivilprozessordnung des Kantons Bern, 5. Aufl., Bern 2000, N. 7a zu
Art. 58 ZPO; FRANK/STRÄULI/MESSMER, aaO, N. 16 und 19 zu § 64 ZPO).

    5.3  Entsprechend ist es bundesrechtlich nicht zu beanstanden, wenn
die Vorinstanz im vorliegenden Fall auf Grund des kantonalen Prozessrechts
eine genaue Bezifferung des eingeklagten Betrages verlangt hat, und auf
das Rechtsmittel des Klägers materiell nicht eingetreten ist, weil er
sein Rechtsbegehren nur dem Rahmen nach beziffert hat.