Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 97



130 V 97

16. Auszug aus dem Urteil i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Thurgau
und AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau

    I 383/03 vom 6. Januar 2004

Regeste

    Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG; Art. 27 und 27bis IVV: Ermittlung des
Rentenbeginns bei Nicht- und Teilerwerbstätigen.

    Analog zum Erwerbsbereich (Erw. 3.2) ist die Arbeitsunfähigkeit gemäss
Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG auch bei Nicht- und Teilerwerbstätigen nicht
mit dem Invaliditätsgrad identisch. Während dieser bei im Haushalt tätigen
Versicherten in der Regel durch die Abklärungsperson ermittelt wird (AHI
2001 S. 161 Erw. 3c), entspricht die Arbeitsunfähigkeit der Einbusse an
funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen Aufgabenbereich, welche auf
Grund medizinischer Stellungnahmen zu beziffern ist (Erw. 3.3). Im Rahmen
der gemischten Methode ist analog zur Ermittlung des Invaliditätsgrades
auf den ge wichteten Durchschnitt der Arbeitsunfähigkeit in beiden
Teilbereichen abzustellen (Erw. 3.4).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1  Der Rentenanspruch nach Art. 28 IVG entsteht gemäss Art. 29
Abs. 1 lit. b IVG bei langdauernder Krankheit frühestens in dem Zeitpunkt,
in dem die versicherte Person während eines Jahres ohne wesentlichen
Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 % arbeitsunfähig gewesen
ist. Die Regelung des Rentenbeginns knüpft damit an die Umschreibung der
Voraussetzungen des Rentenanspruchs in Art. 28 IVG an. Laut Abs. 1 und
1bis dieser Bestimmung hat ein Versicherter Anspruch auf eine Rente, wenn
er zu mindestens 40 % invalid ist. Als Invalidität gilt die durch einen
körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden verursachte, voraussichtlich
bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit (vgl. Art. 4
Abs. 1 IVG). Bei Nichterwerbstätigen wird der Erwerbsunfähigkeit
die Unmöglichkeit, sich im bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen,
gleichgestellt (Art. 5 Abs. 1 IVG). Die Bemessung der Invalidität erfolgt
bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode
(Art. 28 Abs. 2 IVG), bei nichterwerbstätigen Versicherten durch einen
Betätigungsvergleich nach der spezifischen Methode (Art. 28 Abs. 3 IVG
in Verbindung mit Art. 27 IVV) und bei teilerwerbstätigen Versicherten
nach der gemischten Methode, einer Kombination von Einkommens- und
Betätigungsvergleich (Art. 28 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 27bis
IVV). Die Bezugnahme auf den "Rentenanspruch nach Artikel 28" in
Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG weist darauf hin, dass bei der Bestimmung des
Rentenbeginns der jeweiligen Invaliditätsbemessungsmethode Rechnung zu
tragen ist.

    3.2  Die Rechtsprechung hat die Arbeitsunfähigkeit im Sinne
von Art. 29 Abs. 1 IVG definiert als "Einbusse an funktionellem
Leistungsvermögen im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich" (BGE 105
V 159 Erw. 2a, 97 V 231 Erw. 2; vgl. Art. 6 ATSG). Bei erwerbstätigen
Versicherten wird diese Einbusse ohne Rücksicht darauf bestimmt, wie
sich die gesundheitliche Beeinträchtigung auf das erzielbare Einkommen
auswirkt. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zur für die
Bemessung des Invaliditätsgrades massgebenden Erwerbsunfähigkeit, welche
umschrieben wurde als "die Unfähigkeit, auf dem gesamten in Frage kommenden
Arbeitsmarkt und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen
die verbliebene Arbeitsfähigkeit wirtschaftlich zu verwerten" (BGE 97 V
231 Erw. 2). Während bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit ausserdem
die Schadenminderungspflicht (vgl. dazu BGE 123 V 233 Erw. 3c, 117 V
278 Erw. 2b, je mit Hinweisen; AHI 2001 S. 282 f. Erw. 5a/aa) u.a. in
dem Sinne eine erhebliche Rolle spielt, als von der versicherten Person
im Rahmen des Zumutbaren verlangt wird, eine andere als die angestammte
Tätigkeit auszuüben, sofern sich dadurch die verbleibende Arbeitsfähigkeit
finanziell besser verwerten lässt (BGE 113 V 28 Erw. 4a mit Hinweisen),
bildet einzig der bisherige Beruf den Bezugspunkt der für den Rentenbeginn
relevanten Arbeitsunfähigkeit (BGE 121 V 274 Erw. 6b/cc; Urteile S. vom
23. Oktober 2003, I 392/02, Erw. 4.2.2, und G. vom 8. April 2002, I 305/00,
Erw. 3). Diese ist auf der Grundlage der medizinischen Stellungnahmen
zu beurteilen. Die Arbeitsunfähigkeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b
IVG entspricht somit bei Erwerbstätigen der medizinisch festgestellten
Einschränkung im bisherigen Beruf.

    3.3

    3.3.1  Bei nicht erwerbstätigen Versicherten wird für die Bemessung
der Invalidität darauf abgestellt, in welchem Masse sie behindert sind,
sich im bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen (Art. 27 Abs. 1 IVV).
Als Aufgabenbereich der im Haushalt tätigen Versicherten gilt die übliche
Tätigkeit im Haushalt sowie die Erziehung der Kinder (Art. 27 Abs. 2 IVV).
Die Invaliditätsbemessung erfolgt im Regelfall durch eine Abklärung vor
Ort, deren Inhalt sich nach den durch die Rechtsprechung für gesetzes-
und verordnungskonform erklärten (bezüglich früherer Fassungen AHI 1997
S. 291 Erw. 4a, ZAK 1986 S. 235 Erw. 2d; für die seit 1. Januar 2000
geltende Regelung Urteile S. vom 28. Februar 2003, I 685/02, Erw. 3.2, und
S. vom 4. September 2001, I 175/01, Erw. 5a) Weisungen des Bundesamtes
für Sozialversicherung (BSV) (Kreisschreiben über Invalidität und
Hilflosigkeit [KSIH] gültig ab 1. Januar 2000, Rz 3090 ff.) richtet. Da
die Invalidität nicht in der durch den Gesundheitsschaden verursachten
Erwerbsunfähigkeit, sondern in der gesundheitsbedingten Einschränkung im
Haushaltsbereich besteht, ist auch der Rentenbeginn mit Blick auf diesen
Bereich zu bestimmen. Dies entspricht der bereits zitierten Rechtsprechung
(BGE 105 V 159 Erw. 2a, 97 V 231 Erw. 2), welche die für Art. 29 Abs. 1
IVG massgebende Arbeitsunfähigkeit bei Nichterwerbstätigen umschrieben
hat als "Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen
Aufgabenbereich". Damit stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage
diese Einbusse zu beurteilen ist.

    3.3.2  Im erwerblichen Bereich lassen sich die Arbeitsunfähigkeit,
definiert als die medizinisch festgestellte Einbusse an funktionellem
Leistungsvermögen im bisherigen Beruf, und die Erwerbsunfähigkeit,
definiert als Unfähigkeit, die verbleibende Arbeitsfähigkeit wirtschaftlich
zu verwerten, ohne Schwierigkeiten unterscheiden. Demgegenüber
liegt bei Nichterwerbstätigen die Überlegung nahe, durch den für die
Invaliditätsbemessung vorzunehmenden Betätigungsvergleich, insbesondere
wenn dieser im Rahmen einer Haushaltsabklärung erfolgt, werde nichts
anderes ermittelt als die auch für den Rentenbeginn massgebende Einbusse
an funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen Aufgabenbereich,
und die durch den Abklärungsbericht festgestellte Einschränkung
sei deshalb mit der Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 29 Abs. 1
lit. b IVG identisch. Einen Anhaltspunkt für diese These liefert
auch die Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
zur ausserordentlichen Bemessungsmethode bei Erwerbstätigen. Das
Gericht hat dazu sinngemäss erwogen, im Gegensatz zur spezifischen
Methode werde der Invaliditätsgrad nicht direkt aus der Einbusse
an funktionellem Leistungsvermögen abgeleitet, sondern es sei, da es
gelte, die Erwerbsunfähigkeit zu ermitteln, zusätzlich eine erwerbliche
Gewichtung vorzunehmen (ständige Rechtsprechung seit BGE 104 V 138 Erw. 2c,
zuletzt BGE 128 V 31 Erw. 1 mit Hinweisen). Daraus kann jedoch nicht
der Umkehrschluss gezogen werden, durch die spezifische Methode werde
generell die Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen
Aufgabenbereich und damit gleichzeitig mit dem Invaliditätsgrad auch die
für den Rentenbeginn massgebende Arbeitsunfähigkeit ermittelt. Vielmehr
gilt es zu beachten, dass sowohl das Gesetz in Art. 29 Abs. 1 lit. b
IVG durch die Bezugnahme auf den "Rentenanspruch nach Artikel 28"
(IVG) als auch die Rechtsprechung (BGE 105 V 159 Erw. 2a, 97 V 231
Erw. 2) durch die Definition der Arbeitsunfähigkeit als "Einbusse an
funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich"
unabhängig von der Invaliditätsbemessungsmethode von einem grundsätzlich
einheitlichen Rentenbeginn ausgehen. Deshalb und im Lichte des Gebotes der
Rechtsgleichheit und einer kohärenten Rechtsprechung ist der Rentenbeginn
bei Nicht- oder Teilerwerbstätigen, soweit eine Übertragung sinnvollerweise
möglich ist, nach analogen Kriterien festzulegen wie bei Erwerbstätigen.

    3.3.3  Der Unterschied zwischen der Erwerbsunfähigkeit und der
Arbeitsunfähigkeit im erwerblichen Bereich liegt nach dem Gesagten (Erw.
3.2 hievor) einerseits in der gegebenen oder fehlenden Relevanz der
finanziellen Auswirkungen der gesundheitlich bedingten Beeinträchtigung.
Diesem Umstand kommt bei Nichterwerbstätigen keine Bedeutung
zu. Andererseits spielt bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit der
Grundsatz der Schadenminderungspflicht eine erhebliche Rolle, während
sich die Arbeitsunfähigkeit auf der Basis der medizinischen Stellungnahmen
unter vergleichsweise geringer Gewichtung dieses Aspektes bestimmt. Auch
bei der Bemessung der Invalidität von im Haushalt tätigen Versicherten
ist die Schadenminderungspflicht von erheblicher Relevanz. Nach der
Rechtsprechung hat die versicherte Person Verhaltensweisen zu entwickeln,
welche die Auswirkungen der Behinderung im hauswirtschaftlichen Bereich
reduzieren und ihr eine möglichst vollständige und unabhängige Erledigung
der Haushaltsarbeiten ermöglichen. Der Umstand, dass diese Arbeiten nur
mühsam und mit höherem Zeitaufwand bewältigt werden können, begründet
nicht ohne weiteres eine Invalidität. Zudem wird eine Unterstützung
durch Familienangehörige vorausgesetzt, welche weiter geht als im
Gesundheitsfall (ZAK 1984 S. 139 f. Erw. 5; nicht veröffentlichtes Urteil
C. vom 8. November 1993, I 407/92; Urteile S. vom 28. Februar 2003, I
685/02, Erw. 3.2, und S. vom 4. September 2001, I 175/01, Erw. 5b). Mit
Blick auf die bezüglich des Rentenbeginns anzustrebende Gleichbehandlung
von erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Versicherten rechtfertigt
es sich nicht, diese Gesichtspunkte auch in die Bestimmung des Begriffs
der Arbeitsunfähigkeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG einfliessen zu
lassen. Deshalb kann für die Beurteilung der Einbusse an funktionellem
Leistungsvermögen im bisherigen Aufgabenbereich nicht von den Ergebnissen
der Haushaltsabklärung ausgegangen werden. Diese Einbusse ist stattdessen
- analog zur Arbeitsunfähigkeit bei Erwerbstätigen - auf der Basis
medizinischer Stellungnahmen zu beurteilen. Daraus sollte hervorgehen,
ab wann und inwieweit die versicherte Person in ihrer Arbeitsfähigkeit
(definiert als funktionelles Leistungsvermögen) im Haushaltsbereich
eingeschränkt war. Diese Lösung entspricht auch der Verwaltungspraxis
gemäss Randziffer 2025 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über
Invalidität und Hilflosigkeit (KSIH).

    3.4  Wäre die versicherte Person ohne Gesundheitsschaden teilweise
erwerbstätig und daneben im Haushalt beschäftigt, gelangt die gemischte
Methode nach Art. 27bis IVV zur Anwendung. Danach ist die Invalidität
unter Einbezug sowohl der Teilerwerbstätigkeit als auch des Haushalts- oder
sonstigen Aufgabenbereichs festzusetzen. Der für den erwerblichen Bereich
resultierende Invaliditätsgrad ist dabei mit demjenigen Prozentsatz zu
multiplizieren, welcher der an einem Vollpensum gemessenen teilweisen
Erwerbstätigkeit entspricht, die spezifische Arbeitsunfähigkeit im
Aufgabenbereich mit der verbleibenden Differenz zu 100 % (vgl. BGE 125
V 149 f. Erw. 2b mit Hinweisen). Die für den Rentenbeginn massgebende
Arbeitsunfähigkeit ist - wiederum entsprechend der Bezugnahme in Art. 29
Abs. 1 lit. b IVG auf den "Rentenanspruch nach Artikel 28", welcher auch
die im Rahmen der gemischten Methode ermittelte Invalidität erfasst - in
analoger Weise festzulegen. Dies bedeutet, dass für den erwerblichen Anteil
die Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Beruf und für den Anteil der Tätigkeit
im Aufgabenbereich die diesbezügliche Arbeitsunfähigkeit zu ermitteln
ist, wobei die medizinischen Stellungnahmen als Grundlage dienen. Die
resultierenden Werte sind entsprechend der Invaliditätsbemessung nach
der spezifischen Methode mit dem auf den jeweiligen Bereich entfallenden
Prozentsatz zu gewichten und anschliessend zu addieren. Dadurch ergibt
sich die für die Bestimmung des Rentenbeginns gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b
IVG massgebende Arbeitsunfähigkeit.