Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 III 115



131 III 115

15. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. gegen L.
(Berufung)

    4C.268/2004 vom 4. Oktober 2004

Regeste

    Art. 56 Abs. 1 OR; Tierhalterhaftung.

    Haftungsvoraussetzungen und Befreiungsbeweis des Tierhalters;
Anforderungen an die Umzäunung einer Pferdeweide (E. 2 und 3).

Sachverhalt

    Der damals fünfjährige L. verbrachte den Nachmittag des 11. November
2000 bei einem jüngeren Spielgefährten in einem benachbarten Wohnhaus. Kurz
vor 16.00 Uhr wies ihn seine Mutter telefonisch an, nach Hause zu
kommen. L. machte sich ohne Begleitung einer erwachsenen Person auf den
knapp 200 Meter langen Heimweg von der S.-strasse 30 zur S.-strasse 3
in Einsiedeln. Sein Weg führte an einer talseitig über eine Länge von
50 Metern an die S.-strasse grenzenden Wiese vorbei, auf welcher die
X. gehörenden Pferde weideten. L. begab sich auf die Wiese zu den wenige
Meter von der Strasse entfernten Tieren, wo ihn ein ausschlagendes Pferd
am Kopf traf und schwer verletzte. Durch ein Hirntrauma mit Trümmerfraktur
erlitt er teilweise irreversible Schäden.

    Im Unfallzeitpunkt war die Weide eingegrenzt durch einen Elektrozaun,
bestehend aus einem dünnen, elektrisch geladenen Plastikband, das im
fraglichen Bereich durchschnittlich 124 cm über dem Boden befestigt
war. Der 110 cm grosse L. konnte von der Strasse her aufrecht unter dem
Zaun hindurchgehen.

    Am 25. Februar 2002 klagten die Eltern von L. als gesetzliche Vertreter
in dessen Namen vor dem Bezirksgericht Einsiedeln gegen X. als Tierhalter
auf Zahlung von Fr. 148'492.- nebst 5 % Zins seit dem 1. Juni 2001, wobei
sie sich das Nachklagerecht vorbehielten. Der Beklagte bestritt seine
Haftung und verkündete den Eltern des Klägers im Hinblick auf allfällige
spätere Regressansprüche den Streit. Mit Vorurteil vom 17. März 2003
erklärte das Bezirksgericht den Beklagten nach Art. 56 OR für haftbar und
grundsätzlich ersatzpflichtig für den durch den Unfall vom 11. November
2000 entstandenen Schaden. Auf Berufung des Beklagten bestätigte das
Kantonsgericht Schwyz das erstinstanzliche Urteil am 1. Juni 2004 im
Sinne der Erwägungen.

    Der Beklagte hat das Urteil des Kantonsgerichts vom 1. Juni 2004
mit eidgenössischer Berufung angefochten. Das Bundesgericht weist die
Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Nach Art. 56 Abs. 1 OR haftet für den von einem Tier angerichteten
Schaden, wer dasselbe hält. Der Halter wird jedoch von der Haftung
befreit, wenn er nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene
Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung des Tieres angewendet
hat oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten
wäre. Die Haftung setzt die Verletzung einer objektiven Sorgfaltspflicht
voraus (WERRO, Commentaire Romand, N. 1 zu Art. 56 OR; OFTINGER/STARK,
Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II/1, 4. Aufl.,
§ 17, Rz. 6 ff.; WIDMER in: Münch/Geiser (Hrsg.), Schaden - Haftung -
Versicherung, Rz. 2.16 f.). Ob es sich bei der Tierhalterhaftung um
eine gewöhnliche Kausalhaftung mit Befreiungsmöglichkeit oder um eine
Verschuldenshaftung mit umgekehrter Beweislast handelt, hat lediglich
dogmatische, aber kaum praktische Bedeutung (vgl. zum Meinungsstreit REY,
Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Rz. 979 mit Hinweisen),
denn so oder anders sind an den Entlastungsbeweis strenge Anforderungen
zu stellen. Der Tierhalter kann sich nicht darauf berufen, das allgemein
Übliche an Sorgfalt aufgewendet zu haben. Vielmehr hat er nachzuweisen,
dass er sämtliche objektiv notwendigen und durch die Umstände gebotenen
Massnahmen getroffen hat. Bleiben über die entlastenden Tatsachen Zweifel
bestehen, muss die Haftung des Halters bejaht werden (BGE 126 III 14 E. 1b;
110 II 136 E. 2a S. 139; 102 II 232 E. 1 S. 235; 85 II 243 E. 1 S. 245,
mit Hinweisen; BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl., N. 51 ff. zu Art. 56 OR;
SCHNYDER, Basler Kommentar, 3. Aufl., N. 15 zu Art. 56 OR; OFTINGER/STARK,
aaO, § 21 Rz. 86; WERRO, aaO, N. 17 zu Art. 56 OR). Die konkreten
Sorgfaltspflichten richten sich in erster Linie nach geltenden Sicherheits-
und Unfallverhütungsvorschriften. Fehlen gesetzliche oder reglementarische
Vorschriften und haben auch private Verbände keine allgemein anerkannten
Vorschriften erlassen, ist zu prüfen, welche Sorgfalt nach der Gesamtheit
der konkreten Umstände geboten ist (BGE 126 III 14 E. 1b mit Hinweisen).

    2.2  Nach dem angefochtenen Urteil hat der Beklagte im kantonalen
Verfahren weder seine Haltereigenschaft noch die Verursachung des Schadens
durch eines seiner Tiere bestritten. Die Vorinstanz stellte zudem fest,
die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL)
habe Empfehlungen für die Haltung von Pferden herausgegeben. Diese
sähen für Pferdeweiden Umzäunungen mit einer Mindesthöhe von 150 cm
sowie mit mehreren gut sichtbaren Bändern oder Holzlatten vor, die in
einem vertikalen Abstand von je ca. 40 cm zu befestigen sind. Diesen
Anforderungen habe die vom Beklagten angebrachte Einzäunung mit lediglich
einem einzigen dünnen, elektrisch geladenen Plastikband auf einer Höhe
von durchschnittlich 124 cm nicht entsprochen.

    2.3  Die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft
(BUL) wurde 1984 als selbständige Stiftung konzipiert. Basierend auf
Art. 51 der Verordnung vom 19. Dezember 1983 über die Verhütung von
Unfällen und Berufskrankheiten (Verordnung über die Unfallverhütung [VUV;
SR 832.30]) hat sie als Fachorganisation gemäss Vertrag mit der SUVA
die Aufgabe übernommen, die Arbeitssicherheit auf landwirtschaftlichen
Betrieben zu fördern. Diese Beratungsstelle ist für den Erlass
einschlägiger Empfehlungen ohne Zweifel kompetent. Die erwähnte Empfehlung
zeigt auf, wie ein Pferdeweiden eingrenzender Zaun beschaffen sein muss,
damit die von weidenden Pferden ausgehende Gefährdung möglichst gering
gehalten wird. Sie konkretisiert damit das Mass der Sorgfalt, dem ein
Pferdehalter im Sinne von Art. 56 OR diesbezüglich zu genügen hat. Der vom
Beklagten tatsächlich verwendete Elektrozaun wird diesen Anforderungen
bereits von seiner äusserlichen Beschaffenheit her nicht gerecht. Davon
abgesehen bot er aber unter den gegebenen Umständen auch nicht die gleiche
Sicherheit, wie sie mit der von der Beratungsstelle empfohlenen Einzäunung
bestanden hätte. Namentlich im Hinblick auf die Lage der Pferdeweide in
unmittelbarer Nähe zu einer Strasse in einem Wohngebiet ist offensichtlich,
dass der Elektrozaun des Beklagten im Vergleich zur von der Beratungsstelle
empfohlenen Einzäunung mit einem höheren Risiko verbunden ist. Dass im
Übrigen mit der empfohlenen Sicherung nicht zugewartet werden darf, bis ein
Pferd Schaden stiftet, wie der Beklagte anzunehmen scheint, bedarf keiner
weiteren Erörterung. Ebenso wenig vermöchte der gutmütige Charakter der
weidenden Tiere, wie er vom Beklagten behauptet wird, einen geringeren
Sicherheitsstandard bezüglich der Umzäunung zu rechtfertigen, da nichts
darauf hinweist, dass sich die Empfehlungen der Beratungsstelle nur an
die Halter von Pferden mit bösartigem Charakter richten. Der Beklagte
zieht die Relevanz dieser Empfehlungen im Grundsatz denn auch nicht in
Zweifel. Mit der insoweit unangefochtenen Feststellung der Vorinstanz
darüber, dass der Beklagte die Empfehlungen missachtet hat, ist daher
die Verletzung der Sorgfaltspflicht gemäss Art. 56 Abs. 1 OR erstellt.

    Der Beklagte hatte bereits im kantonalen Verfahren eingewendet,
dass die Empfehlungen der Beratungsstelle ausschliesslich den Zweck
hätten, das Ausbrechen der Pferde zu verhindern, dagegen nicht dazu
bestimmt seien, Kinder vom Betreten der Pferdeweide abzuhalten. Diesen
Einwand hat die Vorinstanz zu Recht verworfen. Zwar ist einzuräumen,
dass der Hauptzweck der Umzäunung darin liegt, die Pferde am Verlassen
der Weide zu hindern. Zugleich soll die Umzäunung einer Pferdeweide
aber gegen Aussen signalisieren, dass es sich um ein diesen Tieren
vorbehaltenes Gebiet handelt, dessen Betreten für den Menschen gefährlich
sein kann. Dieser Doppelfunktion muss die Umzäunung einer Pferdeweide in
besonderem Masse gerecht werden, wenn sie - wie im vorliegenden Fall -
in der unmittelbaren Nähe eines Wohngebietes liegt, wo mit der Anwesenheit
von Kindern zu rechnen ist.

Erwägung 3

    3.

    3.1  Misslingt der Sorgfaltsbeweis, kann sich der Tierhalter
gemäss Art. 56 Abs. 1 OR von der Haftung befreien, indem er nachweist,
dass der Schaden auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt eingetreten
wäre (vgl. zum analogen Befreiungsbeweis des Geschäftsherrn BGE 97 II
221 E. 1). Damit spricht das Gesetz etwas Selbstverständliches aus,
nämlich dass die Sorgfaltsverletzung kausal für den Schaden gewesen
sein muss (WERRO, aaO, N. 16 zu Art. 56 OR mit Hinweisen; HONSELL,
Schweizerisches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2000, § 13 Rz. 8). Es
kodifiziert den allgemein geltenden Grundsatz, dass keine Haftung
greift, wenn der präsumtiv Haftpflichtige beweist, dass ein rechtmässiges
Alternativverhalten denselben Schaden bewirkt hätte wie das tatsächlich
erfolgte rechtswidrige Verhalten (BREHM, aaO, N. 85 zu Art. 56 OR;
BERNARD STUDHALTER, Die Berufung des präsumtiven Haftpflichtigen auf
hypothetische Kausalverläufe: hypothetische Kausalität und rechtmässiges
Alternativverhalten, Diss. Zürich 1995, S. 273; KRAMER, Die Kausalität im
Haftpflichtrecht: Neuere Tendenzen in Theorie und Praxis, ZBJV 123/1987
S. 300; Urteil des Bundesgerichts 4C.322/1998 vom 11. Mai 1999,
E. 2). Dogmatisch wird auch vom Nachweis der fehlenden Kausalität der
Unterlassung oder des fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhangs gesprochen
(BGE 122 III 229 E. 5a/aa; Urteil des Bundesgerichts 4C.276/1993 vom
1. Dezember 1998, E. 4a, publ. in: Pra 89/2000 Nr. 28 S. 163 ff.).

    3.2  Die Vorinstanz erwog, aufgrund der gegebenen Situation sei die
Annahme "nicht abwegig", dass eine Umzäunung mit mehreren breiten Bändern
oder Latten entsprechend der Empfehlung der BUL den Unfall verhindert
hätte, denn eine solche Umzäunung wäre vom fünfjährigen Kläger sehr
viel deutlicher als Absperrung wahrgenommen worden sowie als Hindernis,
das nur durch Unterschreiten oder Überklettern hätte überwunden werden
können. Die geringen finanziellen Aufwand erfordernde Umzäunung nach
den Vorgaben der BUL hätte das Unfallrisiko zumindest herabgesetzt. Aus
diesen Gründen hielt die Vorinstanz den Entlastungsbeweis des rechtmässigen
Alternativverhaltens für gescheitert.

    3.3  Der Beklagte bringt mit der Berufung vor, Neugierde und
der Berührungsdrang gegenüber weidenden Pferden sei bei Kindern viel
grösser als die Abschreckung durch Plastikbänder. Diesem Drang hätte der
Kläger auch nachgegeben, wenn ein zweites Band angebracht gewesen wäre.
Damit habe er den Beweis, "mindestens jedoch die Glaubhaftmachung" dafür
erbracht, dass sich der Unfall auch bei anderer Umzäunung ereignet hätte.

    Diese Ausführungen laufen darauf hinaus, dass der Beklagte dem
Bundesgericht seine eigene Sicht der Dinge darlegt, ohne dass er aufzeigt
oder dass ersichtlich wäre, weshalb die Beurteilung der Vorinstanz gegen
Bundesrecht verstossen soll. Insbesondere im Hinblick darauf, dass auch
der Entlastungsbeweis betreffend rechtmässiges Alternativverhalten strikt
zu erbringen ist, muss dieser Beweis als gescheitert betrachtet werden,
wenn sich im konkreten Fall ergibt, dass der Schaden auch bei Anwendung
der erforderlichen Sorgfalt möglicherweise eingetreten wäre. Die damit
verbleibende Möglichkeit, dass der Schadenseintritt dennoch vermieden
worden wäre, schliesst die Haftungsbefreiung aus (BGE 110 II 136 E. 2a
mit Hinweisen; E. 2.1 hiervor). Dass mehrere deutliche Markierungen,
die optisch eine klare Abschrankung anzeigen, ihre Signalwirkung auf
ein fünfjähriges Kind nicht verfehlt hätten, ist mindestens ebenso
wahrscheinlich wie die Hypothese, dass sich das Kind unter allen Umständen
über oder unter den Bändern hindurch auf die Wiese begeben hätte. Die
Beurteilung durch das Kantonsgericht, das zum gleichen Schluss gekommen
ist, verstösst mithin nicht gegen Bundesrecht.

    3.4  Auch die übrigen in der Berufung erhobenen Einwände helfen dem
Beklagten nicht weiter, soweit es sich dabei nicht ohnehin um unzulässige
neue Tatsachenbehauptungen oder um allgemein gehaltene Rechtserörterungen
ohne konkreten Bezug zu den Erwägungen der Vorinstanz handelt, welche
die Begründungsanforderungen von Art. 55 Abs. 1 lit. c OG nicht erfüllen
(vgl. dazu BGE 116 II 745 E. 3). So hat die Vorinstanz entgegen der
Annahme des Beklagten keine generelle Pflicht statuiert, sämtliche
Tierhaltungen so auszugestalten, dass kein Unbefugter in die Nähe der
Tiere gelangen kann. Auf die diesbezüglichen Vorbringen des Beklagten
ist deshalb nicht weiter einzugehen. Soweit er geltend macht, wenn man
den Schlussfolgerungen der Vorinstanz folgte, würde die Tierhalterhaftung
zur reinen Gefährdungshaftung mutieren, übergeht er offensichtlich, dass
das Kantonsgericht seine Haftung gerade nicht mit der blossen Haltung
der Pferde, sondern mit der Unterlassung der gebotenen Einzäunung
begründete. Sein Hinweis auf die Kritik am Vorentwurf zur Revision
des Haftpflichtrechts, soweit darin die Entlastungsbeweise abgeschafft
werden sollen (vgl. NICOLE PAYLLIER, Der Tierhalter und dessen besondere
Befreiungsmöglichkeiten [Art. 56 Abs. 1 OR], Diss. Zürich 2003, S. 139 ff.;
a.M. ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 6. Aufl., S. 189),
fällt mithin ins Leere. Die Berufung erweist sich auch in diesem Punkt
als unbegründet.